L 13 SB 68/04

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 40 SB 2464/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 68/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 3. Mai 2004 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Der Beklagte trägt die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens. Sonstige außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches "G" (erhebliche Gehbehinderung).

Der 1948 geborenen Klägerin war zuletzt durch Bescheid vom 21. April 1998 in der Fassung eines Widerspruchsbescheides vom 10. August 1998 ein Gesamt-Grad der Behinderung (GdB) von 30 zuerkannt worden; weitere gesundheitliche Merkmale lägen nicht vor. Ein Neufeststellungsantrag wurde durch Bescheid vom 30. Juni 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15. November 1999 abgelehnt.

Mit einem am 6. Juli 2000 beim Beklagten eingegangenen Antrag begehrte die Klägerin erneut die Neufeststellung ihres Grades der Behinderung. Beigefügt waren u.a. ein Arztbrief des Internisten ? Rheumatologen Dr. H vom 14. März 2000 und ein Attest der Ärzte für Orthopädie Dr. M/Dr. S u.a. vom 3. Januar 2000; später wurde ein weiteres Attest dieser Ärzte vom 2. August 2000 beigebracht. Der Beklagte holte einen Befundbericht der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. O (erstellt am 7. August 2000) ein und zog einen Rehabilitations-Entlassungsbericht der Fachklinik F bei, wo die Klägerin in der Zeit vom 28. Januar 1998 bis 25. Februar 1998 zu Lasten der Landesversicherungsanstalt Berlin stationär behandelt worden war. Auf der Grundlage einer gutachtlichen Stellungnahme durch den Arzt F (vom 4. Oktober 2000) stellte der Beklagte sodann durch Bescheid vom 21. November 2000 einen Gesamt-GdB von 40 fest; weitere gesundheitliche Merkmale lägen nicht vor.

Die Klägerin erhob hiergegen Widerspruch, mit dem sie ausführte, dass ihre Erkrankungen und Behinderungen nicht angemessen berücksichtigt worden seien. Sie sei zum Beispiel nicht in der Lage, sich in öffentlichen Verkehrsmitteln zu bewegen, wenn kein Sitzplatz vorhanden sei, und benötige einen Schwerbehindertenausweis mit einem GdB von mindestens 50, um u.a. Behindertenparkplätze nutzen zu können. Der Beklagte holte hierzu eine gutachtliche Stellungnahme durch Dr. K (vom 3. Januar 2001) ein und half dem Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 24. Januar 2001 insoweit ab, als nunmehr ein Gesamt-GdB von 50 zuerkannt wurde. Die Funktionsbeeinträchtigungen, deren verwaltungsintern festgestellte Einzel-GdB jeweils in Klammern vermerkt sind, wurden nunmehr wie folgt bezeichnet: a) degenerative und entzündliche Veränderung im Stütz? und Bewegungs- apparat mit anhaltenden Funktionsstörungen (40), b) depressives Syndrom, vegetative Dystonie (30), c) Raynaudsyndrom (10), d) Bluthochdruck, Neigung zu Angina pectoris (10), e) Bronchialasthma, Lungenemphysem (10).

Die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) lägen nicht vor. Eine hiergegen unter dem Aktenzeichen S 44 SB 2000/01 erhobene Klage nahm die Klägerin in der Folgezeit durch Schriftsatz vom 5. Dezember 2001 zurück, zugleich bat sie, ihren Klageantrag, der auch auf Feststellung einer erheblichen Gehbehinderung gerichtet war, als einen Überprüfungsantrag gemäß § 44 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch, Verwaltungsverfahren (SGB X) zu werten.

Nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme durch einen MD F vom 19. Februar 2002 und Beiziehung eines Arztbriefes von Dr. B vom 1. Februar 2002 holte der Beklagte ein Gutachten durch den Arzt für Orthopädie Dr. V (vom 26. März 2002) ein. Dieser führte nach einer Untersuchung der Klägerin aus, dass mittelschwere bis schwere funktionelle Einbußen im Bereich von Hals? und Lendenwirbelsäule (HWS/LWS) vorlägen. Neurologische Ausfälle seien jedoch nicht nachweisbar. Ein außergewöhnliches Schmerzsyndrom könne nicht festgestellt werden, jedoch führten das depressive Syndrom und die vegetative Dystonie zu einer ungünstigen Beeinflussung, so dass eine wesentliche Erhöhung des GdB auch unter Berücksichtigung der Bewegungsstörung des linken Schultergelenkes resultiere. Der Gesamt-GdB betrage 60. Eine erhebliche Gebehinderung könne jedoch nicht anerkannt werden, hierfür fehlten die befundmäßigen Voraussetzungen. Der Beklagte erkannte daraufhin durch Bescheid vom 18. April 2002 unter teilweiser Rücknahme seines Bescheides vom 21. November 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 2001 einen Gesamt-GdB von 60 an. Die Funktionsbeeinträchtigungen bezeichnete er wie folgt: a) Verschleißleiden der Wirbelsäule mit Gefügelockerung im Lendenwirbelsäulenbereich, langanhaltende neuro-muskuläre Reizerscheinungen bei Hals? und Lendenwirbelsäulensyndrom (40), b) Depressives Syndrom, vegetative Dystonie (30), c) Bewegungsstörung des linken Schultergelenkes, Karpaltunnelsyndrom beiderseits (30), d) Raynaudsyndrom (10), e) Bluthochdruck, Neigung zu Angina pectoris (10), f) Bronchialasthma, Lungenemphysem (10), g) degenerative Veränderungen des rechten Kniegelenkes, Fuß? und Zehenfehlform beiderseits (10).

Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung der Merkzeichen "G" und "aG" seien nicht erfüllt. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch, mit dem sie ausführte, dass das Wirbelsäulenleiden an HWS und LWS mit 40 zu bewerten sei. Sie leide ferner an einer zumindest mittelschweren depressiven Episode, deren Schweregrad ? sofern man ein weichteilrheumatisches Schmerzsyndrom mit Verdacht auf Fibromyalgie einbeziehe ? einer mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeit mit einem GdB von 50 bis 70 entspreche. Ihr Gehvermögen habe sich auf etwas über 100 m verschlechtert. Der Beklagte wies den Widerspruch nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme des praktischen Arztes B vom 12. August 2002 durch Widerspruchsbescheid vom 12. November 2002 zurück.

Im Klageverfahren hat der Beklagte auf der Grundlage von Befundberichten des Neurochirurgen Dr. B (vom 9. März 2003) und der Fachärzte für Orthopädie Dr. M u.a. (vom 10. März 2003) durch Bescheid vom 22. Mai 2003 einen Gesamt-GdB von 70 ab Juli 2001 anerkannt, nachdem der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. D dies aufgrund einer ausgeprägten negativen Wechselwirkung zwischen den Leiden des Bewegungsapparates und dem seelischen Leiden angeregt hatte.

Die Klägerin hat daraufhin in Bezug auf die Höhe des GdB die Teilerledigung des Rechtsstreites erklärt und das Verfahren wegen der Zuerkennung des Merkzeichens "G" fortgesetzt. Das Sozialgericht hat sodann durch den Facharzt für Orthopädie Dr. S ein Sachverständigengutachten eingeholt (Gutachten vom 5. September 2003). Dr. S führte aus, dass im Vordergrund der geklagten Beschwerden für die Klägerin derzeit die Beschwerden im Bereich der HWS mit Ausstrahlung in den linken Arm verbunden mit Kopfschmerzen stünden. Ferner würden Schmerzen lumbal mit Ausstrahlung in das linke Bein beklagt. Es fänden sich hier deutliche Bewegungseinschränkungen der LWS sowie Kraftminderungen der Fußhebung und ?senkung. Radiologisch und kernspintomographisch ließe sich eine deutliche Spondylolisthesis (Wirbelgleiten) nachweisen, begleitet von einer Deformierung des 5. Lendenwirbelkörpers mit deutlicher ventraler Höhenminderung. Ferner würden Schmerzen am Großzehengrundgelenk links angegeben, es bestehe hier bei Senk-Spreizfuß eine deutliche Hallux-valgus-Bildung beidseits, links auch mit reaktiver Verdickung der Bursa am Vorfußballen innen. Ferner würden Schmerzen am rechten Knie angegeben; hier fänden sich keine wesentlichen Funktionseinschränkungen, die Beweglichkeit sei frei. Die Einzelgrade der Behinderung für die Funktionsstörungen, die sich auf die Gehfähigkeit auswirkten, betrügen für die chronisch rezidivierende Lumboischialgie links bei Spondylolisthese L4/5 mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt 30, für den Reizzustand Knie rechts bei leichter retropatellarer und medialer Gonarthrose rechts 10 und für den Senk-Spreizfuß beidseits mit deutlichem Hallux valgus beidseits 10. Die Klägerin sei, wie sich auch in der Gehstreckenuntersuchung gezeigt habe, nicht mehr ohne erhebliche Schwierigkeiten in der Lage, Wegstrecken im Ortsverkehr, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden könnten, zurückzulegen. Die Gehbehinderung resultiere zum überwiegenden Teil aus dem orthopädischen Leiden der erheblichen degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule und des Wirbelgleitens. Diese Erkrankungen reduzierten nicht regelmäßig das Gehvermögen, bei der Klägerin liege jedoch eine nicht übliche Deformierung des 5. LWK vor, so dass hier eine Instabilität resultiere. Die leichte Gonarthrose rechts zeitige derzeit keine wesentliche Veränderung des Gehverhaltens. Verstärkend wirke sich der bisher nicht einlagentechnisch versorgte Senk-Spreizfuß aus. Bei der Gehstreckenmessung und der Ganganalyse zeigte sich ein verlangsamtes Schrittbild mit leichtem linksseitigem Hinken. Die Gehstrecke in 25 Minuten betrage knapp über 400 m, bei der Messung würden Schmerzen lumbal angegeben, die nachvollziehbar seien.

Das Sozialgericht hat daraufhin durch Urteil vom 3. Mai 2004 den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 22. Mai 2003 verurteilt, den Bescheid vom "23." November 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 2001 abzuändern und der Klägerin ab Juli 2000 das Merkzeichen "G" zuzuerkennen. Die Durchführung einer Gehprüfung sei zwar ein nur wenig probates Mittel, um die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festzustellen, da ihre Aussagekraft stark von der individuellen Mitwirkung des Probanden abhänge. Der Wertung der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) 1996 lasse sich aber entnehmen, dass LWS-Beschwerden, welche ohne Hinzutreten nichtbehinderungsbedingter Ursachen eine Einschränkung der Gehfähigkeit des Betroffenen dahingehend bedingten, dass dieser nicht mehr in der Lage sei, ortsübliche Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen, die Zuerkennung des Merkzeichens "G" rechtfertigten. Aus dem Umkehrschluss zu Nr. 26.18 (S. 140) AHP 1996 lasse sich dabei entnehmen, dass es sich insoweit um Lendenwirbelsäulenschäden mit besonders schweren Auswirkungen handele. Das Gutachten sei insoweit unschlüssig, als der Sachverständige die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" erkenne und die sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Lendenwirbelsäulenbeschwerden lediglich mit einem GdB von 30 bewerte. Zur Überzeugung des Gerichtes sei aber nicht das Votum des Sachverständigen hinsichtlich der Geheinschränkungen, sondern seine Bewertung des Lendenwirbelsäulenleidens unzutreffend.

Gegen dieses ihm am 1. Juli 2004 zugegangene Urteil richtet sich die am 16. Juli 2004 eingegangene Berufung des Beklagten. Der vom Gericht vorgenommenen Interpretation des Gutachtens vermöge man nicht zu folgen. Dass die Bewertung des Lendenwirbelsäulenleidens unzutreffend sein solle, sei nicht nachvollziehbar und werde auch nicht hinreichend begründet. Ein objektiver Nachweis einer erheblichen Behinderung beim Gehen werde vom Gutachter nicht geliefert. Die gesamte Schilderung der Funktion des Stütz? und Bewegungsapparates lasse erkennen, dass Einschränkungen im Wesentlichen ? bei objektiver Betrachtung ? höchstens mittelgradig seien. Der Gutachter habe außer den genannten Wirbelsäulenleiden lediglich eine geringe Behinderung des rechten Kniegelenkes bei leichter Gonarthrose und eine solche wegen eines Senk-Spreizfußes beidseits festgestellt. Durch die ausgeprägten Störungen der LWS und nur geringen Störungen der unteren Gliedmaßen lasse sich aber eine erhebliche Gehbehinderung nicht erklären. Es müsse auch als auffallend angesehen werden, dass bei der Gehstreckenprüfung Pausen bereits nach 3, 5, 8, 12, 16, 22 und 25 Minuten hätten eingelegt werden müssen wegen geäußerter Schmerzen. So habe auch der Gutachter es durchaus für möglich gehalten, dass eine "veränderte Schmerzwahrnehmung" aufgrund der attestierten Depression nicht ausgeschlossen werden könne. Jedenfalls aber habe er den beschriebenen lumboischialgieförmigen Beschwerdekomplex bei Spondylolisthesis und deformierten LWK als nicht so außergewöhnlich angesehen, dass er diesen mit einem höheren GdB als 30 bewertet hätte.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 3. Mai 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Das Sozialgericht habe sich zutreffend mit der Problematik auseinandergesetzt, dass auch Einzelgrade der Behinderung von unter 50, die sich jedoch auf das Gehvermögen besonders nachteilig auswirkten, den Nachteilsausgleich "G" rechtfertigen könnten. Sie sei nicht mehr in der Lage, eine Gehstrecke von 2 km zu bewältigen. Ferner habe sie bereits erstinstanzlich auf die Unterschätzung ihrer Fibromyalgieerkrankung bzw. einer somatoformen Schmerzstörung hingewiesen. Ihre Bewegungsfähigkeit sei durch chronisch lumbale Beschwerden, die in beide Beine ausstrahlten, eingeschränkt. Ferner könne der Sachverständige den Einzel-GdB für das Lendenwirbelsäulenleiden mit 30 zu niedrig bewertet haben, dieser sei aufgrund der Verformung und der Instabilität bei chronisch ausstrahlenden Schmerzen vielmehr mit 40 zu bewerten. Erschwerend käme dann der chronische Reizzustand des Knies und die ausgeprägte beidseitige Hallux-valgus-Erkrankung hinzu.

Das Gericht hat durch den Facharzt für Orthopädie Dr. S zum Vorbringen des Beklagten eine ergänzende gutachtliche Stellungnahme eingeholt (Rückäußerung des vom 3. Dezember 2004). Dr. S führte erneut aus, dass die Klägerin bei seiner Untersuchung nicht in der Lage gewesen sei, eine Gehstrecke von 2000 m in 30 Minuten zurückzulegen. Eine veränderte Schmerzwahrnehmung könne aufgrund der attestierten Depression nicht ausgeschlossen werden, sei aus seiner Sicht jedoch nicht als ursächlich und überwiegend wesentlich anzusehen. Nicht zutreffend sei, dass der Nachteilsausgleich "G" nur ausgesprochen werden könne, wenn eine Funktionsstörung der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule mindestens 50 ergäbe. Es verbleibe bei seiner gutachtlichen Einschätzung im Gutachten vom 5. September 2003.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach? und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den der Verwaltungsakte des Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide des Beklagten sind, soweit sie die Ablehnung der Zuerkennung des Merkzeichens "G" betreffen, rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin erfüllt nicht die gesundheitlichen Voraussetzungen einer erheblichen Gehbehinderung nach den §§ 145, 146 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX); eine wesentliche Änderung in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X, die zur Änderung des insoweit bestandskräftigen Bescheides vom 21. April 1998, mit dem die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs bereits abgelehnt worden war, führen würde, ist insoweit nicht eingetreten; auch war der Bescheid vom 21. November 2000 nicht rechtswidrig im Sinne des § 44 Abs. 1 SGB X. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben.

Gemäß § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist ein schwerbehinderter Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, der infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Diese Voraussetzungen sind nach Nr. 30 Abs. 3 der nunmehr einschlägigen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX, 2004 ? AHP 2004 ?, S. 138) erfüllt, wenn Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen oder bei Behinderungen der unteren Gliedmaßen mit einem GdB von unter 50, die sich besonders ungünstig auf die Gehfähigkeit auswirken, z.B. bei Versteifung des Hüftgelenkes, Versteifung des Knie? oder Fußgelenkes in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40.

Das Vorliegen einer dieser Voraussetzungen für eine erhebliche Gehbehinderung ist den vorhandenen medizinischen Unterlagen und Feststellungen nicht zu entnehmen. Hinsichtlich der Einschränkungen auf orthopädischem Gebiet folgt das Gericht den Feststellungen des Dr. S in dem Gutachten vom 5. September 2003. Nach dessen Ausführungen, die er in seiner Rückäußerung vom 3. Dezember 2004 bestätigt hat, beträgt der GdB für die Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule insgesamt lediglich 30. Der Gutachter führte in Beantwortung der Frage 3 in seinem Gutachten vom 5. September 2003 hierzu aus, dass die chronisch rezidivierende Lumboischialgie links bei Spondylolisthese L 4/5 mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt mit einem GdB von 30, der Reizzustand des Knies bei leichter retropatellarer und medialer Gonarthrose rechts mit einem GdB von 10 und der Senk-Spreizfuß beidseits mit deutlichem Hallux valgus beidseits mit einem Einzel-GdB von ebenfalls 10 zu bewerten seien. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb diese durch den Gutachter getroffene GdB-Einschätzung falsch sein sollte. Sie stimmt zum einen überein mit den Feststellungen des Arztes für Orthopädie Dr. V, der nach einer Untersuchung der Klägerin mit Gutachten vom 26. März 2002 den Einzel-GdB für das Verschleißleiden der Wirbelsäule mit Gefügelockerung im Lendenwirbelsäulenbereich, lang anhaltenden neuro-muskulären Reizerscheinungen bei Hals? und Lendenwirbelsäulensyndrom mit insgesamt 40 bewertete, was bei Außerachtlassung der HWS-Beschwerden, die nach den Feststellungen von Dr. S sogar "im Vordergrund" ständen, für die untere LWS höchstens zu einem Einzel-GdB von 30 führt. Auch die Angaben der behandelnden Ärzte in ihren vom Sozialgericht eingeholten Befundberichten bestätigen die Höhe dieses Einzel-GdB. So führten die Fachärzte für Orthopädie Dr. M u.a. in ihrem Befundbericht vom 10. März 2003 zu den Funktionsbeeinträchtigungen aus, dass es sich um solche "mittlerer Art" handele. Auch der behandelnde Neurochirurg Dr. B teilte in seinem Befundbericht vom 9. März 2003 als konkrete Funktionsbeeinträchtigungen die fehlende Belastbarkeit der Wirbelsäule und chronische Schmerzen, die einer Dauertherapie bedürften, mit, bezeichnete den Schweregrad jedoch ebenfalls als einen solchen "mittlerer Art". Ein Wirbelsäulenschaden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt, auf den für die Beurteilung der Gehfähigkeit lediglich abzustellen ist, führt nach den AHP 2004 (Nr. 26.18, S. 116) jedoch lediglich zu einem Einzel-GdB von 20. Wenn also der Wirbelsäulenschaden der Klägerin im Bereich ihrer Lendenwirbelsäule mit 30 bewertet wird, entspricht dies bei Anwendung der AHP 2004 bereits schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt oder aber mittelgradigen funktionellen Auswirkungen unter Berücksichtigung des bei der Klägerin bestehenden außergewöhnlichen Schmerzsyndroms. Der Vortrag der Klägerin zu einer Fibromyalgie-Erkrankung führte ebenfalls nicht zu einem höheren GdB für den Bereich der unteren Gliedmaßen. Ein derartiges Krankheitsbild ist lediglich durch Dr. Hin dessen Arztbrief vom 14. März 2000 an die behandelnden Ärzte für Orthopädie Dr. M/Dr. S als "weichteilrheumatische Beschwerden mit Verdacht auf beginnendes FMS-Syndrom" beschrieben worden, eine derartige Diagnose konnte in der Folgezeit jedoch weder den eingeholten Befundberichten noch den Gutachten von Dr. Veit oder Dr. Stöber entnommen werden. Der Einzel-GdB von 30 für die Einschränkungen an den unteren Gliedmaßen erhöhte sich auch nicht deshalb, weil die Klägerin zusätzlich an einem Reizzustand des rechten Knies bei leichter Gonarthrose rechts sowie einem bisher nicht einlagentechnisch versorgten Senk-Spreizfuß mit Hallux valgus beidseits leidet. Denn beide zusätzliche Beeinträchtigungen führen nach den Feststellungen von Dr. S, gegen die irgendwelche Einwände nicht erhoben worden sind, lediglich zu einem Einzel-GdB von 10, was nach den ausdrücklichen Vorgaben in Nr. 19 Abs. 4 AHP 2004 (S. 26) nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB führt.

Nicht nachvollziehbar ist die Wertung, dass entgegen den ausdrücklichen Vorgaben der AHP ein Wirbelsäulenleiden lediglich deshalb höher zu bewerten wäre, weil zugleich eine Gehbehinderung festgestellt worden wäre. Eine derartige Vorgehensweise widerspricht den Vorgaben in den AHP 2004. Nach deren bereits genannten Nr. 30 Abs. 3 AHP 2004 hat die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens der Feststellung eines Mindest-GdB für die Funktionsbeeinträchtigungen an den unteren Gliedmaßen zu folgen und nicht umgekehrt.

Selbst wenn man jedoch von einem Gesamt-GdB von 40 für die unteren Gliedmaßen und den Bereich der Lendenwirbelsäule ausginge, führte dies nicht zur Zuerkennung der Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G". Denn weitere Voraussetzung wäre, da jedenfalls kein GdB von 50 für diesen Bereich erreicht ist, dass sich die Behinderungen auf die Gehfähigkeit besonders auswirken wie z.B. bei einer Versteifung des Hüftgelenkes oder einer Versteifung des Knie? oder Fußgelenkes in ungünstiger Stellung. Funktionseinschränkungen dieses Schweregrades liegen bei der Klägerin nicht vor. Die von ihr als außergewöhnlich stark empfundenen Schmerzen haben bereits dadurch Berücksichtigung gefunden, dass nicht lediglich von mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt mit einem GdB von 20, sondern bereits von einem GdB von 30 ausgegangen wurde.

Etwas anderes folgt auch nicht aufgrund des Ergebnisses des durch Dr. S durchgeführten Gehstreckentestes, aus welchem dieser die Unfähigkeit der Klägerin, 2000 m in 30 Minuten zurückzulegen, gefolgert hat. Ein derartiger Gehstreckentest ist nicht geeignet, die Beeinträchtigung des Gehvermögens nachzuweisen. Vielmehr fassen die AHP, die als antizipierte Sachverständigengutachten maßgebend sind, zusammen, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein behinderter Mensch infolge einer Einschränkung des Gehvermögens in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Damit tragen die AHP dem Umstand Rechnung, dass das Gehvermögen des Menschen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus), das Alter sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation zu nennen. Von diesen Faktoren filtern die AHP all jene heraus, die außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des Schwerbehinderten im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (BSG, Beschluss vom 13. August 1997, SozR 3?3870 § 60 Nr. 2). Nicht ergebnisrelevant war entgegen den Ausführungen der Klägerin, dass eine bewusste Aggravation bei ihr weder beobachtet noch vermutet worden sei, da aus den aufgezeigten Gründen auch zahlreiche andere Faktoren das Ergebnis des Gehstreckentestes beeinflussen können. Entscheidend war daher allein auf die in den AHP genannten Voraussetzungen abzustellen, die vorliegend aus den genannten Gründen nicht erfüllt sind.

Der Berufung war nach alledem stattzugeben.

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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