L 13 SB 77/11

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 26 SB 49/08
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 77/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 4. Juni 2009 geändert sowie der Beklagte unter Änderung des
Bescheides vom 5. September 2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2008 verpflichtet, bei dem Kläger ab dem 7. April 2011 einen Grad der Behinderung von 70 festzustellen. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens (zum Az. L 13 SB 77/11) zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).

Der Beklagte hatte mit Bescheid vom 7. Februar 2007 bei dem 1948 geborenen Kläger ab Oktober 2006 einen GdB von 50 für eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, eine operierte Wirbelsäule, und einen verheilten Wirbelbruch festgestellt.

Am 29. Juni 2009 stellte der Kläger unter Hinweis auf die Verstärkung der Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlung in die Beine, Schwindel, Übelkeit und Gleichgewichtsstörungen einen Verschlimmerungsantrag und begehrte ferner die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Gehbehinderung). Nach Einholung von Befundberichten und einer versorgungsärztlichen Stellungnahme lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 5. September 2007 ab. Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein und führte zur Begründung aus, dass der bei ihm bestehende Bluthochdruck und die Schuppenflechte nicht berücksichtigt worden seien. Überdies würden die wegen der Wirbelsäulenbeschwerden eingenommenen Schmerzmittel zu psychischen Problem führen. Nach weiteren Ermittlungen hob der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 2008 unter Anerkennung der Schuppenflechte als weiterer Funktionsbehinderung mit einem Einzel-GdB von 20 ab Antragstellung den Gesamt-GdB auf 60 an, wies aber den darüber hinausgehenden Widerspruch zurück.

Mit der bei dem Sozialgericht Cottbus erhobenen Klage hat der Kläger die Anerkennung eines GdB von mindestens 70 sowie die Zuerkennung des Merkzeichens "G" begehrt.

Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Orthopäden und Sozialmediziners Dr. W vom 28. November 2008 nebst ergänzender Stellungnahme, eingegangen am 7. Mai 2009. Der Sachverständige hat einen Gesamt-GdB von 70 vorgeschlagen. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

a) Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule in mittelschwerem Ausmaß in allen Abschnitten (Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule) und schwerem Ausmaß im lumbodorsalen Übergang (60),
b) Funktionsbehinderung der Hautschutzfunktion durch Schuppenflechte (20),
c) Funktionsbehinderung des Kreislaufsystems im Sinne eines Bluthochdruckes mit hypertensiven Krisen (20).

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 4. Juni 2009 abgewiesen. Ausgehend von einer Funktionseinschränkung der Wirbelsäule im mittelschweren Ausmaß in allen Abschnitten und schwerem Ausmaß im lumbodorsalen Übergang mit einem Einzel-GdB von 50, einer
Funktionsbehinderung durch die Schuppenflechte mit einem Einzel-GdB von 20 und dem Bluthochdruck mit einem Einzel-GdB von 10 ergebe sich der vom Beklagten auch zuerkannte Gesamt-GdB von 60. Der Bewertung der Funktionseinschränkung der Wirbelsäule durch den Sachverständigen Dr. W mit einem Einzel-GdB von 60 werde nicht gefolgt. Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten seien lediglich mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40 zu bewerten. Für das Vorliegen besonderer schwerer Auswirkungen, die die Vergabe eines Einzel-GdB von 50 bis 70 rechtfertigen würden, sei auch unter Berücksichtigung der Feststellungen des Sachverständigen nichts ersichtlich. Bluthochdruck liege lediglich in leichter Form vor, so dass ein Einzel-GdB von mehr als 10 insoweit nicht feststellbar sei. Die Ende Februar 2008 erfolgte stationäre Behandlung habe zu einer medikamentösen Einstellung und zu stabilen Blutdruckwerten geführt. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" seien nicht gegeben.

Mit der Berufung zum Az. L 13 SB 282/09 hat der Kläger sein Begehren zunächst weiter verfolgt.

Der Senat hat ein weiteres Gutachten des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. L vom 1. Februar 2010 nebst ergänzender Stellungnahme vom 6. September 2010 eingeholt. Der Sachverständige Dr. List nach Untersuchung des Klägers zu der Einschätzung gelangt, dass bei Verneinung des Vorliegens der Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" für die Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers ein Gesamt-GdB von 60 gerechtfertigt ist, welcher aus einem Einzel-GdB für ein ausgeprägtes therapieresistentes thorakolumbales Schmerzsyndrom mit mittelgradiger Funktionseinschränkung von 40, für ein cervikales Schmerzsyndrom mit mittelgradiger Funktionseinschränkung der Halswirbelsäule von 20 sowie für die Schuppenflechte von 20 resultiere. Der Sachverständige Dr. W hat in seiner Stellungnahme vom 21. Mai 2010 an seiner Einschätzung eines Gesamt-GdB von 70 festgehalten.

In der mündlichen Verhandlung vom 7. April 2011 hat der Senat das Verfahren abgetrennt, soweit es die Höhe des GdB von diesem Tage an betrifft, und unter dem Az. L 13 SB 77/11 fortgeführt. Der Kläger hat die Berufung hinsichtlich des Verfahrens zum Az. L 13 SB 282/09 zurückgenommen.

Im Rahmen der weiteren Sachaufklärung hat der Senat das Gutachten des Internisten und Rheumatologen Dr. H vom 28. Februar 2012 mit ergänzender Stellungnahme vom 19. November 2012 eingeholt. Der Sachverständige hat nach Untersuchung des Klägers einen Gesamt-GdB von 70 vorgeschlagen. Dieser Einschätzung hat der Kläger sich angeschlossen.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vom 26. September 2013, zu der weder der Kläger noch – wie angekündigt – dessen Prozessbevollmächtigter erschienen sind, hat der Beklagte das Vorliegen eines GdB von 70 mit Wirkung vom 23. August 2011 anerkannt.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 4. Juni 2009 zurückzuweisen, soweit nicht der Anspruch anerkannt worden ist.

Er hält im Übrigen an seiner Entscheidung fest.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Klägers im Termin verhandeln und entscheiden (§ 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Entsprechend seinem Teilanerkenntnis vom 26. September 2013 ist der Beklagte durch Urteil zu verpflichten, bei dem Kläger vom 23. August 2011 an einen GdB von 70 festzustellen.

Die zulässige Berufung des Klägers ist im Übrigen begründet.

Hinsichtlich des Zeitraums vom 7. April 2011 bis zum 22. August 2011 sind die angefochtenen Bescheide des Beklagten rechtswidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten. Denn der Kläger hat gegen den Beklagten auch insoweit einen Anspruch, dass dieser bei ihm einen GdB von 70 feststellt.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" heranzuziehen.

Nach den Feststellungen des Internisten und Rheumatologen Dr. H im Gutachten vom 28. Februar 2012 liegen bei dem Kläger folgende Funktionsbeeinträchtigungen vor:

a) Spondyloarthropathia psoriatica mit Wirbelsäulen- und peripherer Gelenkbeteiligung, b) Morbus Forestier / disseminierte idiopathische Skeletthyperostose (DISH), c) Zustand nach traumatischer Fraktur des 1. Lendenwirbels mit operativer Versorgung durch Fixateur intern und Wirbelkörper-Spacer und mit Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms der Wirbelsäule, d) ausgeprägte Psoriasis vulgaris mit großflächiger Manifestation an Rumpf und Extremitäten, e) arterielle Hypertonie.

Dem schließt der Senat sich an. Er ist insbesondere der Überzeugung, dass die genannten Leiden bereits im April 2011 vorgelegen haben. Durch die rheumatologisch-fachärztliche Begutachtung hat sich die Vermutung des Orthopäden Dr. W im Gutachten vom 28. November 2008 letztlich bestätigt, dass bei dem Kläger entzündliche Funktionseinschränkungen und Beschwerden vorliegen.

Die Einschätzung des Sachverständigen Dr. H, dass bei dem Kläger eine entzündlich-rheumatische Erkrankung vorliegt, wird entgegen der Ansicht des Beklagten nicht dadurch in Frage gestellt, dass ihr keine Entzündungslabordiagnostik zu Grunde liegt. Der Gutachter hat hierzu nachvollziehbar ausgeführt, dass sich die genannte Diagnose auch ohne Laborbefunde auf der Basis der Röntgenbefunde stellen lässt, zumal die Laborwerte bei Spondylopathia psoriatica häufig im Normbereich liegen, ohne dass die Krankheit damit ausgeschlossen werden kann.

Im Rahmen der Wirbelsäulenerkrankung ist der Maßstab für die Zuerkennung des Einzel-GdB nicht Teil B Nr. 18.9 der Anlage zur VersMedV (Wirbelsäulenschäden), sondern Nr. 18.2.1 der Anlage zur VersMedV (entzündlich-rheumatische Krankheiten der Gelenke und/oder der Wirbelsäule [z.B. Bechterew-Krankheit]) zu entnehmen. Denn die funktionelle Beeinträchtigung ist bei den – hier vorliegenden – ausgeprägten degenerativen Veränderungen in Kombination mit dem postoperativen chronischen Schmerzsyndrom und dem entzündlichen Krankheitsbild im Rahmen der Spondylopathia psoriatica deutlich höher einzuschätzen als bei rein degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule, nämlich analog zu einem Morbus Bechterew.

Der Senat folgt dem überzeugenden Vorschlag des Sachverständigen Dr. H, die Funktionsbehinderungen des Klägers durch die Spondyloarthropathia psoriatica mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten. Wie der Gutachter dargelegt hat, handelt es sich um eine entzündlich-rheumatische Erkrankung mit erheblichen Funktionseinbußen und schwer beeinflussbarer Krankheitsaktivität. Der Einzel-GdB von 50 liegt am unteren Rand des von Nr. 18.2.1 Abs. 3 der Anlage zur VersMedV für derartige entzündlich-rheumatische Erkrankungen mit mittelgradigen Auswirkungen vorgesehenen Rahmens von 50 bis 70. Er ist mit Rücksicht auf die weiteren Wirbelsäulenerkrankungen des Klägers auf 60 anzuheben. Denn die Auswirkungen der Spondyloarthropathia psoriatica werden nach den Feststellungen des Sachverständigen durch das DISH-Syndrom und die operative Einbringung eines Fixateur intern dadurch verstärkt, dass eine höhergradige Bewegungseinschränkung entsteht. Ferner werden die rheumatischen Beschwerden durch das nach der Fraktur des 1. Lendenwirbels aufgetretene chronische Schmerzsyndrom verstärkt.

Die Bewertung der Psoriasis vulgaris mit einem Einzel-GdB von 20 ist zwischen den Beteiligten – mit Recht – nicht im Streit.

Die arterielle Hypertonie bedingt keinen eigenen Einzel-GdB, da sie medikamentös einstellbar ist und keine Funktionsstörungen hervorruft.

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird.

Auch für den Zeitraum vom 7. April 2011 bis zum 22. August 2011 ist danach bei dem Kläger der Gesamt-GdB auf 70 festzusetzen. Führende Behinderung ist das Wirbelsäulenleiden des Klägers mit einem Einzel-GdB von 60. Die Psoriasis vulgaris mit einem Einzel-GdB von 20 wirkt sich nach den gutachterlichen Feststellungen verstärkend aus, da die großflächigen Hautmanifestationen den Kläger gesundheitlich belasten und in der Teilhabe einschränken. Nach der Überzeugung des Senats ist der Einzel-GdB von 60 um einen Zehnergrad auf einen Gesamt-GdB von 70 anzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
Saved