L 15 SO 345/16 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
15
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 195 SO 1489/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 15 SO 345/16 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 17. November 2016 geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruches gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 5. September 2016 bezüglich des Zeitraums April 2012 bis März 2015 wird bezüglich des gesamten Bescheides angeordnet. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat den Antragstellern die Kosten des gesamten einstweiligen Anordnungsverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 17. November 2016, mit dem dieses zwar die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Erstattungsbescheid vom 5. September 2016 betreffend den Zeitraum April 2012 bis März 2015 angeordnet, die Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen die in dem gleichen Bescheid erfolgte Aufhebungsentscheidung bzgl. der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GruSi) für den Zeitraum April 2012 bis März 2015 jedoch abgelehnt hat, ist zulässig und begründet. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruches gegen den Bescheid vom 5. September 2016 betreffend den genannten Zeitraum war insgesamt anzuordnen. Soweit mit der Beschwerde auch (weiter) die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 5. September 2016 betreffend den Zeitraum April 2011 bis März 2012 begehrt wird, war die Beschwerde zurückzuweisen.

Gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen anordnen, in denen Widerspruch und Klage keine aufschiebende Wirkung haben. Zwar hat der Widerspruch gegen den Bescheid vom 5. September 2016 entgegen § 86 a Abs. 1 Satz 1 SGG nur deshalb keine aufschiebende Wirkung, weil der Antragsgegner in dem Bescheid die sofortige Vollziehung angeordnet hat. Auch in diesem Fall richtet sich der einstweilige Rechtsschutz nach § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG. In der Vorschrift ist die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zwar nicht genannt, wohl aber wird sie in § 86 b Abs. 1 Satz 3 SGG ausdrücklich erwähnt. Daran zeigt sich, dass der Gesetzgeber auch bei Anordnungen des Sofortvollzugs durch die Behörde einstweiligen Rechtsschutz durch Wiederherstellung (Anordnung) der aufschiebenden Wirkung hat einräumen wollen (vgl. den Beschluss des Senats vom 27. November 2006, Az. L 15 B 234/06 SO ER, im Anschluss u.a. an LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 6. Februar 2006, Az. L 13 AL 4566/05 ER-B, beide dokumentiert in juris).

Nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten ist und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnet. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung stellt eine Ausnahme vom Regelfall des § 86a Abs. 1 SGG dar. Nach dieser Vorschrift hat der Rechtsbehelf grundsätzlich selbst dann aufschiebende Wirkung, wenn die angegriffene Verwaltungsentscheidung rechtmäßig ist. Für die Vollziehungsanordnung ist deshalb ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, welches den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), Kammerbeschluss vom 12. September 1995, Az. 2 BvR 1179/95, juris Rdnr. 42 = NVwZ 1996, 58, mit weiteren Nachweisen). Das besondere öffentliche Interesse muss gerade an der sofortigen Vollziehung bestehen. Die Ausgangsregel des § 86a Abs. 1 SGG spricht dafür, dass im Zweifel das öffentliche Vollzugsinteresse zurückzustehen hat. Dabei erfolgt die Prüfung des Gerichts nicht aufgrund eines starren Prüfungsschemas, sondern es gilt, dass je größer die Erfolgsaussichten sind, umso geringere Anforderungen an das Aussetzungsinteresse zu stellen sind. Ist der Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig und der Betroffene durch ihn in seinen subjektiven Rechten verletzt, wird ausgesetzt, weil dann ein öffentliches Interesse oder Interesse eines Dritten an der Vollziehung nicht besteht. Bei offenbarer Rechtswidrigkeit ist für eine Entscheidung zugunsten des Antragstellers, anders als bei Entscheidungen der Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 SGG, keine besondere Eilbedürftigkeit erforderlich (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 11. Auflage, § 86b Rn. 12d bis 12f m.w.N.).

So liegt es hier. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 5. September 2016 bzgl. des Zeitraums April 2012 bis März 2015 ist offensichtlich rechtswidrig, da er den Bestimmtheitsanforderungen des § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X) nicht genügt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) muss aus einem (jeden) Verfügungssatz vollständig klar und unzweideutig erkennbar sein, was die Behörde regeln will und wem gegenüber sie es regeln will ("Klarstellungsfunktion"; BSG, Urteil vom 15. Mai 2002 – B 6 KA 25/01 R, dokumentiert in juris und in SozR 3-2500 § 85 Nr. 46; KassKomm/Mutschler, Stand September 2016, SGB X, § 33 Rn. 4-8, beck-online). Vorliegend lässt sich dem Bescheid nicht entnehmen, welcher Betrag gegenüber welchem der Antragsteller aufgehoben und welcher Betrag jeweils von wem zurückgefordert wird. Möglicherweise ging der Antragsgegner davon aus, dass die Antragssteller als Gesamtschuldner in Anspruch zu nehmen sind (allerdings kommt auch dies in dem Bescheid vom 5. September 2016 an keiner Stelle zum Ausdruck). Dies ist jedoch nicht der Fall. Der sozialhilferechtliche Bedarf ist stets ein individueller, in einer bestimmten Person auftretender Bedarf. Es gibt keine Bedarfsgemeinschaften mehrerer Personen (vgl. Grube in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Auflage 2014, Einleitung Rn. 58 - 66, beck-online). Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass nach § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB XII [jetzt § 27 Abs. 2 SGB XII] das Einkommen (und Vermögen) des Leistungsberechtigten und seines Partners "gemeinsam" zu berücksichtigen ist. Die Formulierung in § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB XII ändert nichts daran, dass die jeweiligen Mitglieder der Einsatzgemeinschaft wie zuvor unter der Geltung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) Individualansprüche gegen den Sozialhilfeträger haben und derjenige, der nicht bedürftig ist, nicht etwa wegen der "gemeinsamen" Berücksichtigung des Einkommens ( ) Sozialhilfe beanspruchen könnte (BSG, Urteil vom 09. Juni 2011 – B 8 SO 20/09 R, juris Rn. 19 = SozR 4-3500 § 82 Nr. 8). Daraus folgt, dass auch eine Aufhebung und Erstattung individuell jedem Hilfebedürftigen gegenüber zu erfolgen hat. Diesem Erfordernis entspricht der Bescheid vom 5. September 2016 nicht. Es ist in keiner Weise erkennbar, in welcher Höhe die Leistungsbewilligung gegenüber der Antragstellerin zu 1) und in welcher Höhe gegenüber dem Antragsteller zu 2) aufgehoben wird und welche Beträge von wem zurückgefordert werden. Dies ist jedoch bereits deshalb relevant, weil die Antragstellerin zu 1) sehr viel höhere Einkünfte als der Antragsteller zu 2) hatte (und hat). Während sie aktuell eine Rente aus der deutschen Rentenversicherung in Höhe von 726,05 Euro und aus der russischen Rentenversicherung in Höhe von 173,43 Euro bezieht, hat ihr Ehemann nur eine deutsche Rente in Höhe von 22,20 Euro und eine russische Rente in Höhe von 142,27 Euro zur Verfügung. Die Verhältnisse dürften auch in dem hier in Rede stehenden Zeitraum ähnlich gewesen sein. Daraus ergibt sich, dass die Antragstellerin zu 1) in dem Zeitraum April 2012 bis März 2015 einen sehr viel geringeren GruSi-Anspruch hatte (wenn sie überhaupt einen hatte, aktuell hat sie keinen, sondern es ergibt sich ein Einkommensüberhang, der bei dem Antragsteller zu 2) angerechnet wird). Daraus folgt zwangsläufig, dass ihr gegenüber eine Aufhebung und eine Erstattungsforderung in sehr viel geringerem Maße erfolgen könnte und dürfte als ihrem Ehemann gegenüber. Insgesamt ist damit der Bescheid vom 5. September 2016 bereits wegen mangelnder Bestimmtheit rechtswidrig und die sofortige Vollziehungsanordnung außer Kraft zu setzen. Dahingestellt bleiben kann daher, ob dies auch aus anderen Gründen zu geschehen hätte; vgl. zur Problematik der Aufhebung der Bewilligung von Grundsicherungsleistungen wegen laut Antragsgegner bezogener sogenannter "kick-back-Zahlungen" den Beschluss des Senats vom 21. Dezember 2016, Az. L 15 SO 301/16 B ER, dokumentiert in juris und in www.sozialgerichtsbarkeit.de.

Die Beschwerde war zurückzuweisen, soweit mit ihr auch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen den Bescheid vom 5. September hinsichtlich des Zeitraums April 2011 bis März 2012 begehrt wird. Diesen Bescheid hat der Antragsgegner im erstinstanzlichen Verfahren aufgehoben, so dass das Sozialgericht zu Recht entschieden hat, dass diesbezüglich ein Rechtsschutzinteresse nicht mehr gegeben ist.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG analog.

Gegen diesen Beschluss gibt es kein Rechtsmittel (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved