L 13 SB 125/02

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 45 SB 2487/01
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 125/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 27. Mai 2002 wird zurückgewiesen. Die Klage gegen den Bescheid vom 3. Mai 2004 wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin streitet um die Anerkennung als schwerbehinderter Mensch im Sinne der §§ 2, 69 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX).

Bei der 1947 geborenen Klägerin war durch Bescheid des Beklagten vom 7. Oktober 1996 ein Grad der Behinderung (GdB) von 20 wegen folgender Behinderungen anerkannt, deren Einzel-GdB sich aus den Klammerzusätzen ergeben: a) Bluthochdruck (10) Rezidivierendes Hals- und Lendenwirbelsäulensyndrom (10)Schulter-Arm-Syndrom rechts (10)Schilddrüsenleiden, Fettstoffwechselstörung (10). Auf ihren im Oktober 2000 gestellten Neufeststellungsantrag zog der Beklagte den Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik RW vom 26. September 2000 bei und stellte nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme des Allgemeinmediziners B vom 27. November 2000 mit Bescheid vom 30. Januar 2001 fest, dass eine Verschlimmerung des bei der Klägerin bestehenden Leidenszustandes nicht eingetreten sei.

Auf den hiergegen gerichteten Widerspruch der Klägerin holte der Beklagte einen Befundbericht des Orthopäden W vom 26. Mai 2001 ein, der u. a. eine freie Beweglichkeit der oberen Extremitäten und altersentsprechende Bewegungsausmaße der Wirbelsäule beschrieb. Im Vordergrund stünden subjektiv therapieresistente Schmerzen in beiden Ellenbogengelenken. Der Chirurg Dr. W schlug in seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 1. August 2001 vor, die Behinderung c) um "anhaltende Beschwerden im Bereich beider Ellenbogengelenke ohne Funktionsbehinderung" zu ergänzen und wegen der psychischen Überlagerung mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Außerdem regte er an, den Gesamt-GdB auf 30 zu erhöhen, weil sich die zahlreichen anerkannten Behinderungen, die für sich allein geringgradig seien, summierten. Mit Widerspruchsbescheid vom 20. August 2001 folgte der Beklagte den Vorschlägen des Dr. W.

Die auf die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft gerichtete, von dem damaligen Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht begründete Klage hat das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid vom 27. Mai 2002 abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide seien rechtmäßig, der festgestellte Gesamt-GdB von 30 erscheine als absolutes Höchstmaß, weil sich nach den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) 1996 leichte Behinderungen mit einem GdB von 10 in der Regel nicht erhöhend auf die Gesamt-GdB-Bildung auswirkten. Der behandelnde Orthopäde W habe in seinem Befundbericht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass keinerlei funktionelle Gelenk- oder Wirbelsäuleneinschränkungen vorhanden seien.

Gegen den am 13. November 2002 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 13. Dezember 2002 eingegangene Berufung, mit der die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt und beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 27. Mai 2002 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 30. Januar 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. August 2001 sowie des Bescheides vom 3. Mai 2004 zu verurteilen, sie als schwerbehinderten Menschen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 anzuerkennen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen und die Klage gegen den Bescheid vom 3. Mai 2004 abzuweisen.

Der Senat hat Befundberichte der Internistinnen Dres. F/H vom 22. Oktober 2003, der Neurologin und Psychiaterin S vom 27. Oktober 2003 und des Orthopäden Dr. Vvom 16. Oktober 2003 sowie dessen ergänzende Stellungnahme vom 11. März 2004 eingeholt und einen Entlassungsbericht des A-V-Klinikums vom 27. Oktober 2003 beigezogen. Außerdem hat er u. a. die in dem um eine Rente wegen Erwerbsminderung geführten Rechtsstreit (S 20 RJ 1907/01) erstellten Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin sowie das neurologisch-psychiatrische Gutachten des Dr. T vom 16. Juni 2002 beigezogen und dem Beklagten zur Auswertung überlassen.

Der Beklagte hat hierzu Stellungnahmen des Internisten Dr. D vom 3. Dezember 2003, des Chirurgen Dr. B vom 9. Dezember 2003 und 20. April 2004 sowie des Neurologen und Psychiaters Dr. D vom 7. Januar 2004 eingeholt und mit Bescheid vom 3. Mai 2004 den GdB unter Anerkennung folgender Behinderungen ab April 2001 auf 40 erhöht: a) Somatisierungsstörung und depressiv gefärbtes psychovegetatives Erschöpfungssyndrom, Restless legs-Syndrom (30) Bluthochdruck (10)Rezidivierendes Hals- und Lendenwirbelsäulensyndrom (10)Schulter-Arm-Syndrom rechts (10)Schilddrüsenleiden, Fettstoffwechselstörung (10).Ab Juni 2003 hat es die Behinderung d) um "operativ versorgtes Impingementsyndrom 06/2003, Funktionsbehinderung links" ergänzt und intern mit einem GdB von 20 bewertet.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Außerdem wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die vorlagen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingereichte Berufung ist zulässig, sie ist jedoch nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide sind in der Gestalt, die sie durch den gemäß §§ 96, 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum Gegenstand des Verfahrens gewordenen Bescheid vom 3. Mai 2004 erhalten haben, rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Die Klägerin kann aus den seit dem 1. Juli 2001 geltenden § 2 Abs. 2 SGB IX keinen Anspruch auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft herleiten, weil ihre Behinderungen noch nicht das hierfür erforderliche Maß erreichen. Voraussetzung für das Vorliegen einer Schwerbehinderung ist nach dieser Vorschrift u. a., dass ein GdB von wenigstens 50 vorliegt. Nach §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sätze 3, 4 SGB IX sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Gesundheitsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz und der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziale Sicherung herausgegebenen AHP Ausgabe 2004 (Vorläufer: Ausgabe 1996) zu bewerten, die als antizipierte Sachverständigengutachten mit normähnlicher Qualität gelten.

Nach den gesamten im Verfahren eingeholten und aus dem Rentenverfahren beigezogenen medizinischen Unterlagen bestehen bei der Klägerin die im Bescheid vom 3. Mai 2004 anerkannten Behinderungen: a) Somatisierungsstörung und depressiv gefärbtes psychovegetatives Erschöpfungssyndrom, Restless legs-Syndrom Bluthochdruckrezidivierendes Halswirbelsäulen- und Lendenwirbelsäulen-SyndromSchulter-Arm-Syndrom rechts, operativ versorgtes Impingementsyndrom 06/2003, Funktionsbehinderung linksSchilddrüsenleiden, Festtstoffwechselstörung. Das seelische Leiden ist erstmals durch die im Berufungsverfahren eingeholten Unterlagen, insbesondere das im Rentenrechtsstreit eingeholte psychiatrisch-neurologische Gutachten des Dr. T vom 16. Juni 2002 in seiner Dimension erfasst und bewertet worden, der u. a. eine Somatisierungsstörung diagnostizierte, die sich aus einer mit dem Tod der Mutter einhergehenden Belastungsverfassung ergeben habe und die psychologische Schmerzverarbeitung erschwere. Diese Einschätzung wird auch durch den Entlassungsbericht der Zentralklinik E von B vom 4. Juni 2002 bestätigt, in dem die Beschwerden der Klägerin ebenfalls vor dem Hintergrund nicht verarbeiteter Enttäuschungen im Zusammenhang mit der engagierten Pflege der Mutter und eines aktuell bestehenden Ambivalenzkonflikts in der Ehe als Ausdruck einer unterschwellig depressiven Störung gesehen werden. Die Neurologin und Psychiaterin S, bei der die Klägerin seit April 2001 in Behandlung ist, hat in ihrem Befundbericht vom 27. Oktober 2003 depressive Störung, psychovegetatives Erschöpfungssyndrom und Restless legs-Syndrom als Diagnosen genannt. Vor dem Hintergrund der bereits von Dr. W in seiner im Widerspruchsverfahren abgegebenen Stellungnahme vom 1. August 2001 erkannten psychischen Überlagerung der orthopädischen Beschwerden erscheint daher die von Dr. D (Stellungnahme vom 7. Januar 2004) vorgeschlagene GdB-Bewertung mit 30 im unteren Bereich des für stärker behindernde Störungen vorgesehenen Bewertungsrahmens von 30 bis 40 nach Nr. 26.3, S. 48 AHP 2004 (früher S. 60 AHP 1996) in jeder Hinsicht ausreichend.

Das Bluthochdruckleiden der Klägerin ist in den vorliegenden Befunden als medikamentös zufriedenstellend eingestellt (Befundbericht Dres. F/H vom 22. Oktober 2003) bzw. gut kompensiert (Entlassungsbericht der Zentralklinik E von B vom 4. Juni 2002) beschrieben worden. Auch die Ergometerleistung mit mindestens 100 Watt zeigt keine wesentliche Leistungsbeeinträchtigung im Sinne der Nr. 26.9, S. 71 AHP 2004 (früher S. 86 f AHP 1996), so dass hier nach Nr. 26.9, S. 75 AHP 2004 (früher S. 92 AHP 1996) lediglich von einer leichten Form des Bluthochdrucks auszugehen ist, die mit einem GdB von 10 an der oberen Grenze des Bewertungsrahmens eingestuft ist.

Für Wirbelsäulenleiden ist in Nr. 26.18, S. 116 AHP 2004 (früher S. 139 f. AHP 1996) bei geringen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt, wie Verformung, rezidivierenden oder anhaltenden Bewegungseinschränkungen oder Instabilität geringen Grades, seltenen und kurzdauernd auftretenden leichten Wirbelsäulensyndromen, ein GdB von 10 vorgesehen und für solche mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt, etwa Verformung, häufig rezidivierenden oder anhaltenden Bewegungseinschränkungen oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierenden und Tage andauernden Wirbelsäulensyndromen, ein GdB von 20. Der Orthopäde W hat in seinen Befundberichten vom 14. März 2000 und 26. Mai 2001 altersentsprechende degenerative Veränderungen der Hals- und Lendenwirbelsäule ohne funktionelle Ausfälle bei altersentsprechendem Bewegungsausmaß beschrieben. Diese Feststellungen stimmen mit den von der Rehabilitationsklinik RW erhobenen und den von Dr. V mitgeteilten Wirbelsäulenfunktionsbefunden überein, die u. a. einen Finger-Boden-Abstand von 20 cm angegeben haben sowie eine in alle Richtungen freie Beweglichkeit der Halswirbelsäule. Die Schmerzwahrnehmung der Klägerin hat in den Funktionsbefunden der Wirbelsäule kein Korrelat und ist auf die seelische Störung, die mit einer erschwerten Schmerzverarbeitung verbunden ist, zurückzuführen. Sie wirkt sich demzufolge nicht zusätzlich auf die Bewertung der orthopädischen Leiden aus.

Die Bewegungseinschränkungen beider Schultergelenke, die ein Anheben des Armes nur bis 120° erlauben (ergänzende Stellungnahme Dr. V vom 11. März 2004), sind nach Nr. 26.18, S. 119 AHP 2004 (früher S. 143 f. AHP 1996) mit einem GdB von 20 ausreichend bewertet. Die Bewertung ergibt sich daraus, dass zum einen beide Schultergelenke betroffen sind und zum anderen auch die Drehbeweglichkeit leicht eingeschränkt ist. Die zuvor unter c) anerkannten anhaltenden Beschwerden im Bereich beider Ellenbogen ohne Funktionsbehinderung waren bei der Behinderungsbezeichnung nicht mehr aufzunehmen, weil diese - nicht mit funktionellen Auswirkungen einhergehenden - Beschwerden wegen der psychischen Überlagerung einbezogen worden waren, die nunmehr unter a) als eigenständige Behinderung anerkannt ist.

Auch das Schilddrüsenleiden und die Fettstoffwechselstörung sind mit einem GdB von 10 angemessen bewertet (vgl. Nr. 26.15, S. 99 f. AHP 2004, früher S. 119 ff AHP 1996). Weitere Behinderungen sind weder nach den vorliegenden Befunden noch nach dem Vortrag der Klägerin erkennbar.

Die Bildung eines Gesamt-GdB von 40 unterliegt keinen rechtlichen Bedenken. Nach § 69 Abs. 3 SGB IX ist bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei sich nach Nr. 19, S. 24 AHP 2004 (früher S. 33 AHP 1996) die Anwendung jeglicher Rechenmethode verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen, ob und wieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist gemäß Nr. 19, S. 25 (früher S. 34 AHP 1996) zu berücksichtigen, dass leichte Gesundheitsstörungen, die lediglich einen GdB von 10 bedingen, in der Regel nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen. Das mit einem GdB von 30 bewertete seelische Leiden verstärkt die orthopädischen Behinderungen, so dass im Hinblick hierauf der Gesamt-GdB um einen Zehnergrad auf 40 zu erhöhen ist. Die übrigen Behinderungen, die lediglich mit einem GdB von 10 bewertet wurden, wirken sich demgegenüber nicht GdB-erhöhend aus.

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 193 SGG und ist am Ausgang des Rechtsstreits orientiert. Eine Beteiligung des Beklagten an den Kosten der Klägerin kommt nicht in Betracht, denn die Klägerin hat keinerlei Angaben zu einer seelischen Erkrankung gemacht oder etwa auf das im Rentenrechtsstreit eingeholte psychiatrisch-neurologische Gutachten oder die stationäre Behandlung in der Psychosomatischen Orthopädie der Zentralklinik E von B hingewiesen.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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