L 27 R 735/19 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
-
Aktenzeichen
S 23 R 2077/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 R 735/19 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird die Antragsgegnerin unter Änderung des Beschlusses des Sozialgericht Berlin vom 23. September 2019 im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen zur Kinderrehabilitation in Form einer Sprachheil-Rehabilitation in der Rehabilitationsklinik W in B im zeitlichen Umfang von vier Wochen, längstens jedoch bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht Berlin zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller dessen außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens in vollem Umfang zu erstatten. Im Übrigen bleibt es bei der Kostenentscheidung des Sozialgerichts.

Gründe:

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

Der Hauptantrag des am 16. September 2013 geborenen Antragstellers ist dahingehend zu verstehen, ihm im Wege der einstweiligen Anordnung eine Sprachheil-Rehabilitation in der Rehabilitationsklinik W zu g e w ä h r e n. Zwar beantragt er wörtlich, ihm die genannte Rehabilitation zu b e w i l l i g e n. Der Wortlaut ist jedoch nicht entscheidend; maßgeblich ist vielmehr das tatsächliche Begehren des Antragstellers. Dieses ist, wie sich eindeutig aus der Antragsbegründung ergibt, nicht etwa auf die (vorläufige) Verpflichtung der Antragsgegnerin zum Erlass eines entsprechenden Bescheides gerichtet, sondern auf deren (vorläufige) Verpflichtung, ihn mit den begehrten Leistungen tatsächlich zu versorgen. Denn der Antragsteller bringt vor, zu seinen Gunsten sei gegen die Antragsgegnerin ein Anspruch auf Versorgung mit der Sprachheil-Rehabilitation bereits dadurch entstanden, dass die von ihm beantragte Leistung als genehmigt gelte. Eines weiteren Bescheides, den er zu er-streiten hätte, bedarf es deshalb nicht. Im Hauptsacheverfahren wäre zur Durchsetzung dieses "Naturalleistungsanspruchs" (so Bundessozialgericht [BSG] Urteil vom 8. März 2016 – B 1 KR 25/15 R –, BSGE 121, 40) die allgemeine Leistungsklage die statthafte Verfahrensart (vgl. BSG, Urteil vom 26. Februar 2019 – B 1 KR 18/18 R –, NZS 2019, 920), nicht aber die Verpflichtungsklage im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint.

Diese Voraussetzungen liegen bezogen auf die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin vor, dem Antragsteller Leistungen zur Kinderrehabilitation in Form einer Sprachheil-Rehabilitation in der Rehabilitationsklinik W in B im zeitlichen Umfang von vier Wochen, längstens jedoch bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht Berlin zu gewähren.

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Hieran sind im vorliegenden Verfahren vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes keine strengen Anforderungen zu stellen. Denn der Antragsteller, der nach dem Schreiben des ihn behandelnden Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin Dr. H vom 30. September 2019 / 15. November 2019 an einer tiefgreifenden Kommunikationseinschränkung leidet, begehrt hier mit der Sprach-Rehabilitation Leistungen, welche ihm die Chance für einen Einstieg in eine sukzessive fortzuentwickelnde Kommunikationskompetenz eröffnen und insoweit dessen Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen sollen, die sicherzustellen der Staat verfassungsrechtlich verpflichtet ist.

Nach § 18 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) gilt die beantragte Leistung zur Teilhabe nach Ablauf einer Frist von zwei Monaten (§ 18 Abs. 1 SGB IX) als genehmigt, soweit die Frist nicht durch eine begründete Mitteilung im Sinne des § 18 Abs. 2 SGB IX verlängert wurde.

Maßgebliches Ereignis für den Lauf der Frist ist der Antragseingang (§ 18 Abs. 1 SGB IX). Vorliegend ist das ausgefüllte Antragsformular auf Leistungen zur Kinderrehabilitation vom 22. Mai 2019 bei der Antragsgegnerin am 27. Mai 2019 eingegangen.

Der Lauf der Frist beginnt allerdings nur, wenn der Antrag so bestimmt gestellt ist, dass die auf Grundlage des Antrags fingierte Genehmigung ihrerseits im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB X hinreichend bestimmt ist (vgl. zu der Parallelvorschrift des § 13 Abs. 3a Satz 6 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch: BSG, Urteil vom 11.Juli 2017 – B 1 KR 26/16 R –, BSGE 123, 293, mit weiteren Nachweisen). Diesen Anforderungen genügt der Antrag, denn unter Heranziehung der zeitgleich eingereichten sprachtherapeutischen Stellungnahme der Dipl. Patholinguistin B, die dem Antragsteller eine Sprachheilkur in der Rehabilitationsklinik W empfahl, war erkennbar, welche konkrete Leistung zur Teilhabe er verfolgte.

Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin kann nicht auf einen späteren Zeitpunkt als den 27. Mai 2019 abgestellt werden. Am 23. Juli 2019 ging bei ihr der Befundbericht des den Antragsteller behandelnden Arztes Dr. H vom 9. Juli 2019 ein, zu dessen Vorlage ihn die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 6. Juni 2019 und vom 4. Juli 2019 aufgefordert hatte. Die Antragsgegnerin kann sich nicht Erfolg darauf berufen, dass sie erst auf der Grundlage dieses Befundberichts in der Lage gewesen sei, über ihre Zuständigkeit zu entscheiden. Denn hierauf kommt es nicht an. § 18 Abs. 3 Satz 1 SGB IX ist die für die Genehmigungsfiktion im allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht getroffene Regelung des § 42a Abs. 2 Satz 2 Verwaltungsverfahrensgesetz fremd, wonach die Frist erst mit Eingang der vollständigen Unterlagen in Gang gesetzt wird. Dies ergibt sich aus den detaillierten Bestimmungen in § 18 Abs. 2 SGB IX, insbesondere aus Nr. 3 dieser Vorschrift, die eine Verlängerung der Frist für die Dauer einer fehlenden Mitwirkung des Leistungsberechtigten vorsieht. Die hierbei von dem Rehabilitationsträger zu beachtenden formellen Vorgaben, vor allem die Notwendigkeit einer begründeten Mitteilung, würden umgangen werden, wenn statt dessen auf die Vollständigkeit der Unterlagen abgestellt werden dürfte.

Unter Zugrundelegung des 27. Mai 2019 als Datum des hier maßgeblichen Zeitpunktes endete die Zweimonatsfrist nach § 26 Abs. 2, Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) in Verbindung mit §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB sowie – da der 27. Juli 2019 ein Sonnabend war – nach § 26 Abs. 3 Satz 1 SGB X am 29. Juli 2019. Die Mitteilung der Antragsgegnerin an den Antragsteller, dass sie dessen An-trag an die gesetzliche Krankenversicherung weitergeleitet habe, wurde jedoch erst an diesem Tag verfügt und war damit verfristet, da mangels entgegenstehender Hinweise in dem Verwaltungsvorgang davon auszugehen ist, dass sie an den An-tragsteller mit der Post gesandt wurde und ihn deshalb erst an den folgenden Tagen erreichte. Denn die Zweimonatsfrist des § 18 Abs. 1 SGB IX stellt keine Entscheidungsfrist dar; maßgebend für die Einhaltung der Frist ist die Bekanntgabe der Entscheidung bei dem Antragsteller (vgl. Kellner, Die neue Genehmigungsfiktion im Teilhaberecht, NJW 2018, 3486).

Vorliegend hat sich die Frist nach § 18 Abs. 1 SGB IX auch nicht dadurch verlängert, dass die Antragsgegnerin dem Antragsteller vor Ablauf der Frist die Gründe, aus denen sie über dessen Antrag nicht innerhalb von zwei Monaten entscheiden könne, schriftlich mitgeteilt hätte. Denn die Schreiben der Antragsgegnerin vom 6. Juni 2019 und vom 4. Juli 2019 erfüllen nicht die Anforderungen des § 18 Abs. 2 SGB IX, die an eine derartige begründete Mitteilung zu stellen sind, da sie nicht "auf den Tag genau" bestimmte, bis wann sie über den Antrag entscheiden werde.

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Notwendigkeit, wesentliche Nachteile von dem Antragsteller abzuwenden (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG) ergibt sich allerdings noch nicht aus dessen Vorbringen vor dem Sozialgericht, es bestehe für ihn ein hoher Leidensdruck, weil er mit seiner Umwelt nur rudimentär kommunizieren könne. Zutreffend hat das Sozialgericht hierzu ausgeführt, dieser Vortrag sei weder näher dargelegt noch anhand medizinischer Unterlagen belegt worden. Im Übrigen spricht gegen die Annahme eines hohen Leistungs-drucks, dass, wie sich aus dem Schreiben des behandelnden Arztes Dr. H vom 16. April 2018 ergibt, bereits länger als ein Jahr vor der Antragstellung ein Reha-Aufenthalt in der Klinik W in Rede stand. Hingegen ist dem Antragsteller im Beschwerdeverfahren die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes gelungen: Aus der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Stellungnahme des behandeln-den Arztes Dr. Hertzberg vom 30. September 2019 / 15. November 2019 ergibt sich, dass der Antragsteller – der seinem Vorbringen zufolge im kommenden Schuljahr eine inklusive Schule besuchen möchte – in seiner aktuellen Entwicklungsphase zeitnah eine intensive Förderung seiner sprachlichen Kompetenz benötigt. Der bei ihm bestehenden Rehabilitationsbedürftigkeit sei möglichst bis zum Zeitpunkt der Einschulung oder spätestens während der ersten Monate des Schulbesuchs Rechnung zu tragen.

Mit der vorläufigen Gewährung der Sprachheil-Rehabilitation wird die Hauptsache nicht vorweggenommen, da sie jedenfalls über einen Schadensersatzanspruch nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 945 Zivilprozessordnung einer Korrektur für die Vergangenheit zugänglich ist (vgl. BSG, Urteil vom 13. Dezember 2016 – B 1 KR 1/16 R –, BSGE 122, 170).

Soweit der Antragsteller mit seinem Begehren im Rahmen des – durch Auslegung ermittelten – Hauptantrags im Beschwerdeverfahren durchgedrungen ist, bedarf es keiner Entscheidung über den Hilfsantrag. Im Übrigen ist der Antrag des Antragstellers, im Wege der einstweiligen Anordnung festzustellen, dass sein bei der Antragsgegnerin am 27. Mai 2019 gestellter Antrag als genehmigt gilt, gegenüber dem Leistungsbegehren subsidiär und damit unzulässig.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens in erster und zweiter Instanz.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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