L 10 AL 48/03

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 77 AL 3346/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 10 AL 48/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 9. Oktober 2001 bis 13. Januar 2002, insbesondere darüber, ob die Anwartschaftszeit durch sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen in Frankreich erfüllt ist.

Die Klägerin war bis Ende Februar 1999 sozialversicherungspflichtig im V Klinikum in Berlin beschäftigt. Anschließend begab sie sich nach Frankreich und war dort von März 1999 bis Ende September 2001 bei verschiedenen Arbeitgebern sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Im Durchschnitt verdiente sie etwa 1.500,- Euro.

Nach Beendigung der letzten Beschäftigung reiste sie in die Bundesrepublik Deutschland ein, meldete sich mit Wirkung vom 9. Oktober 2001 arbeitslos und beantragte Leistungen. Mit Bescheid vom 10. Oktober 2001 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil die Anwartschaftszeit nicht erfüllt sei. Die Klägerin habe innerhalb der Rahmenfrist von drei Jahren vor dem 9. Oktober 2001 nicht mindestens 12 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden.

Im Widerspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, ihre in Frankreich zurückgelegten Beschäftigungszeiten müssten von der Beklagten berücksichtigt werden. Von der französischen Arbeitsverwaltung könne sie Leistungen nicht erhalten, da sie in Berlin wohne und daher dem französischen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehe. Nach Anfrage beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung wurde ihr von dort mit Schreiben vom 22. Januar 2002 bestätigt, dass es wenig aussichtsreich sei, auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung für die Zeit nach der Rückkehr nach Deutschland zu bestehen. Der arbeitsmarktpolitische Grund für die insoweit restriktiven Regelungen der VO (EWG) Nr. 1408/71 sei darin zu sehen, dass der Bezug von Leistungen bei Arbeitslosigkeit besondere Anstrengungen des Arbeitssuchenden voraussetze und der Gemeinschaftsgesetzgeber deshalb jedem Mitgliedsstaat zunächst das Recht habe einräumen wollen, sich selbst um die berufliche Wiedereingliederung zu bemühen, bevor der Arbeitslose den Versuch unternehme, auf dem Arbeitsmarkt eines anderen Mitgliedsstaates eine Arbeit zu finden. Da die Klägerin aus eigenem Bemühen ab dem 14. Januar 2002 wieder eine Arbeitsstelle gefunden habe, räume die VO (EWG) Nr. 1408/71 ihr bei erneuter Arbeitslosigkeit ein Recht auf Berücksichtigung der französischen Vorversicherungszeit ein, falls die deutschen Versicherungszeiten für einen Anspruchserwerb nicht ausreichten. Dem Widerspruch blieb mit zurückweisendem Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 2002 der Erfolg versagt.

Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht mit Urteil vom 14. Juli 2003 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, ein Anspruch bestehe mangels Erfüllung der Anwartschaftszeit nicht. Gemäß § 117 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch/Drittes Buch (SGB III) bestehe ein Anspruch auf Gewährung von Arbeitslosengeld nur dann, wenn die Anwartschaftszeit erfüllt sei. Die Anwartschaftszeit erfülle, wer in der Rahmenfrist mindestens 12 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden habe (§ 123 Satz 1 Nr. 1 SGB III). Die Rahmenfrist betrage drei Jahre und beginne mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld (§ 124 Abs. 1 SGB III). Maßgeblich sei somit der Zeitraum vor der Arbeitslosmeldung am 9. Oktober 2001. Da deutsche Beschäftigungszeiten in dieser Rahmenfrist nicht in ausreichendem Umfang vorlägen und die französischen Zeiten nicht berücksichtigt werden könnten, bestehe kein Anspruch. Gemäß Artikel 67 Abs. 1 der VO (EWG) Nr. 1408/71 berücksichtige der zuständige Träger eines Mitgliedsstaates die Versicherungs- und Beschäftigungszeiten, die als Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedsstaates zurückgelegt worden seien, als handele es sich um Versicherungszeiten, die nach den eigenen Rechtsvorschriften zurückgelegt worden seien. Diese Zusammenrechnung der Versicherungs- und Beschäftigungszeiten für die Gewährung von Arbeitslosengeld sei nach Abs. 3 der zitierten Vorschrift jedoch davon abhängig, dass die betreffende Person unmittelbar zuvor Versicherungszeiten nach den Rechtsvorschriften zurückgelegt habe, nach denen die Leistungen beantragt worden seien. Die Klägerin habe jedoch unmittelbar vor Antragstellung und Arbeitslosmeldung bei der Beklagten in Deutschland keine Versicherungszeiten zurückgelegt. Auf die zuvor in Frankreich zurückgelegten Beschäftigungszeiten könne nicht abgestellt werden. Nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut komme es darauf an, dass für die Klägerin vor Antragstellung bereits das deutsche Sozialrecht gegolten habe. Der Fall der Klägerin werde auch nicht von der Regelung des Artikel 71 Abs. 1 lit. a (ii) oder lit. b (ii) der VO (EWG) Nr. 1408/71 erfasst. Nach ihrem eigenen zutreffenden Vortrag sei sie keine Grenzgängerin im Sinne der 1. Alternative gewesen. Von der 2. Alternative der Vorschrift werde sie deshalb nicht erfasst, weil sie bei Ausübung der Beschäftigung in Frankreich keinen "gelebten Wohnsitz" mehr in der Bundesrepublik gehabt habe. Es bestehe auch kein Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung von Arbeitslosengeld für höchstens drei Monate gemäß Artikel 69 Abs. 1 VO (EWG) Nr. 1408/71. Die Vorschrift habe zur Voraussetzung, dass der Arbeitslose vor seiner Abreise während mindestens vier Wochen nach Beginn der Arbeitslosigkeit bei der Arbeitsverwaltung des zuständigen Staates - hier Frankreich - als Arbeitssuchender gemeldet gewesen sei und dieser zur Verfügung gestanden habe. Ausnahmsweise könne der zuständige Träger oder die zuständige Arbeitsverwaltung die Abreise vor Ablauf der Frist genehmigen. Die Klägerin habe sich vor ihrer Ausreise in die Bundesrepublik in Frankreich weder arbeitslos gemeldet noch liege eine Genehmigung der französischen Behörde für die Ausreise vor Ablauf der Frist vor.

Gegen das ihr am 6. August 2003 zugestellte Urteil wendet sich die Klägerin mit der Berufung vom 1. September 2003. Sie macht geltend, sie sei fest davon ausgegangen, dass die französischen Beiträge nicht "unter den Tisch fielen". Artikel 67 Abs. 3 VO (EWG) Nr. 1408/71 sei so auszulegen, dass mit dem Terminus "Rechtsvorschriften" nicht zwingend nationale Vorschriften des Landes gemeint seien, in dem Leistungen beantragt worden seien. Ausreichend müsse die Zurücklegung von Versicherungszeiten sein, die überhaupt Grundlage eines Versicherungsfalles sein könnten. Elementares Ziel der VO (EWG) Nr. 1408/71 sei die Sicherung des Leistungsexports. Diesem Rechtsgedanken widerspreche das Urteil des Sozialgerichts.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. Juli 2003 und den Bescheid der Beklagten vom 10. Oktober 2001 in der Fassung des Widerspruchs- bescheides vom 13. Juni 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Arbeitslosengeld vom 9. Oktober 2001 bis 13. Januar 2002 zu gewäh- ren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf den Inhalt ihrer Bescheide und das ihrer Auffassung nach zutreffende Urteil des Sozialgerichts.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Sachdarstellung und der Rechtsausführungen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Diese haben bei der Entscheidung des Senats vorgelegen.

Der Senat konnte die Berufung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zurückweisen, da er sie einstimmig für unbegründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist. Die Beteiligten wurden hierzu mit Schreiben vom 19. April 2004 angehört.

Die zulässige Berufung ist unbegründet, da die Klägerin mangels Erfüllung der Anwartschaftszeit keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hat (§§ 117 Abs. 1 Nr. 3, 123 Satz 1 Nr. 1, 124 Abs. 1 SGB III in Verbindung mit Artikel 67 der VO (EWG) Nr. 1408/71). Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat Bezug auf das unter Heranziehung von Literatur und Rechtsprechung ausführlich begründete Urteil des Sozialgerichts (§ 153 Abs. 2 SGG).

Zum Berufungsvorbringen ist ergänzend auszuführen, dass es entgegen der Behauptung der Klägerin nicht elementares Ziel der Artikel 67 ff. VO (EWG) Nr. 1408/71 ist, eine Leistungsgewährung in jedem Fall sicherzustellen. Dies ist schon dem eindeutigen Wortlaut des Artikel 67 Abs. 3 VO (EWG) Nr. 1408/71 zu entnehmen, der die Zurücklegung von berücksichtigungsfähigen Zeiten nach den nationalen Vorschriften des Mitgliedsstaates, der in Anspruch genommen werden soll, vorschreibt, bevor Leistungen aufgrund der in einem anderen Mitgliedsstaat zurückgelegten Beschäftigung verlangt werden können. Für die von der Klägerin bevorzugte Auslegung der Vorschrift gibt ihr Wortlaut nichts her. Denn dort ist eindeutig von den Rechtsvorschriften die Rede, nach denen die Leistungen beantragt werden. Dies sind im vorliegenden Fall ohne Zweifel die deutschen Rechtsvorschriften, denn die Klägerin begehrt Leistungen nach eben diesen deutschen Vorschriften. Zu einer Leistungsgewährung durch die Beklagte in beschränktem Umfang hätte es in Deutschland nur kommen können, wenn die Klägerin zunächst in Frankreich Leistungen der dortigen Arbeitslosenversicherung bezogen hätte (vgl. Artikel 69 VO (EWG) Nr. 1408/71).

Auch der Sinn und Zweck der einschlägigen Vorschriften spricht nicht für die Rechtsauffassung der Klägerin. Bereits im Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 22. Januar 2002 wurde der Klägerin zutreffend erläutert, dass es nach Eintritt des versicherten Risikos Arbeitslosigkeit zunächst das Recht des Mitgliedsstaates, in dem die Arbeitslosigkeit eingetreten ist, sein sollte, für eine Wiedereingliederung des Arbeitslosen zu sorgen. Dieses Recht lässt sich zwanglos auch als Pflicht des Mitgliedsstaates, der zuvor die Beiträge aus der versicherten Beschäftigung eingezogen hat, interpretieren. Tritt Arbeitslosigkeit in einem Mitgliedsstaat ein, soll zunächst dieser Mitgliedsstaat für die Leistungserbringung und Wiedereingliederung des Arbeitslosen zuständig sein. Ein weiterer Mitgliedsstaat soll aufgrund der in einem anderen Mitgliedsstaat zurückgelegten Beschäftigung erst in Anspruch genommen werden können, wenn der Arbeitslose vor der Inanspruchnahme der dortigen Leistungen auch dort Beschäftigungszeiten zurückgelegt hat. Diese für alle Mitgliedsstaaten geltende Regelung dient dem Schutz der nationalen Sozialversicherungssysteme vor Inanspruchnahme aufgrund von Beschäftigungen, die in dem jeweiligen nationalen System gerade nicht beitragspflichtig waren. Die Klägerin hat vor diesem Hintergrund nicht dargelegt, aus welchen Gründen diese Zielsetzung der geltenden Regelungen europäischen oder nationalen Vorschriften widersprechen sollte.

Unzutreffend ist auch die Behauptung der Klägerin, ihre Beiträge in Frankreich seien durch diese Rechtsauslegung "unter den Tisch gefallen". Zum einen ist sie darauf hinzuweisen, dass sie in Frankreich hätte Leistungen in Anspruch nehmen können. Hätte sie dies getan, hätte sie auch in Deutschland - zumindest in bestimmtem Umfang - Leistungen in Anspruch nehmen können. Zum anderen dienen die französischen Beiträge der Erfüllung einer Anwartschaftszeit nach Ausübung einer weiteren Beschäftigung in Deutschland. So hatte die Klägerin bei erneuter Arbeitslosmeldung zum 3. Juni 2002 nach Aufnahme der Beschäftigung ab dem 14. Januar 2002 nur aufgrund der französischen Beitragszeiten Anspruch auf Leistungen.

Der europäische oder nationale Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, der Klägerin jedes Risiko für eine von ihr zu vertretende Entscheidung abzunehmen.

Letztlich kann die Klägerin ihren Anspruch auch nicht auf einen Beratungsfehler stützen, da sie nach eigenem Vortrag vor Antragstellung weder beim französischen noch beim deutschen Träger der Arbeitsverwaltung nachgefragt hat, unter welchen Voraussetzungen sie deutsche Leistungen aufgrund der französischen Beschäftigungszeiten beziehen könne. Sie ist vielmehr - auf eigenes Risiko - davon ausgegangen, dass die französischen Zeiten schon Berücksichtigung finden würden. Unterstellte der Senat den Vortrag der Klägerin im Schriftsatz vom 14.Juni 2003, Seite 2, 1. Absatz als richtig, so entfiele der Anspruch auf Arbeitslosengeld schon mangels Eigenbemühungen, zu denen die Klägerin nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 5 SGB III verpflichtet gewesen wäre. Hätte die Klägerin tatsächlich - nach eigenem Vortrag ohne weiteres erfolgreiche -Eigenbemühungen unterlassen wollen, so hätte sie von Anfang an die Absicht gehabt, Leistungen zu Unrecht zu beziehen. Im Übrigen ergibt sich aus dem Widerspruchsvorbringen vom 5. November 2001, dass der Klägerin die einschlägige Norm (Artikel 67 VO (EWG) Nr. 1408/71) bekannt war. Dennoch hat sie nicht "von einem Tag auf den anderen", wie im Schriftsatz vom 14. Juni 2004 behauptet, eine Beschäftigung angetreten. Insoweit fehlt es bereits an einer Kausalität zwischen dem behaupteten Beratungsfehler und der Arbeitslosigkeit. Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs, der einen (kausalen) Beratungsfehler der Beklagten voraussetzen würde, kommt deshalb nicht in Betracht.

Die Behauptung, die Beklagte habe pflichtwidrig und schuldhaft gehandelt, wäre nur im Rahmen eines vor dem Landgericht zu verhandelnden Amtshaftungsanspruchs von Bedeutung.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung, da eine klärungsbedürftige Rechtsfrage nicht ersichtlich ist.
Rechtskraft
Aus
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