L 1 KR 1/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 182 KR 1347/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 1/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 3. Dezember 2018 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin mit einem Dreirad.

Die 1985 geborene Klägerin ist bei der Beklagten versichert. Sie leidet seit Geburt an einer genetisch bedingten an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit sowie an Mitochondropathie (Muskelschwäche) mit beinbetonter spastischer Tetraparese. Es liegt ein frühkindlicher Hirnschaden vor.

Mit Schreiben vom 29. Juli 2010 beantragte die Klägerin unter Vorlage einer von Dr. L ausgestellten ärztlichen Verordnung vom 16. August 2010 und einer Rechnung der Firma Tdirect über die Lieferung eines Spezial-Dreirads vom 5. August 2010 zum Preis von 399,- EUR bei der Beklagten die Kostenübernahme eines Dreirads. Sie sei wegen ihrer Behinderungen im Alltag auf das Dreirad angewiesen, das ihr ein Stück Selbständigkeit zurückgeben könne. Gleichzeitig könne sie ihre Muskulatur trainieren. Durch ihre Mutter sei sie auf das Angebot der Firma T aufmerksam geworden.

Durch Bescheid vom 21. August 2010 lehnte die Beklagte eine Beteiligung an den Kosten ab. Nach den gesetzlichen Regelungen könne sie nur ein Basishilfsmittel zur Unterstützung der Mobilität zur Verfügung stellen, wie etwa einen Rollator oder einen Rollstuhl.

Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, dass sie aufgrund ihrer Krankheit auf eine durch viel Sport zu erreichende Verbesserung der Muskulatur angewiesen sei. Wegen ihrer Gleichgewichtsstörung sei sie unsicher auf den Beinen und falle gelegentlich hin. Sie müsse ihre Beinmuskulatur stärken, sonst sei sie schon in jungen Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen. Das Spezial-Dreirad habe sie wegen des von 899,- EUR auf 399,- EUR reduzierten Preises bereits bestellt.

Die Beklagte befragte daraufhin den MDK, der in seinem Gutachten vom 9. Dezember 2010 ausführte, dass die sozialmedizinischen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung nicht erfüllt seien. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen habe in Anlehnung an die Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 23. Juli 2002 – B 3 KR 3/02 R) eine Zuständigkeit der Krankenversicherung für die Versorgung mit einem behindertengerechten Fahrrad nur für Jugendliche bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres anerkannt. Trotz gesundheitsfördernder Wirkung des Fahrradfahrens könne der Integrationsaspekt nicht auf das Erwachsenenalter übertragen werden. Eine Beweglichkeits- und Muskelkräftigungstherapie könne durch Krankengymnastik und anschließende Bewegungsübungen oder die Benutzung eines Hometrainers sichergestellt werden. Als Grundbedürfnis sei nur das Gehen im Nahbereich der Wohnung anerkannt. Zu prüfen sei allerdings, ob das Dreirad als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen sei.

Die Beklagte befragte das Bezirksamt T als den für die Klägerin zuständigen Träger der Sozialhilfe, das mit Schreiben vom 13. Mai 2011 antwortete, dass Therapiedreiräder nach der Rechtsprechung Hilfsmittel der Krankenkassen seien.

Bereits vorher hatte die Klägerin mit Schreiben vom 12. April 2011 darauf hingewiesen, dass das von der Firma T erworbene Fahrrad ihren speziellen Anforderungen nicht entspreche und sie daher Kostenvoranschläge über Therapiedreiräder von zugelassenen Hilfsmittellieferanten mit Beträgen von 1.399,- EUR bis 2.699,- EUR eingeholt habe. Sie begehre nicht die Erstattung der Rechnung für das bereits angeschaffte Dreirad.

Der verordnende Arzt Dr. L teilte der Beklagten auf deren Nachfrage mit, dass die Verwendung eines Gehstocks für die Klägerin wegen muskulärer Dysbalancen und Koordinationsstörungen nicht geeignet sei. Sie sei nur in der Lage Gehstrecken von ca. 500 Meter zu Fuß zurückzuzulegen.

Der erneut von der Beklagten befragte MDK blieb in seinem Gutachten vom 23. Februar 2012 bei seiner Einschätzung, dass die sozialmedizinischen Voraussetzungen für die Leistungsgewährung nicht erfüllt sein. Ergänzend wies der MDK auf das Urteil des BSG v. 7. Oktober 2010 – B 3 KR 5/10 R hin, wonach ein Dreirad bei Erwachsenen nur ausnahmsweise als Hilfsmittel von der Krankenversicherung zu leisten sei, nämlich wenn seine Verwendung in einem engen Zusammenhang zu einer auf einem ärztlichen Therapiekonzept beruhenden Behandlung stehe.

Die Klägerin legte Atteste ihrer behandelnden Ärzte P, K und Dr. M vor, welche die Versorgung der Klägerin mit einem Dreirad für sinnvoll erklärten. Der dazu von der Beklagten befragte MDK blieb in seinem Gutachten vom 12. Juni 2012 bei seiner bisherigen Einschätzung. Dass die behandelnden Ärzte das Fahren mit einem Dreirad als sinnvoll, hilfreich und erleichternd ansehen würden, belege nicht den erforderlichen engen Zusammenhang mit einem ärztlichen Therapiekonzept.

Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 27. Juni 2012 zurück. Sie verwies auf die Stellungnahmen des MDK. Eine Rückfrage bei der behandelnden Ärztin Dr. T habe zudem ergeben, dass die Fähigkeit der Klägerin zur sicheren Teilnahme am Straßenverkehr zweifelhaft sei. Dr. L habe die medizinische Notwendigkeit eines Dreirads nicht weiter erläutert. Es sei nicht ersichtlich, dass durch die Verwendung eines Dreirads mit hoher Wahrscheinlichkeit der Eintritt einer Behinderung abgewendet werden könne. Es gebe auch keinen engen Zusammenhang mit einer Krankenbehandlung. Demnach solle das Dreirad nur der Distanzüberwindung dienen. Dafür sei aber ein Rollator zweckmäßig und ausreichend.

Mit der am 2. August 2012 bei dem Sozialgericht Berlin eingegangenen Klage begehrt die Klägerin die Verurteilung der Beklagten zur Übernahme der Kosten für ein Therapiedreirad. Nach einem Krankenhausaufenthalt bezieht die Klägerin seit Juni 2012 Leistungen der Pflegeversicherung bei Pflegebedürftigkeit. Sie ist mittlerweile mit einem Elektrorollstuhl versorgt. Der MDK hat im Klageverfahren am 11. Juni 2013 und 5. September 2013 noch weitere Gutachten erstattet, in denen er bei seiner bisherigen Einschätzung geblieben ist, dass die Krankenversicherung nicht leistungspflichtig sei. In seinem sozialmedizinischen Gutachten vom 19. Dezember 2013 hat er dann ausgeführt, dass es sich bei dem Therapiedreirad keinesfalls um ein Pflegehilfsmittel nach § 40 SGB XI handele.

Das Sozialgericht hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 3. Dezember 2018 abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Versorgung mit einem Therapiedreirad. Es fehle an der subjektiven Erforderlichkeit des Hilfsmittels, weil die Klägerin nicht in der Lage sei, mit dem begehrten Hilfsmittel sicher am Straßenverkehr teilzunehmen. Sie leide an einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit. Im Straßenverkehr sei es aber erforderlich, auch auf akustische Signale reagieren zu können. Zudem habe der MDK in seinem Gutachten vom 11. Juni 2013 berichtet, dass die Tagesform der Klägerin sehr unterschiedlich sei. Für eine sichere Teilnahme am Straßenverkehr sei aber unerlässlich, dass es nicht zu einer Verschlechterung des Zustands komme. Das Pflegegutachten vom 21. August 2013 schildere wiederholte Unruhezustände, Kurzatmigkeit und starken Tremor, eine deutlich abgeschwächte Handkraft sowie Einschränkungen des Hörvermögens und des Kurzzeitgedächtnisses. Diese Einschränkungen sprächen gegen eine sichere Teilnahme am Straßenverkehr. Auch die behandelnde Ärztin Dr. T habe Bedenken gegen die Fähigkeit der Klägerin zur Teilnahme am Straßenverkehr geäußert. Die Vorstellung der Klägerin, nicht die Straße, sondern ausschließlich Fahrradwege zu benutzen, sei unrealistisch. In Berlin gebe es kein flächendeckendes Netz von Fahrradwegen. Die Klägerin dürfe als Erwachsene auch nicht auf Gehwegen Fahrrad fahren. Außerdem würden Gehwege von Ein- und Ausfahrten für Kraftfahrzeuge gekreuzt, so dass diese Verkehrssituationen der Klägerin gesteigerte Sorgfaltspflichten abverlangen würden. Für eine Verbesserung des Zustands der an progredienter Mitochondriopathie leidenden Klägerin sei nichts ersichtlich.

Gegen den ihr am 4. Dezember 2018 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 2. Januar 2019 bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingegangene Berufung der Klägerin. Zu Unrecht sei das Sozialgericht nach über sechsjähriger Verfahrensdauer zu dem Ergebnis gekommen, dass der Sachverhalt geklärt sei. Das Sozialgericht habe kein Sachverständigengutachten eingeholt und äußere stattdessen Mutmaßungen. Auch habe es versäumt, sich mit der Rechtsprechung des BSG auseinanderzusetzen (Hinweis auf Urt. v. 15. März 2018 – B 3 KR 4/16 R, B 3 KR 12/17 R und B 3 KR 18/17 R).

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 3. Dezember 2018 sowie den Bescheid der Beklagten vom 21. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ein Therapiedreirad zu gewähren,

hilfsweise,

ein weiteres Gutachten einzuholen bzw. eine Klärung mit der vom Gericht bestellten Sachverständigen über den aktuellen Stand des Therapieplans der Klägerin und ob sich das Therapierad in diesen Therapieplan einfügen würde.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

Der Senat hat die Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. M B mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. In Ihrem Gutachten vom 4. Dezember 2019 führte die Sachverständige aus, dass das Therapiefahrrad in erster Linie zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden solle. Für die Klägerin seien wegen ihrer Erkrankungen umfangreiche Bewegungsübungen von großer Bedeutung. Die Klägerin werde zweimal in der Woche ergotherapeutisch behandelt, führe täglich zahlreiche gymnastische Übungen durch und trainiere regelmäßig mit dem Rollator auf dem eigenen Grundstück. Weitere Bewegungsübungen seien medizinisch sinnvoll. Als angenehm empfundene Bewegungsübungen würden erfahrungsgemäß häufiger durchgeführt. Die Klägerin wünsche sich ein Therapiefahrrad und erhoffe sich von dem vermehrten Aufenthalt im Freien auch positive Auswirkungen auf ihre Lungenfunktion. Die Nutzung des Therapiefahrrads sei aus medizinischer Sicht eine sinnvolle Bewegungstherapie, es könne aber auch mit anderen Bewegungsmaßnahmen ein günstiger Effekt erzielt werden. Eine ärztliche Überwachung sei nicht erforderlich, ausreichend eine nichtmedizinische Begleitperson, die der Klägerin beim Verlassen des Hauses grundsätzlich immer zur Verfügung stehe. Der räumliche Nahbereich der Wohnung könne bereits mit dem vorhandenen Elektrorollstuhl erschlossen werden. Das Therapiefahrrad biete diesbezüglich keinen Vorteil. Die Klägerin sei wegen ihres Gesundheitszustands nicht in der Lage, das Therapiefahrrad im Straßenverkehr zu nutzen. Geplant sei die Nutzung von Fahrradwegen, die in einer Entfernung von 100 Meter und im angrenzenden Wohnumfeld vorhanden seien.

Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg. Im Ergebnis zu Recht hat das Sozialgericht in dem Gerichtsbescheid vom 3. Dezember 2018 den Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einem Dreirad für draußen entsprechend der ärztlichen Verordnung vom 16. August 2010 abgelehnt.

Ein Anspruch der Klägerin ergibt sich nicht nach Maßgabe des § 33 SGB V. Gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen.

Bei der Klägerin liegen Krankheit und Behinderung vor. Nach den Feststellungen der gerichtlich beauftragten Sachverständigen Dr. B leidet die Klägerin seit Geburt an einer genetisch bedingten, an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit, an genetisch bedingter Mitochondropathie (zunehmende Muskelschwäche) mit beinbetonter spastischer Tetraparese, sowie an einer Hirnstammschädigung mit seit dem Jahre 2012 aufgetretenen Atem- und Schluckstörungen, welche stundenweise eine Beatmung erforderlich machen. Der Senat hat keinen Anlass, an der Richtigkeit der von der Sachverständigen erhobenen Feststellungen zu zweifeln, die zudem in Übereinstimmung mit den übrigen über die Klägerin angefertigten aktenkundigen Begutachtungen steht.

Ein von Erwachsenen zu nutzendes Dreirad ist Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V (BSG v. 15. März 2018 – B 3 KR 4/16 R - juris Rn 48). Er gehört zu den im Hilfsmittelverzeichnis (§ 139 SGB V) gelisteten Gegenständen. Ein Dreirad ist weder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen noch ein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Im Erwachsenenalter bedienen sich eines Dreirads üblicherweise nur kranke oder behinderte Personen, denen aus gesundheitsbedingten Gründen das Halten des Gleichgewichts schwerfällt, nicht aber auch nichtbehinderte Menschen in größerer Zahl.

Ein Hilfsmittel ist zur Sicherung des Erfolgs einer Krankenbehandlung (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Variante 1 SGB V) erforderlich, wenn es spezifisch im Rahmen ärztlich verantworteter Krankenbehandlung eingesetzt wird, um zu ihrem Erfolg beizutragen. Dafür reicht nicht jedwede gesundheitsfördernde Betätigung aus. Ausreichend ist insbesondere nicht eine Gesundheitsförderung, die sich darin erschöpft, dass die körperliche Leistungsfähigkeit verbessert wird, Restfunktionen des behinderten Menschen mobilisiert, Ausdauer und Belastungsfähigkeit erhöht werden sowie die Krankheitsbewältigung erleichtert wird. Erforderlich ist ein enger Zusammenhang mit einer andauernden auf einem ärztlichen Therapieplan beruhenden Behandlung. Dieser ist zum einen gegeben, wenn ein Versicherter dauerhaft Maßnahmen der physikalischen Therapie erhält, welche die durch das begehrte Hilfsmittel unterstützte eigene körperliche Betätigung wesentlich fördern. Er ist auch gegeben, wenn die Behandlungsfrequenz durch die Verwendung des Hilfsmittels sinken würde (BSG v. 15. März 2018 – B 3 KR 4/16 R - juris Rn 43; v. 18. Mai 2011 – B 3 KR 10/10 R - juris Rn 11).

Auf der Grundlage der Ausführungen der Sachverständigen Dr. B kann der Senat einen solchen engen Bezug des Therapiedreirads zur ärztlich veranlassten Behandlung der Klägerin nicht feststellen. Auf die Fragen des Senats, ob das Therapiedreirad zur Sicherung und Unterstützung der ärztlichen Behandlung der Klägerin benötigt wird und nach den therapeutischen Effekten des begehrten Hilfsmittels hat Frau Dr. B ausgeführt, dass weitere Bewegungsübungen grundsätzlich sinnvoll seien, die auch im Rahmen der Nutzung eines Therapiedreirads erfolgen könnten. Zweimal wöchentlich erfolge bereits Ergotherapie, die Klägerin führe zahlreiche weitere Übungen durch. Die Klägerin wünsche sich ein Therapiedreirad. Nach der Erfahrung sei davon auszugehen, dass als angenehm empfundene Bewegungsübungen häufiger durchgeführt würden als andere. Auch erhoffe die Klägerin durch einen vermehrten Aufenthalt im Freien positive Auswirkungen auf die Lungenfunktion.

Diese Betonung der allgemeinen gesundheitsfördernden Effekte der Benutzung eines Dreirads widerspricht nicht den Erläuterungen und Einschätzungen der Ärzte, welche das Hilfsmittel verordnet haben bzw. die Verordnung unterstützen. Herr Dr. L hat seine Verordnung am 15. November 2011 gegenüber der Beklagten damit begründet, dass das Dreirad der Klägerin Mobilität und die Teilnahme am öffentlichen Leben ermögliche. Dr. M hält ein Therapiefahrrad aus orthopädischer Sicht für sinnvoll, Frau K das Fahren mit dem Dreirad für sehr hilfreich und Frau P meint, dass die Benutzung eines Dreirads der Klägerin wesentlich erleichtern würde, Mobilität und Selbständigkeit weitgehend zu erhalten. Diesen Stellungnahmen lässt sich nicht entnehmen, dass das Therapiedreirad als Bestandteil einer ärztlich initiierten, angeleiteten und überwachten Therapie verordnet worden ist. Dagegen spricht schon die zeitliche Abfolge. Dr. L hat die Verordnung am 16. August 2010 ausgestellt, nachdem die Klägerin ein Dreirad am 5. August 2010 bereits angeschafft hatte.

Auch unter Einbeziehung der weiteren Entwicklung gibt es keinen hinreichenden Zusammenhang mit der ärztlich verantworteten Behandlung der Klägerin. Die Sachverständige Frau Dr. B hat ihr Gutachten auf der Basis des aktuellen Stands der Behandlung der Klägerin erstellt. Danach hat die Klägerin mittlerweile zwar dauerhaft Anspruch auf Maßnahmen der physikalischen Therapie in der Form der Ergotherapie. Insoweit könnte ein therapeutischer Einsatz des Dreirads möglich sein. Weiter ist davon auszugehen, dass die der Klägerin gewährte Ergotherapie entsprechend ihrer Zweckbestimmung (vgl. § 35 Heilmittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses) dem Erhalt der bei der Klägerin trotz Behinderung noch vorhandenen motorischen Fähigkeiten dient. Nicht erkennbar ist aber, dass die Ergotherapie Fähigkeiten fördert, welche erst durch die Benutzung des Dreirades abgerufen würden. Die Sachverständige verneint, dass die mit der Nutzung des Therapiedreirads einhergehende spezielle Art der Beanspruchung der körperlichen Leistungsfähigkeit besondere Effekte für Gesundheit und Leistungsvermögen hervorrufen könnten. Sie beschreibt für die Verwendung des Therapiedreirads lediglich eine allgemein gesundheitsfördernde Tendenz, die aber ebenso auch durch andere Bewegungsübungen erreicht werden könnte. Als möglicher Vorteil der Verwendung eines Therapiedreirads wird einzig herausgestellt, dass die Klägerin sich ein solches Hilfsmittel wünsche und zu erwarten sei, dass angenehme Bewegungen häufiger durchgeführt würden als andere, die Missbehagen verursachten. Daraus ergibt sich schon deswegen keine medizinische Indikation zur Versorgung mit dem begehrten Hilfsmittel, weil nicht erkennbar ist, dass bei der Klägerin zurzeit ein Bewegungsdefizit besteht. Die Sachverständige legt dar, dass die Klägerin bereits jetzt neben der zweimal wöchentlich erfolgenden Ergotherapie zahlreiche gymnastische Übungen durchführe und auch mit dem Rollator regelmäßig trainiere. Insoweit ist nicht erkennbar, dass erst die Versorgung mit einem Therapiedreirad die Klägerin motivieren würde, die ihr verbliebenen körperlichen Fähigkeiten auch einzusetzen, deren Erhalt das wesentliche Ziel der ärztlich verordneten Maßnahmen der physikalischen Therapie ist. Die Frage, ob die Klägerin durch Verweigerung anderer zumutbarer Bewegungsmöglichkeiten einen Anspruch auf Versorgung mit einem Therapiedreirad begründen könnte, stellt sich danach nicht.

Aus dem Wunsch der Klägerin nach der Versorgung mit einem Therapiedreirad kann sich im Rahmen ihres Wunsch- und Wahlrechts (§§ 33 SGB I, 8 Abs. 1 SGB IX) ein Anspruch ergeben, wenn sich die Versorgung als wirtschaftliche Alternative zu anderen Formen der Krankenbehandlung darstellt. Dann müsste sich etwa die Häufigkeit der Ergotherapie durch die Verwendung des Therapiedreirads reduzieren lassen. Dafür lässt sich dem von Frau Dr. B erstatteten Gutachten nichts entnehmen. Frau Dr. B beschreibt das Therapiedreirad im Gegenteil als weitere Bewegungsmöglichkeit, ohne dass deswegen aber auf andere Bewegungsübungen verzichtet werden oder gar die Ergotherapie reduziert werden könnte. Das ist auch deswegen nachvollziehbar, weil die Klägerin nur sehr reduzierte Einsatzmöglichkeiten für das Therapiedreirad hat. Die Sachverständige hat unwidersprochen festgestellt, dass die Klägerin nicht in der Lage sei, das Dreirad im allgemeinen Straßenverkehr zu nutzen. Zudem könne unerwartet Luftnot oder Übermüdung auftreten, was eine weitere Nutzung des Dreirads ausschließe. Schon danach erscheint es fernliegend, dass die Klägerin das Dreirad vorhersehbar und regelmäßig zu Bewegungsübungen nutzen könnte, welche andere von der Beklagten zu finanzierende Therapieformen entbehrlich machen würden.

Das Therapiedreirad ist auch nicht als Hilfsmittel zur Vorbeugung vor einer weiteren Behinderung (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Variante 2 SGB V) anzusehen. Liegt bereits eine Behinderung vor, besteht Anspruch auf Versorgung mit einem Hilfsmittel, wenn sein Einsatz die Verschlimmerung einer bestehenden oder das Hinzutreten einer weiteren Behinderung abwenden kann (BSG v. 7. Mai 2020 - B 3 KR 7/19 R). Solchen Zwecken soll das Therapiedreirad hier nicht dienen. Soweit die Klägerin im Verwaltungsverfahren zunächst noch ausgeführt hatte, durch die Verwendung eines Dreirads die Notwendigkeit der Benutzung eines Rollstuhls abwenden zu können, hat sich das durch Zeitablauf erledigt, weil sich der Zustand der Klägerin im Jahr 2012 entscheidend verschlechterte, was sich daran zeigte, dass im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt Pflegebedürftigkeit eintrat. In der jetzigen gesundheitlichen Situation besteht kein konkretes Risiko, dass sich die bestehende Behinderung erneut verschlechtert oder eine weitere Behinderung hinzutritt. Nach den Feststellungen der gerichtlich beauftragten Sachverständigen Dr. B hat sich der Zustand der Klägerin nach der im Jahr 2012 eingetretenen Verschlechterung langsam gebessert und ist seit mehreren Jahren in etwa unverändert. Anspruch auf Versorgung mit einem Therapiedreirad besteht weiter nicht unter dem Gesichtspunkt des Ausgleichs einer Behinderung (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Variante 3 SGB V). Ein Hilfsmittel dient dem Ausgleich einer Behinderung, wenn es die durch den regelwidrigen Zustand bedingte Funktionsbeeinträchtigung ausgleichen, mildern, abwenden oder in sonstiger Weise günstig beeinflussen will (BSG v. 15. März 2018 – B 3 KR 4/16 R - juris Rn 31). Der Umfang des von der gesetzlichen Krankenversicherung durch Hilfsmittel zu gewährenden Behinderungsausgleichs bestimmt sich nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 17. Dezember 2009 – B 3 KR 20/08 R) danach, ob eine Leistung des unmittelbaren oder des mittelbaren Behinderungsausgleichs beansprucht wird. Ein unmittelbarer Ausgleich der Behinderung wird bewirkt, wenn das Hilfsmittel die ausgefallene Körperfunktion ersetzt oder ihren Verlust weitgehend ausgleicht. Im Rahmen des unmittelbaren Behinderungsausgleichs schuldet die gesetzliche Krankenversicherung einen möglichst vollständigen Ausgleich der Behinderung im Sinne eines Gleichziehens des behinderten Menschen mit den Fähigkeiten eines gesunden Menschen. Die Grenze der Leistungsverpflichtung wird erst erreicht, wenn weitere Gebrauchsvorteile zwar noch möglich sind, sie aber nicht mehr wesentlich erscheinen. Dagegen liegt ein nur mittelbarer Behinderungsausgleich vor, wenn die ausgefallene Körperfunktion nicht weitgehend ersetzt werden kann, sondern lediglich die Folgen des Ausfalls für den Betroffenen abgemildert werden. Insoweit ist die Krankenversicherung nur leistungspflichtig, wenn Auswirkungen der Behinderung beseitigt werden, welche Grundbedürfnisse des täglichen Lebens betreffen (vgl. zum Ganzen Pitz in: jurisPK SGB V, 4. Aufl., § 33 Rn 31-34).

Ein Dreirad ist ein Hilfsmittel, das nur dem mittelbaren Behinderungsausgleich dient. Denn es kann ausgefallene Körperfunktionen als solche nicht weitgehend wiederherstellen, sondern nur der Kompensation der Folgen des Ausfalls für den Versicherten dienen. Für die Grenze der Leistungspflicht der Beklagten kommt es deswegen darauf an, ob das Dreirad der Klägerin bei der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse des täglichen Lebens einen wesentlichen Gebrauchsvorteil verschaffen würde. Nach der neueren Rechtsprechung des BSG reicht dafür bereits aus, wenn das begehrte Hilfsmittel wesentlich dazu beitragen oder zumindest maßgebliche Erleichterung bringen würde, den Nahbereich im Umfeld der Wohnung in zumutbarer Weise zu erschließen (BSG v. 7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 R). Davon kann sich der Senat auf der Grundlage der Feststellungen der Sachverständigen Dr. B aber nicht überzeugen. Frau B hat ausgeführt, dass die Klägerin bereit mit einem Elektrorollstuhl versorgt ist, der ihr die weitgehend selbständige Erschließung des Nahbereichs ihrer Wohnung erlaubt. Die Sachverständige führt aus, dass die Versorgung mit einem Dreirad anstelle des Rollstuhls keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung der Situation der Klägerin bewirken würde, weil sie bei unerwartet auftretender Ermüdung oder Luftnot das Dreirad nicht mehr nutzen könne. Das bedeutet, dass sie unvorhersehbar in einen Zustand der Hilflosigkeit gerate könnte. Damit steht fest, dass das Therapiedreirad der Klägerin keine zusätzlichen Vorteile im Hinblick auf die Erschließung des Nahbereichs im Umfeld ihrer Wohnung bringen würde. Entsprechend besteht kein Anspruch auf Versorgung mit dem Dreirad zum Ausgleich der bestehenden Behinderung.

Schließlich vermag der Senat auch nicht zu erkennen, dass die Klägerin Anspruch auf Versorgung mit einem Dreirad unter dem Gesichtspunkt der Eingliederungshilfe (Leistung zur sozialen Teilhabe nach § 113 SGB IX) haben könnte. Zwar wäre die Beklagte als erstangegangener Rehabilitationsträger auch zur Entscheidung über den Antrag unter diesem Gesichtspunkt zuständig, da das Bezirksamt T-S als Träger der Sozialhilfe die Übernahme abgelehnt hat (vgl. dazu BSG v. 15. März 2018 – B 3 KR 4/16 R - juris Rn 50). Voraussetzung eines Leistungsanspruchs ist insoweit die Eignung und die Erforderlichkeit der begehrten Leistung für die Integration des behinderten Menschen in die Gemeinschaft oder Gesellschaft (Luthe in jurisPK SGB IX, 3. Aufl., § 113 Rn. 33). Vorliegend ist nicht ersichtlich, dass durch die Verwendung eines Dreirads der Klägerin eine weitergehende Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht würde. Die Möglichkeiten der Klägerin, das Dreirad tatsächlich zu verwenden, sind nach den Ausführungen der Sachverständigen Dr. B sehr begrenzt. Eine Teilnahme am allgemeinen Straßenverkehr ist ihr nicht möglich. Nach § 2 Fahrerlaubnis-Verordnung darf, wer sich infolge körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen nicht sicher im Verkehr bewegen kann, am Verkehr nur teilnehmen, wenn Vorsorge getroffen ist, dass er andere nicht gefährdet. Nach den Feststellungen der Sachverständigen ist der Klägerin eine gefahrlose Teilnahme am Straßenverkehr nur möglich, wenn sie sich auf Spazierfahrten in der näheren Umgebung unter Benutzung von Fahrradwegen und den Besuch eines 1 km von ihrer Wohnung entfernten Einkaufszentrums beschränkt. Zudem hält die Sachverständige eine ständige (nichtmedizinische) Begleitperson für erforderlich. Nur in diesem Rahmen darf die Klägerin ein Therapiedreirad benutzen. Die ihr durch die Versorgung mit einem solchen Rad eröffneten weiteren Möglichkeiten betreffen somit einen sehr engen Bereich der Lebensgestaltung. Sie beinhalten keine qualitative Änderung der Situation der Klägerin in Richtung auf eine verstärkte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft hin. Es ist schon nicht ersichtlich, dass eine verstärkte Teilnahme an Aktivitäten innerhalb der Familie möglich werden würde. Die Klägerin hat nichts dazu vorgetragen, wieso sich aus der Benutzung eines Dreirads mehr Integration ergeben könnte.

Der Senat hat keine Veranlassung gesehen, dem hilfsweise für die Klägerin gestellten Antrag zu folgen und ein weiteres Gutachten einzuholen bzw. die gerichtlich beauftrage Sachverständige zum aktuellen Stand des Therapieplans zu befragen. Dieser Antrag ist kein eigentlicher Beweisantrag, sondern ein sogenannter Beweisermittlungsantrag, weil aus ihm nicht deutlich wird, was sich aus der Beweisaufnahme ergeben soll. Weitere Beweiserhebungen erscheinen nicht angezeigt. Die Sachverständige Dr. B ist vom Senat bereits nach den möglichen therapeutischen Effekten einer Versorgung der Klägerin mit einem Therapiedreirad befragt worden (Frage 2 zur Beweisanordnung vom 12. November 2019). Es ist weder ersichtlich noch vorgetragen, dass die Antwort der Sachverständigen unzureichend oder falsch sein könnte oder dass in der Zwischenzeit wesentliche Änderungen eingetreten sind. Soweit die Bevollmächtigte der Klägerin auf einen "aktuellen Therapieplan" abstellt, regt sie eine Beweiserhebung "ins Blaue" an, weil sie selbst keine Kenntnis davon behauptet, dass sich die Behandlung der Klägerin gegenüber den von der Sachverständigen getroffenen Feststellungen geändert haben könnte.

Nach alledem war die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 3. Dezember 2018 zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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