L 4 AL 44/03

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 52 AL 4993/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 4 AL 44/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 18. Juni 2003 wird zurückgewiesen. Außergerichtlichen Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Wiederbewilligung von Arbeitslosengeld über eine Restdauer von 137 Tagen für die Zeit ab dem 10. September 2002.

Der am 29. September 1965 geborenen Klägerin wurde ursprünglich Arbeitslosengeld für die Zeit ab 15. Mai 1998 mit einer Anspruchsdauer von 180 Tagen bewilligt. Ab dem 18. Mai 1998 bezog sie vorübergehend Unterhaltsgeld, vom 22. August 1998 bis zum 30. September 1998 erneut Arbeitslosengeld. Mit Schreiben vom 22. September 1998 teilte die Klägerin der Beklagten mit, ab dem 1. Oktober 1998 hauptberuflich als selbständige Rentenberaterin auf dem Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung tätig zu werden. Mit Bescheid vom 28. September 1998 hob die Beklagte daraufhin die Bewilligung von Arbeitslosengeld mit Wirkung vom 1. Oktober 1998 auf. Die Restanspruchsdauer betrug 137 Tage.

Am 28. November 2000 brachte die Klägerin Zwillinge zur Welt; anschließend bezog sie Leistungen nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz. Am 10. September 2002 meldete sie sich erneut arbeitslos und begehrte die Bewilligung von Arbeitslosengeld. Mit Bescheid vom 23. September 2002 lehnte die Beklagte dies ab, weil die Anwartschaftszeit nicht erfüllt sei; die Klägerin habe innerhalb der Rahmenfrist von drei Jahren vor dem 10. September 2002 nicht mindestens 12 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden. Den Widerspruch der Klägerin, mit dem diese eine falsche Berechnung der Rahmenfrist geltend machte, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24. Oktober 2002 zurück. Zur Begründung wurde nunmehr angeführt, der Anspruch auf Arbeitslosengeld könne nicht mehr geltend gemacht werden, weil nach seiner Entstehung (15. Mai 1998) vier Jahre verstrichen seien. Diese sich aus § 147 Abs. 2 SGB III ergebende Ausschlussfrist laufe kalendermäßig ab und könne – anders als etwa die Rahmenfrist – nicht verlängert werden. Einen neuen Anspruch auf Arbeitslosengeld habe die Klägerin nicht erworben, da sie in der auf fünf Jahre zu verlängernden Rahmenfrist keine versicherungspflichtigen Zeiten von wenigstens 12 Monaten nachgewiesen habe. Ein Anspruch auf Arbeitslosenhilfe bestehe nicht, weil in der dreijährigen Vorfrist kein Arbeitslosengeld bezogen worden sei.

Hiergegen hat die Klägerin am 29. Oktober 2002 Klage erhoben. Die Rahmenfrist sei von der Beklagten im Hinblick auf ihre freiberufliche Tätigkeit und die Erziehung der Zwillinge nicht zutreffend berechnet bzw. verlängert worden. Die Klägerin rügt außerdem einen Beratungsfehler der Beklagten, die sie vorab über die Ausschlussfrist aus § 147 Abs. 2 SGB III hätte aufklären müssen. Insoweit bestehe ein Herstellungsanspruch Die Vorschrift sei zudem verfassungsrechtlich bedenklich, weil sie Frauen nach einer längeren Familienpause ins soziale Abseits schicke.

Mit Gerichtsbescheid vom 18. Juni 2003, der Klägerin zugestellt am 22. Juli 2003, hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen. Zur Begründung, wegen deren Einzelheiten auf die Gerichtsakte Bezug genommen wird, hat es im wesentlichen ausgeführt: Ein Anspruch auf Wiederbewilligung von Arbeitslosengeld bestehe nicht; die Klägerin können den Anspruch nicht mehr geltend machen, da die Vierjahresfrist aus § 147 Abs. 2 SGB III schon vor der erneuten Arbeitslosmeldung abgelaufen sei. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch komme insoweit nicht in Betracht, denn die Beklagte habe keine Auskunfts- oder Beratungspflicht verletzt. Weil die Klägerin sich wegen Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit zum 1. Oktober 1998 aus dem Leistungsbezug abgemeldet habe, habe kein konkreter Anlass für die Beklagte bestanden, die Klägerin spontan und gesondert – über den Inhalt des ausgehändigten Merkblatts für Arbeitslose hinaus – auf die Ausschlussfrist hinzuweisen. Daneben bestehe kein Anspruch auf Bewilligung von Arbeitslosengeld, weil die Anwartschaftszeit nicht erfüllt sei. Die verlängerte Rahmenfrist umfasse den Zeitraum 15. Mai 1998 bis 9. September 2002; Versicherungspflichtzeiten lägen hier nicht vor. Ebenso wenig bestehe ein Anspruch auf Bewilligung von Arbeitslosenhilfe, denn es fehle am Bezug von Arbeitslosengeld in der auf drei Jahre verlängerten Vorfrist.

Mit der am 2. August 2003 eingelegten Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Zur Begründung hat sie im wesentlichen vorgetragen: Die Beklagte habe gegen die ihr obliegende Beratungspflicht verstoßen, indem sie sie nicht auf die Ausschlussfrist aus § 147 Abs. 2 SGB III hingewiesen habe. Mit Aufnahme der freiberuflichen Tätigkeit zum 1. Oktober 1998 hätte insoweit ein konkreter Anlass bestanden. Die Zeit der Erziehung ihrer Zwillinge und ihre Tätigkeit als Rentenberaterin vom 1. Oktober 1998 bis zum 9. September 2002 seien als in der Rahmen- und Vorfrist liegende Versicherungspflichtzeit zu berücksichtigen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 18. Juni 2003 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. September 2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24. Oktober 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 10. September 2002 Arbeitslosengeld zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den mit der Berufung angegriffenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Einen auf die Bewilligung von Arbeitslosengeld ab dem 10. September 2002 gerichteten Antrag der Klägerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat der Senat mit Beschluss vom 9. Dezember 2003 zurückgewiesen.

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Akte zum Eilverfahren L 4 AL 59/03 ER und der Leistungsakte der Beklagten (Kundennummer: 955 A 815 905) Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Entscheidungsfindung war.

Entscheidungsgründe:

Der Senat durfte trotz Ausbleibens der Klägerin in der mündlichen Verhandlung entscheiden, da sie ordnungsgemäß geladen war und die Ladung einen entsprechenden Hinweis enthielt (§ 126 SGG).

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, jedoch unbegründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 18. Juni 2003 beurteilt die Sach- und Rechtslage zutreffend. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Bewilligung von Arbeitslosengeld ab dem 10. September 2002. Die gesetzlichen Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

Zum Anspruch auf Wiederbewilligung im Hinblick auf den am 15. Mai 1998 entstandenen Anspruch auf Arbeitslosengeld hat der erkennende Senat in seinem Beschluss vom 9. Dezember 2003 (L 4 AL 59/03 ER) ausgeführt:

"Nach § 147 Abs. 2 SGB III kann der Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht mehr geltend gemacht werden, wenn – wie im Falle der Antragstellerin – nach seiner Entstehung vier Jahre verstrichen sind. Hierin liegt zwingendes Recht. Das Bundessozialgericht hat nur in dem "eng umgrenzten Sonderfall" eine Abweichung für statthaft und geboten erachtet, in dem die Vierjahresfrist während der Zeit des Beschäftigungsverbots nach § 6 Mutterschutzgesetz abläuft (Urteil vom 21. Oktober 2003, B 7 AL 28/03 R). So liegt der Fall der Antragstellerin jedoch nicht."

In seinem Urteil vom 21. Oktober 2003, dessen Entscheidungsgründe nun vorliegen, hat das Bundessozialgericht zum Hintergrund der vierjährigen Ausschlussfrist unter Bezugnahme auf seine bisherige Rechtsprechung ausgeführt:

"Die mit dem Arbeitsförderungsrecht befassten Senate des BSG haben bislang in ständiger Rechtsprechung zu § 125 Abs. 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG), der bis zum 31. Dezember 1997 geltenden Vorgängervorschrift des § 147 Abs. 2 SGB III, entschieden, dass es sich hierbei um eine Ausschlussfrist handelt, die ohne jede Hemmungs- oder Unterbrechungsmöglichkeit rein kalendermäßig abläuft ( ...). Dabei läuft die Frist des § 147 Abs. 2 SGB III (bzw. § 125 Abs. 2 AFG) auch bei ruhendem Alg-Anspruch (etwa nach § 142 SGB III) weiter, wobei der Senat es abgelehnt hat, einzelne Ruhenstatbestände (wie etwa den Bezug von Mutterschaftsgeld) hinsichtlich des Fristablaufs unterschiedlich zu behandeln ( ...). § 147 Abs. 2 SGB III behandelt jedes tatsächliche und rechtliche Hindernis, den Anspruch auf Alg rechtzeitig geltend zu machen, als gleichwertig. Auch Härten im Einzelfall sind nicht über eine Fristverlängerung ausgleichbar ( ...) Insbesondere der erkennende Senat hat es immer wieder abgelehnt, für den Ablauf der Verfallsfrist des § 125 Abs. 2 AFG Unterschiede zwischen einzelnen schützenswerten Interessen zu machen. Schützenswerte Interessen würden auch sonst auf dem Spiel stehen, ohne dass ihnen das Gesetz Vorrang vor dem Verfall eines erworbenen Alg-Anspruchs durch Fristablauf einräume ( ...). Dementsprechend hat der Senat auch keine Möglichkeit gesehen, den Zeitraum des Erziehungsgeldbezuges einer Klägerin fristverlängernd im Rahmen des § 125 Abs. 2 AFG zu berücksichtigen ( ...). Eine solche Verlängerung würde dem Wesen der Frist des § 125 Abs. 2 AFG als materielle Ausschlussfrist zuwiderlaufen, zu einer nicht unerheblichen Rechtsunsicherheit beitragen und wäre schließlich mit Wortlaut und Regelungszweck des § 125 Abs. 2 AFG nicht zu vereinbaren."

Nach erneuter Sachprüfung hält der Senat an seinem im Beschluss vom 9. Dezember 2003 zu Ausdruck gekommenen Standpunkt fest. Den Ausführungen des Bundessozialgerichts ist nicht hinzuzufügen. Bei Arbeitslosmeldung der Klägerin am 10. September 2002 waren bereits mehr als vier Jahre seit Entstehung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld verstrichen, so dass der Restanspruch nicht mehr geltend gemacht werden kann.

Die Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg auf einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch berufen. Grundsätzlich ist die Beklagte auch von Amts wegen gehalten, Leistungsempfänger bei Vorliegen eines konkreten Anlasses von sich aus "spontan" auf klar zu Tage tretende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, deren Wahrnehmung offensichtlich so zweckmäßig ist, dass sie ein verständiger Versicherter mutmaßlich nutzen würde. Dabei ist die Frage, ob eine Gestaltungsmöglichkeit klar zu Tage liegt, allein nach den objektiven Merkmalen zu beurteilen (BSG, Urteil vom 5. August 1999, B 7 AL 38/98 R, SozR 3-4100 § 110 Nr. 2). Im Falle der Klägerin hatte die Beklagte nie Anlass, gesondert auf die Ausschlussfrist aus § 147 Abs. 2 SGB III hinzuweisen, denn mit ihrer Abmeldung in die Selbständigkeit im September 1998 hatte das die Beteiligten verbindende Sozialrechtsverhältnis gerade sein Ende gefunden, ohne dass Anlass für die Annahme bestand, es werde in naher oder ferner Zukunft wieder aufleben. Es bestanden keine objektiven Gestaltungsmöglichkeiten mehr. Wann die Klägerin in den Leistungsbezug zurückkehren würde, war unabsehbar. Ein gesonderter Hinweis, dass dies anspruchswahrend spätestens vier Jahre nach Entstehung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld der Fall sein müsse, musste sich der Beklagten nicht aufdrängen.

Daneben fehlt es auch an der weiteren Voraussetzung eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs, dass nämlich der erlittene Nachteil (durch die "verspätete" Arbeitslosmeldung) mit verwaltungskonformen Mitteln im Rahmen der gesetzlichen Regelung, also durch eine vom Gesetz vorgesehene zulässige und rechtmäßige Amtshandlung ausgeglichen werden kann. Insoweit entspricht es ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, dass eine fehlende Arbeitslosmeldung wegen ihrer spezifischen Funktion nicht ersetzbar ist (vgl. nur BSG, a.a.O.). Weil es hier aber entscheidend auf den Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung ankam, ist der sozialrechtliche Herstellungsanspruch von vornherein nicht geeignet, dem Begehren der Klägerin zum Erfolg zu verhelfen.

Auch unabhängig von der Frage der Wiederbewilligung hat die Klägerin keinen (neuen) Anspruch auf Bewilligung von Arbeitslosengeld.

Nach § 117 Abs. 1 SGB III hat Anspruch auf Arbeitslosengeld ein Arbeitnehmer, der arbeitslos ist, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und die Anwartschaftszeit erfüllt hat. Ein Anspruch besteht danach nicht, denn die Klägerin hat die Anwartschaftszeit nicht erfüllt.

Die Anwartschaftszeit erfüllt gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III, wer in der Rahmenfrist nach § 124 SGB III mindestens 12 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat. In Anwendung von § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 sowie von § 124 Abs. 3 Satz 2 SGB III verläuft die verlängerte Rahmenfrist im Falle der Klägerin – wie schon das Sozialgericht zutreffend dargelegt hat – vom 15. Mai 1998 bis zum 9. September 2002. Für diesen Zeitraum ist kein Versicherungspflichtverhältnis zu verzeichnen. Das Begehren der Klägerin, auch die Zeit der Kindererziehung und ihrer selbständigen Tätigkeit als Versicherungspflichtverhältnis anzuerkennen, findet keine Grundlage im Gesetz. Der Begriff des Versicherungspflichtverhältnisses ist in § 24 Abs. 1 SGB III legal definiert. Danach stehen Personen in einem Versicherungspflichtverhältnis, die als Beschäftigte oder aus sonstigen Gründen versicherungspflichtig sind. Beurteilungsmaßstab für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung ist § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV. Danach ist Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere als Arbeitnehmer in einem Arbeitsverhältnis. Als Selbständige stand die Klägerin seit dem 1. Oktober 1998 in keinem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis mehr, was keiner weiteren Vertiefung bedarf. Die Zeit der Erziehung ihrer Kinder mag zwar rentenrechtliche Auswirkungen haben, führt aber ebenfalls nicht zur Begründung eines Versicherungspflichtverhältnisses im Sinne der Arbeitslosenversicherung.

Soweit die Klägerin daneben hilfsweise die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe begehrt, ist die Entscheidung des Sozialgerichts ebenfalls zutreffend. Ein Bezug von Arbeitslosengeld in der Vorfrist aus § 192 SGB III, die längstens auf drei Jahre erweitert werden kann, ist nämlich unter keinen Umständen gegeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Berufung liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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