L 18 AS 747/20 B PKH

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 116 AS 1541/20
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 747/20 B PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 22. April 2020 aufgehoben. Der Klägerin wird für das Verfahren bei dem Sozialgericht Prozesskos-tenhilfe unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten bewilligt.

Gründe:

Die Beschwerde der Klägerin ist begründet. Das Sozialgericht (SG) hat die Bewilli-gung von Prozesskostenhilfe (PKH) für die erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage iSv § 54 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG), gerichtet auf Gewährung weiterer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) iHv mtl 212,99 EUR für die Zeit vom 1. Januar 2020 bis 30. Juni 2020, zu Unrecht abgelehnt; die Klage hat hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Zivilprozessordnung (ZPO)).

Grundsätzlich trifft es zwar zu, dass die im Januar 2020 zugeflossene Einnahme aus der Nachzahlung von Arbeitslosengeld (Alg) iHv 1.277,95 EUR, bei der es sich nicht um eine zweckbestimmte Einnahme iSv § 11a Abs. 3 Satz 1 SGB II handelt, als Ein-kommen zu berücksichtigen und ab Januar 2020 auf sechs Monate (à 212,99 EUR) ver-teilt anzurechnen ist (§ 11 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 SGB II). Vorliegend ist indes das durch Vorlage entsprechender Kontoauszüge gestützte Vorbringen der Klägerin, sie habe die Nachzahlung bereits im Januar 2020 "vollständig verbraucht", zu beachten.

Als Einkommen sind grundsätzlich alle Einnahmen zu berücksichtigen und Ausnah-men sieht das Gesetz nur für – hier nicht einschlägige - bestimmte Einnahmen und bestimmte Absetzbeträge vor (vgl §§ 11 bis 11b SGB II). Angesichts dieses Regel-Ausnahme-Verhältnisses bedarf das Eingreifen einer Ausnahme einer klaren gesetz-lichen Rechtsgrundlage. Zudem ist zu beachten, dass das SGB II die Übernahme von Schulden, ohne dass bislang ersichtlich wäre, dass die Alg-Nachzahlung hierfür verwendet worden wäre, nur ausnahmsweise vorsieht, nämlich zur Sicherung der Unterkunft, aber auch dann in der Regel nur darlehensweise (§ 22 Abs. 8 SGB II; vgl zur grundsätzlichen Verneinung der Übernahme von Schulden schon die Gesetzes-begründung zum Entwurf des SGB II in BT-Drucks 15/1516 S 56 sowie: Bundessozi-algericht (BSG), Urteil vom 30. September 2008 - B 4 AS 29/07 R = BSGE 101, 291 = SozR 4-4200 § 11 Nr 15 – Rn 19; BSG, Urteil vom 29. November 2012 - B 14 AS 33/12 R = BSGE 112, 229 = SozR 4-4200 § 11 Nr 57 – Rn 14; BSG, Urteil vom 20. Februar 2014 – B 14 AS 53/12 R = SozR 4-4200 § 11b Nr 4 – Rn 37). Dies folgt aus dem Zweck der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, in einer aktuellen Notlage das verfassungsrechtlich geschützte Existenzminimum zu sichern (vgl § 1 Abs 1 SGB II). Dementsprechend ist die Hilfebedürftige bei Zufluss einer einmaligen Einnahme gehalten, das Geld nicht zur Schuldendeckung zu verwenden, sondern über den Verteilzeitraum hinweg zur Sicherung des Lebensunterhalts einzusetzen.

Es kommt indes bei Berücksichtigung einer Einnahme als Einkommen in einem ab-schließenden Prüfungsschritt darauf an, ob zugeflossenes Einkommen als "bereites Mittel" geeignet ist, den konkreten Bedarf im jeweiligen Monat zu decken (vgl BSG, Urteil vom 29. November 2012 – B 14 AS 33/12 R = SozR 4-4200 § 11 Nr 57 – Rn 13 ff mwN aus der Rspr). Dies gilt auch bei Berücksichtigung einer einmaligen Ein-nahme in einem Verteilzeitraum. Wenn die einmalige Einnahme, deren Berücksichti-gung als Einkommen in Rede steht, tatsächlich nicht (mehr) uneingeschränkt zur Verfügung steht, ist ein Leistungsanspruch nicht ausgeschlossen. Die Verweigerung existenzsichernder Leistungen aufgrund einer unwiderleglichen Annahme, dass die Hilfebedürftigkeit bei bestimmtem wirtschaftlichen Verhalten - hier dem Verbrauch der einmaligen Einnahme in bestimmten monatlichen Teilbeträgen - (teilweise) ab-zuwenden gewesen wäre, ist mit Art 1 Grundgesetz (GG) iVm Art 20 GG nicht ver-einbar (vgl nur Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 = NVwZ 2005, 927 = juris – Rn 28). Diesem Gedanken folgt das gesetzgebe-rische Grundprinzip, dass Einkommen nicht "fiktiv" berücksichtigt werden darf, son-dern tatsächlich geeignet sein muss, Hilfebedürftigkeit zu beseitigen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn im Rahmen einer nachträglichen Aufhebungsentscheidung (zB nach § 48 SGB X) wegen einer nicht angezeigten zugeflossenen Einnahme eine künftige Verbindlichkeit des Hilfebedürftigen gegenüber dem Grundsicherungsträger entsteht (vgl BSG SozR 4-4200 § 11 Nr 15). Denn bei der Anwendung des § 48 SGB X bei einer – hier nicht einschlägigen - Nichtanzeige der zugeflossenen Einnahme mit Wirkung für die Vergangenheit bleibt nicht eine aktuelle Bedarfslage ungedeckt und bestand also tatsächlich keine Hilfebedürftigkeit (vgl BSG, Urteil vom 10. September 2013 – B 4 AS 89/12 R = SozR 4-4200 § 11 Nr 62 – Rn 25 mwN), so dass das Ausgabeverhalten der Hilfebedürftigen während des Verteilzeitraums in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung ist. Vorliegend handelt es sich jedoch um eine Erstbewilligung laufender Leistungen.

Danach ist durch die eingereichten Kontoauszüge belegt, dass das Girokonto der Klägerin, auf das die am 2. Januar 2020 zugeflossene Alg-Nachzahlung überwiesen wurde, zum Zeitpunkt der Überweisung bereits einen Sollstand von – 142,27 EUR auf-wies (per 1. Januar 2020), der Klägerin der Nachzahlungsbetrag als "bereites Mittel" daher vollständig bereits zum Zuflusszeitpunkt nicht mehr zur Verfügung stand. Vor Eingang der Alg-Zahlung für Januar 2020 iHv 628,50 EUR am 30. Januar 2020 befand sich das Girokonto bereits wieder im Soll, so dass die Alg-Nachzahlung iHv 1.277,95 EUR in vollem Umfang verbraucht war und jedenfalls für eine Verteilung ab Februar 2020 nicht mehr zur Verfügung stand. Im Hinblick darauf kann der Klage die hinrei-chende Erfolgsaussicht nicht abgesprochen werden (vgl Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl § 73a Rn 7a mwN).

Kosten sind im PKH-Beschwerdeverfahren kraft Gesetzes nicht zu erstatten (§ 127 Abs. 4 ZPO analog).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das BSG angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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