L 2 U 61/02

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 69 U 157/01
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 2 U 61/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte seiner außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Renten wegen der Folgen von Arbeitsunfällen vom 14. Januar 1991 und 1. Dezember 1992.

Der 1968 geborene Kläger erlitt am 14. Januar 1991 einen Arbeitsunfall, als er bei seiner Tätigkeit als Bauklempner von einer Leiter stürzte. Er zog sich eine Radiusfraktur links mit Gelenkbeteiligung ohne Dislokation und eine Schulterprellung links zu. Dem Nachschaubericht der Durchgangsärztin H vom 30. März 1991 zufolge bestand keine Bewegungseinschränkung, die Kraft war voll entfaltet. Die Arbeitsunfähigkeit endete am 5. April 1991.

Am 1. Dezember 1992 erlitt der Kläger einen weiteren Arbeitsunfall, als er auf einer Rüstung ausrutschte und aus cirka 4 Meter Höhe zu Boden stürzte. Hierbei zog er sich eine Verrenkung des linken Sprunggelenks mit einer Kapselbandläsion zu. Es bestand eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 3. Februar 1993.

Nach einem erneuten Sturz von einer Leiter bei Fassadenarbeiten im März 1998 beantragte der Kläger im Februar 1999 beim Arbeitsamt Leistungen zur beruflichen Rehabilitation. In einem arbeitsamtsärztlichen Gutachten vom 27. Oktober 1998 führte die Fachärztin für Arbeitsmedizin Dr. L u.a. aus, als Folge der bisher mehrfach durchgemachten Unfälle bzw. Stürze aus der Höhe habe sich beim Kläger eine Angststörung, insbesondere mit Angstsymptomatik in der Höhe mit zusätzlich reaktiv ausgelösten psychischen Störungen entwickelt. Eine fachärztliche und psychotherapeutische Behandlung sei deshalb anzuraten. Ihr lag ein sportmedizinisch-traumatologisches Gutachten des praktischen Arztes Dr. J vom 20. August 1998 vor, der den Kläger seit dem 11. Januar 1993 behandelte.

Am 24. September 1999 beantragte der Kläger bei der Beklagten eine Rente unter Feststellung der verbliebenen Unfallfolgen.

Die Beklagte zog die bei den C-Kliniken P vorhandene Krankengeschichte des Klägers bei und holte zu beiden Unfällen jeweils ein Gutachten des Chirurgen und Durchgangsarztes Dr. M(vom 11. September 2000) ein. Dieser stellte bei seiner Untersuchung vom 15. Mai 2000 hinsichtlich des Unfalls vom 14. Januar 1991 eine dezente Belastungs- und Funktionseinschränkung des linken Handgelenks bei Zustand nach Radiusfraktur im Januar 1991 und eine geringgradige carporadiale Handgelenksarthrose fest. Die Beschwerden erschienen etwas überzeichnet. Die nachvollziehbare Höhenangst schränke den Einsatz auf Leitern und Gerüsten ein. Die MdE betrage seit 31. März 1991 unter 10 v.H ... Hinsichtlich des Unfalls vom 1. Dezember 1992 stellte er eine geringe Instabilität des linken Sprunggelenks im Bereich des Ligamentum fibulotalare anterior fest. Die MdE betrage ab Februar 1993 bis zum 15. Mai 2000 10 v.H., für die Folgezeit auf Dauer unter 10 v.H ...

Mit Bescheid vom 26. September 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2001 erkannte die Beklagte als Folgen des Arbeitsunfalls vom 14. Januar 1991 endgradige Bewegungseinschränkung des linken Handgelenks, geringgradige Handgelenksarthrose links nach Speichenbruch am körperfernen Ende links an. Ein Rentenanspruch bestehe nicht, weil die Erwerbsfähigkeit nicht in rentenberechtigendem Grade über die 26. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus gemindert sei. In einem weiteren Bescheid vom 26. September 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2001 erkannte die Beklagte als Folge des Arbeitsunfalls vom 1. Dezember 1992 dezente Funktions- und Belastungseinschränkung sowie geringe Instabilität des linken Sprunggelenkes nach Verrenkung des linken Sprunggelenkes mit Teilruptur des Ligamentum fibulotalare anterior und Kapselläsion links an. Ein Rentenanspruch bestehe mangels Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenberechtigendem Grade über die 26. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus nicht.

Mit der gegen beide Bescheide gerichteten Klage vor dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger geltend gemacht, die durch die Arbeitsunfälle hervorgerufenen neurologisch-psychischen Erkrankungen bedingten eine MdE pro Unfall von mehr als 10 v.H ... Er hat ein Privatgutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. W vom 27. Juli 2001 eingereicht, nach dem er unter Angstgefühlen mit Herzklopfen, Schweißausbrüchen leide, sobald ein ungeschützter Blickkontakt zu dem tieferliegenden Boden möglich sei. Die Symptomatik habe sich im Laufe der Zeit verschlimmert, so dass nunmehr schon geringe Höhen von ungefähr einem Meter ausreichen würden, um Angst auslösend zu wirken. Es handele sich um eine posttraumatische Belastungsstörung, die mit einer MdE von 20 v.H. zu bewerten sei.

Der vom Sozialgericht zum Sachverständigen ernannte Neurologe und Psychiater Dr. Ghat in seinem Gutachten vom 11. Dezember 2001 dargelegt, in der Untersuchungssituation habe sich kein Anhalt für (bewusste) Aggravation oder Simulation ergeben. Der psychische Befund weise aus, dass der Kläger weiterhin an unangemessener und intensiver Furcht und Vermeidung spezifischer Situationen leide, diese Situationen meide bzw. dann, wenn er ihnen einmal ausgesetzt sei, mit entweder Lähmung oder Herzrasen, Luftnot, bedrückendem Gefühl etc reagiere. Er empfinde diese Angst als ihn behindernd und einschränkend, sein ganzes Leben sei hierdurch seiner Empfindung und Erfahrung nach gleichsam vorsichtiger geworden. Es ergäben sich keine Hinweise auf zusätzliche psychische Störungen, insbesondere keine ungewollten wiederkehrenden Wiederauflebenserscheinungen der traumatischen Ereignisse von 1991 und 1992 in Träumen oder Gedanken, so dass sich eine posttraumatische Belastungsstörung nicht bestätigen lasse. Wohl aber liege eine Angststörung im Sinne von Höhenangst im Sinne einer spezifischen isolierten Phobie mit diagnostisch unterschwelligen Begleitphänomenen vor. Diese Störung stelle eine ausprägungsmäßig beginnend stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebens- und Gestaltungsfähigkeit dar und bedinge seit dem Unfall vom 1. Dezember 1992, durch den es zu einer Verschlimmerung gekommen sei, eine MdE von 20 v.H ...

Der von der Beklagten gehörte Facharzt für Nervenheilkunde Dr. Dr. W hat in einer Stellungnahme vom 6. Februar 2002 dargelegt, er halte die von Dr. G gestellte Diagnose einer Höhenangst für nachvollziehbar. Diese sei jedoch nicht nachgewiesen. Die Befundlage sei gänzlich unauffällig. Die Diagnose der Höhenphobie stütze sich allein auf Angaben des Klägers, während es einer objektivierenden Betrachtungsweise bedurft hätte. Wenn der Kläger seit 1992 an leistungsbeeinträchtigender Höhenangst gelitten hätte, die mit einer MdE von 20 v.H. zu bewerten sei, wäre er nicht in der Lage gewesen, seine Tätigkeit im Baugewerbe bis 1998 fortzusetzen.

Hiergegen hat Dr. G in einer Stellungnahme vom 7. März 2002 eingewandt, bei Ängsten käme es in erster Linie auf die Beschwerdeangaben des Patienten an. Der Kläger habe ihm gegenüber derart glaubhaft und plausibel solche Beschwerden beschrieben, die eindeutig für das Bestehen einer letztendlich mehr als leicht- und weniger als schwergradig ausgeprägten Höhenphobie sprächen, dass sich kein Zweifel an der schlüssig zu stellenden Diagnose ergebe. Auch habe der Kläger nicht ohne Komplikationen als Bauklempner bis 1998 weiter gearbeitet, vielmehr habe er Beeinträchtigungen aufgewiesen und Vermeidungsstrategien angewendet. Es sei auch gut nachvollziehbar, dass der Kläger eine ärztlich empfohlene Psychotherapie verdrängt habe und dies nicht habe wahrhaben wollen. Dies sei bei einem jungen Mann, der sich von den Gefühlen her als einen eher etwas verschlossenen Menschen erlebe, keinesfalls eine seltene Reaktionsweise.

In einer weiteren Stellungnahme vom 24. April 2002 ist Dr. Dr. Wbei seiner Auffassung verblieben und hat ergänzend darauf verwiesen, dass der Kläger noch viele Jahre nach dem Unfall mitsamt der Höhenphobie seine Tätigkeit als Bauklempner ausgeübt habe und deshalb eine Leistungsbeeinträchtigung nicht erkennbar sei.

Durch Urteil vom 14. Juni 2002 hat das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide geändert und die Beklagte verurteilt, als weitere Folge des Arbeitsunfalls vom 14. Januar 1991 eine "Angststörung in Form einer Höhenangst" anzuerkennen und als weitere Folge des Arbeitsunfalls vom 1. Dezember 1992 eine "Verschlimmerung einer Angststörung in Form einer Höhenangst" anzuerkennen und dem Kläger für die Zeit vom 1. September 1999 bis zum 15. Mai 2000 eine Verletztenteilrente nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die Kammer sehe es als erwiesen an, dass der Kläger an einer Höhenangst leide. Sie vertraue dem persönlichen Eindruck des dem Gericht als zuverlässig und sorgfältig arbeitend bekannten Sachverständigen aufgrund der Untersuchung des Klägers. Dessen Einschätzung werde nicht nur von dem behandelnden Arzt sondern auch durch das arbeitsamtsärztliche Gutachten und die Angaben im Gutachten von Dr. M bestätigt, der eine "nachvollziehbare Höhenangst" angegeben habe. Es bestehe auch kein Zweifel an dem ursächlichen Zusammenhang zwischen der Höhenangst des Klägers und dem Unfall vom 14. Januar 1991. Die Folgen des Arbeitsunfalls vom 14. Januar 1991 bedingten jedoch keine MdE von 10 v.H., wie es für einen Stützrententatbestand erforderlich sei. Auf chirurgischem Fachgebiet habe sich keine Funktionseinschränkung ergeben. Hinsichtlich der durch die Höhenangst verursachten Höhe der MdE werde dem Gutachten von Dr. G nicht gefolgt. Es sei nicht schlüssig, dass bereits eine "beginnend stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit" vorliege. Es handele sich um eine spezifische isolierte Phobie, die sich nur in bestimmten Situationen auswirken könne. Eine darüber hinausgehende Beschwerdesymptomatik, etwa in Form von eigenständigen depressiven Störungen, sei von dem Gutachter ausgeschlossen worden. Bezogen auf die gegenüber der Untersuchung vom 3. Dezember 2001 noch geringer ausgeprägten Befunde werde die MdE nicht mit 10 v.H., sondern mit unter 10 v.H. bewertet. Hinsichtlich des Unfalls vom 15. Dezember 1992 sei eine "Verschlimmerung einer Angststörung in Form einer Höhenangst" anzuerkennen. Neben der nach übereinstimmender Auffassung der Gutachter verstärkten psychischen Unfallfolge, die mit einer MdE von 10 v.H. zu bewerten sei, sei für den Zeitraum ab 4. Februar 1993 bis zum 15. Mai 2000 eine MdE von 10 v.H. wegen der chirurgischerseits festgestellten Unfallfolgen im linken Sprunggelenk anzuerkennen. Die Kammer folge dem Gutachten von Dr. M, der bei seiner Untersuchung im Mai 2000 nur noch eine dezente Einschränkung der Beweglichkeit im linken unteren Sprunggelenk habe feststellen können. Nach einer funktionalen Betrachtungsweise des wechselseitigen Wirkens der Funktionsstörungen aufgrund der chirurgischen und neurologisch-psychiatrischen Unfallfolgen sei eine MdE von 20 v.H. anzunehmen, da es nicht zu Überschneidungen zwischen den verschiedenen Unfallfolgen gekommen sei.

Gegen das am 15. August 2002 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten vom 26. August 2002. Sie macht geltend, nach ihrer Erfahrung würden Angststörungen häufig von Gutachtern relativ anstandslos als Arbeitsunfallfolge akzeptiert, während der Vollbeweis zu führen sei, indem man den Betroffenen einer konkreten Exposition auf Leitern oder Gerüsten unterziehe und dabei nicht simulierbare Angstsymptome registriere. Es sei auch zu wenig beachtet worden, dass der Kläger bis April 1998 seine alte Tätigkeit weiterhin ausgeübt habe.

Der Kläger hat gegen das ihm am 13. August 2002 zugestellte Urteil am 29. August 2002 Berufung eingelegt und zunächst eine Verletztenteilrente ab Dezember 1992 und über den 15. Mai 2000 hinaus begehrt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 8. Juni 2004 hat er seinen Antrag beschränkt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. Juni 2002 aufzuheben und die Klage ab- zuweisen sowie die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. Juni 2002 sowie den Bescheid vom 26. September 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2001 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 1. Dezember 1992 ab Oktober 1998 eine Verletztenteilrente nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Auf der Grundlage eines Zwischenberichts des Chirurgen und Durchgangsarztes Dr. K vom 12. März 2003 hat die Beklagte einen Zwischenbericht über die Folgen des Arbeitsunfalls vom 14. Januar 1991 von Dr. K, leitender Arzt der Abteilung für Unfallchirurgie der Zentralklinik E v B, vom 12. Juni 2003 eingeholt. Danach besteht bei dem Kläger eine minimal eingeschränkte Handbeweglichkeit links bei freier Unterarmdrehbeweglichkeit. In einem von der Beklagten eingeholten Zwischenbericht vom 30. September 2003 zu dem Arbeitsunfall vom 1. Dezember 1992 vertritt Dr. S, Chefarzt der Abteilung für Unfallchirurgie der Zentralklinik E v B, die Auffassung, das am 1. Dezember 1992 auf die linke untere Extremität einwirkende Trauma habe einen Körperschaden hinterlassen, der eine Einschätzung der MdE von 10 v.H. rechtfertige.

Der Senat hat eine ergänzende Stellungnahme von Dr. G zur Höhe der MdE eingeholt. Der Sachverständige hat am 12. Januar 2004 ausgeführt, er halte die Bemessung der Höhenphobie mit diagnostisch unterschwelligen Begleitsymptomen seit dem 1. Dezember 1992 mit einer MdE von 20 v.H. für angemessen, weil die Begleitphänomene zwar diagnostisch unterschwellig seien, aber Art und Ausmaß höhenphobisch -typischer Begleitphänomene überschreiten und hierdurch sowohl die Höhenphobie als auch den unfallchirurgisch relevanten Körperschaden im Bereich der linken unteren Extremität in ihren jeweils behindernden Auswirkungen komplizieren würden. Die Höhenphobie gehe unter anderem damit einher, dass der Kläger sich in seinem ganzen Leben behindert und eingeschränkt erlebe. Die Symptomatik wirke sich also auf alle Bereiche seiner Erwerbsfähigkeit aus.

Hierzu hat die Beklagte eingewandt, gehe man von einer Höhenphobie aus, stelle sich die Frage, wie viel Prozent des allgemeinen Arbeitsmarktes dem Kläger durch seine Höhenphobie verstellt würden. Gehe man davon aus, dass deutlich weniger als 10% aller potenziellen Arbeitsplätze des Klägers mit einer Arbeit in großer Höhe verbunden seien, müsse die MdE aufgrund der Höhenphobie weniger als 10 v.H. betragen. Die Gesamt- MdE liege deshalb bei 10 v.H ...

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (einschließlich der Akten des SG) und der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Beklagte unter Änderung des den Arbeitsunfall vom 14. Januar 1991 betreffenden Bescheides in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2001 zu Recht verurteilt, als weitere Folge dieses Arbeitsunfalls eine "Angststörung in Form einer Höhenangst" anzuerkennen. Das Vorliegen dieser Gesundheitsstörung ist entgegen der Auffassung der Beklagten unter Berücksichtigung des Gesamtergebnisses der Beweisaufnahme bewiesen und nicht nur wahrscheinlich. Zutreffend hat das Sozialgericht darauf abgestellt, dass Dr. G aufgrund seiner persönlichen Untersuchung des Klägers zu dem Ergebnis gelangt ist, es liege eine Höhenphobie vor. Diese Einschätzung wird von allen Ärzten, die den Kläger von Amts wegen persönlich untersucht haben, geteilt. So hat Dr. Min seinem Gutachten zum Unfall vom 14. Januar 1991 eine nachvollziehbare Höhenangst angegeben, die er lediglich deshalb als vom Unfall unabhängige krankhafte Veränderung bezeichnet hat, weil er sie als Folge von zahlreichen Leiter- und Gerüststürzen angesehen hat. Dies ändert jedoch nichts daran, dass auch Dr. M von dem Vorliegen einer Höhenangst ausgegangen ist. Des Weiteren ist auch die Arbeitsamtsärztin Dr. L zu dem Ergebnis gelangt, es liege eine Höhenphobie vor. Diese konkreten Feststellungen können weder durch die Angabe, Angststörungen würden "häufig von Gutachtern relativ umstandslos akzeptiert werden", noch dadurch erschüttert werden, dass der Kläger bis 1998 seinen Beruf als Bauklempner weiter ausgeübt hat. Die Tatsache der weiteren Berufsausübung allein spricht nicht gegen das Vorliegen einer Angststörung als Folge des Arbeitsunfalls vom 14. Januar 1991. Dr. G hat dieses Verhalten vielmehr für den Senat nachvollziehbar damit begründet, dass der Kläger als junger Mann mit einer entsprechenden Berufsausbildung, der sich als "normal" empfunden habe, die Höhenangst und ihre Behandlungsbedürftigkeit zunächst nicht wahrhaben wollte. Ferner hat er darauf hingewiesen, dass der Kläger Vermeidungsstrategien angewendet habe, indem er abgewartet habe, ob jemand anderes die angstauslösende Tätigkeit übernehmen würde.

Die Berufung der Beklagten ist auch unbegründet, soweit sie sich gegen die Verurteilung zur Zahlung einer Rente nach einer MdE von 20 v.H. für den Zeitraum vom 1. September 1999 bis zum 15. Mai 2000 wendet.

Der Anspruch des Klägers richtet sich nach § 56 Abs.1 Sozialgesetzbuch (SGB ) VII. Zwar ist der Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten des SGB VII am 1. Januar 1997 eingetreten mit der Folge, dass grundsätzlich noch altes Recht anzuwenden ist. Aufgrund der Sondervorschrift des § 214 Abs. 3 SGB VII gelten jedoch die Vorschriften u.a. über Renten auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens des SGB VII eingetreten sind, wenn diese Leistungen nach dem Inkrafttreten erstmals festzusetzen sind. Erstmals festzusetzen sind Leistungen, wenn die materiellen Voraussetzungen für den Leistungsbezug erfüllt sind. Dies ist vorliegend unter Würdigung aller zur Akte gelangten medizinischen Befunderhebungen im Oktober 1998 der Fall gewesen, weil erstmals durch das arbeitsamtsärztliche Gutachten vom 22.Oktober 1998 das Ausmaß der bei dem Kläger vorliegenden Angststörung objektiviert worden ist.

Nach § 56 Abs.1 SGB VII haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf Rente. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers ab Oktober 1998 um 20 v.H. gemindert ist. Dr. G hat in seiner Stellungnahme vom 12. Januar 2004 nachvollziehbar dargelegt, dass die bei dem Kläger vorliegende Höhenphobie Begleitphänomene aufweise, die zwar diagnostisch unterschwellig seien, aber u.a. den unfallchirurgisch relevanten Körperschaden im Bereich der unteren linken Extremität in ihrer behindernden Auswirkung komplizieren würden. Diese Aussage wird vor dem Hintergrund, dass Dr. M die Beschwerden als etwas überzeichnet angegeben hat, nachvollziehbar. Auch wird diese Angabe von der Aussage in dem Gutachten des Dr. G, dass der Kläger sich insgesamt in seinem Leben als behindert und eingeschränkt fühle, gestützt. Die Bemessung des Grades der MdE, also die vorzunehmende Festlegung des konkreten Umfangs der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (BSG, Urteil vom 27. Juni 2000 - B 2 U 14/99 R -SozR 3-2200 § 581 Nr. 7 mwN). Neben der Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ist dabei die Anwendung medizinischer sowie sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens erforderlich. Als Ergebnis dieser Wertung ergibt sich grundsätzlich die Erkenntnis über den Umfang der dem Versicherten versperrten Arbeitsmöglichkeiten. Hierbei kommt es stets auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an (BSG Urteil vom 19. Dezember 2000 - B 2 U 49/99 R -). Die MdE richtet sich bei psychogenen Störungen nicht allein danach, welche Tätigkeiten auf Grund der unfallbedingten Gesundheitsstörungen nicht mehr ausführbar sind. Vielmehr ist nach der unfallmedizinischen Literatur maßgeblich, welche Überwindung bzw. welchen Energieaufwand der Betroffene aufbringen muss, um weiter erwerbsfähig zu sein ( vgl. Schönberger/ Mehrtens/ Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. 2003, S. 246). Die Feststellung liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Bei der Beurteilung der MdE sind auch die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend sind, aber Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis bilden und einem ständigen Wandel unterliegen. Hierzu hat Dr. Gauf die Ausführungen von Schönberger/Mehrtens/Valentin, "Arbeitsunfall und Berufskrankheit" verwiesen. Danach sind abnorme Persönlichkeitsentwicklungen, akute Belastungsreaktionen, Anpassungsbeeinträchtigungen, psychoreaktive Störungen mit finaler Ausrichtung, sogenannte leichtere neurotische Störungen mit einer MdE von 0 bis 10 v.H. zu bewerten, während stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (manche Phobien, pathologische Entwicklungsstörungen) mit einer MdE von 20 bis 40 v.H. bewertet werden ( 7. Auflage 2003, S. 246). Dr. G hat die beim Kläger vorliegenden Beeinträchtigungen als beginnend stärker behindernde Störung angesehen und dies mit den Auswirkungen der Störung auf den gesamten Alltag des Klägers für den Senat nachvollziehbar begründet. Seiner Einschätzung einer MdE von 20 v.H. ist danach zu folgen.

Berücksichtigt man die Tatsache, dass Dr. St von einer MdE von 10 v.H. für die unfallbedingte Beeinträchtigung des linken Sprunggelenks ausgegangen ist, unterliegt die Bildung einer Gesamt-MdE für beide Leiden wegen ihrer Überschneidung von 20 v.H. keinen Bedenken. Die Beurteilung von mehreren Gesundheitsstörungen und Funktionseinschränkungen aufgrund eines Arbeitsunfalls ist durch eine integrierende Gesamtschau der Gesamteinwirkungen ( Schönberger/ Mehrtens Valentin, 7. Auflage 2003, S. 158 ) vorzunehmen. Diese Gesamtschau hat zu berücksichtigen, dass nach den Ausführungen von Dr. Gin seiner Stellungnahme vom 12. Januar 2004 davon auszugehen ist, dass die Begleitphänomene der Höhenphobie die behindernden Auswirkungen im linken Fuß verstärken, so dass eine Gesamt-MdE von 20 v.H. zu bilden ist.

Nach alledem ist die Berufung des Klägers begründet, soweit er nach einer Einschränkung seines Antrags noch eine Rente nach einer MdE von 20 v.H. als Folge des Arbeitsunfalls vom 1. Dezember 1992 ab Oktober 1998 und über den 15. Mai 2000 hinaus begehrt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt, dass der Kläger im Klageverfahren und zunächst auch im Berufungsverfahren eine Verletztenteilrente ab Dezember 1992 nach einer MdE von 30 v.H. begehrt und erst in der mündlichen Verhandlung vom 8. Juni 2004 seinen Antrag beschränkt hat.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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