L 23 SO 150/20 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
23
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 88 SO 974/20 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 23 SO 150/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. August 2020 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren ab dem 12. August 2020 ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt L A, K, B, beigeordnet.

Gründe:

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. August 2020 ist – soweit Leistungen ab dem 5. Mai 2020 bis zum bis 15. Juni 2020 begehrt werden – unzulässig, für die Zeit ab 16. Juni 2020 ist sie zulässig, insbesondere nach § 173 SGG form- und fristgerecht eingelegt worden, aber unbegründet.

Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist der Beschluss des Sozialgerichts, mit dem es den Antrag des Antragstellers, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Leistungen zum Lebensunterhalt gemäß § 23 Abs. 3 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) (sogenannte Überbrückungsleistungen) in gesetzlicher Höhe über den 6. Mai 2020 hinaus bis zu einem in das Ermessen des Gerichts gestellten Zeitpunkt zu gewähren, abgelehnt hat. Der Anspruch stellt im Verhältnis zu dem Anspruch auf laufende Leistungen nach dem SGB XII einen eigenständigen Streitgegenstand dar (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 13. Februar 2017, L 23 SO 30/17 B ER unter Bezugnahme auf SG Dortmund, Beschluss vom 31. Januar 2017, S 62 SO 628/16 ER; Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16. März 2017, L 19 AS 190/17 B ER, juris, Rn. 41).

Soweit Leistungen gemäß § 23 Abs. 3 SGB XII für die Zeit über den 6. Mai 2020 hinaus begehrt werden, ist die Beschwerde für die Zeit bis zum 15. Juni 2020 bereits mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Denn der Antragsgegner ist bereits mit rechtskräftigem Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. Mai 2020 (S 212 SO 600/20 ER) im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet worden, dem (nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII von Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII mangels materiellen Aufenthaltsrechts ausgeschlossenen) Antragsteller, lettischer Staatsangehörigkeit, vorläufig für den Zeitraum vom 6. Mai 2020 bis zum 5. Juni 2020 Leistungen nach dem § 23 Abs. Satz 5 SGB XII zu gewähren. Das hat der Antragsgegner umgesetzt und dem Antragsteller darüber hinaus (wegen der pandemiebedingt (SARS-CoV-2) fehlenden Rückkehrmöglichkeit nach Lettland) mit Bescheid vom 29. Mai 2020 auch für die Zeit vom 6. Juni 2020 bis 15. Juni 2020 (voraussichtliche Öffnung der EU-Außengrenzen) weitere Überbrückungsleistungen bewilligt. Kosten der Unterkunft wurden dem Antragsteller bereits seit dem 7. April 2020 bis 15. Juni 2020 bewilligt.

Soweit Leistungen gemäß § 23 Abs. 3 SGB XII über den 15. Juni 2020 hinaus begehrt werden, ist die Beschwerde zulässig, aber unbegründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft zu machen.

Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Gewährung von weiteren Leistungen aufgrund der Härtefallregelung des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII nicht glaubhaft gemacht.

Das Sozialgericht hat es insoweit zu Recht abgelehnt, die begehrte einstweilige Anordnung zu erlassen.

Nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII werden, soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, Leistungsberechtigten nach Satz 3 des § 23 Abs. 3 SGB XII zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen im Sinne von Absatz 1 des § 23 SGB XII gewährt (§ 23 Abs. 3 Satz 6 Halbsatz 1 SGB XII); ebenso sind Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist (§ 23 Abs. 3 Satz 6 Halbsatz 2 SGB XII). Die Härtefallregelung knüpft nach Wortlaut und Systematik an die Gewährung von Überbrückungsleistungen an und erlaubt im Einzelfall ihre Modifizierung im Hinblick auf Art, Umfang und Dauer der Leistungsgewährung (so zutreffend Sozialgericht (SG) Dortmund, Beschluss vom 31. Januar 2017 - S 62 SO 628/16 ER -, juris, Rn. 44; vgl. auch die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vom 13. Oktober 2016, Drs. 587/16, S. 11). Sie stellt sicher, dass innerhalb der Leistungsfrist von einem Monat - des Zeitraums der Gewährung von Überbrückungsleistungen - auch über das gewährte Niveau der vorgesehenen Überbrückungsleistungen hinausgehende Bedarfe, wie zum Beispiel für Kleidung gedeckt werden können, soweit dies im Einzelfall zur Überwindung einer besonderen Härte erforderlich ist (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, a. a. O., S. 11). Ebenso können bei Vorliegen besonderer Umstände Bedarfe, die entstehen, soweit im Einzelfall eine Ausreise binnen eines Monats nicht möglich oder zumutbar ist (z. B. krankheitsbedingte Reiseunfähigkeit), gedeckt werden (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, a. a. O., S. 11).

Unabhängig davon, ob Voraussetzung dieser von der Hilfe zum Lebensunterhalt und der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 3. und 4. Kapitel SGB XII zu unterscheidenden Leistung zur Überbrückung die positive Feststellung eines Ausreisewillens ist (so Beschluss des Senats vom 13. Februar 2017, L 23 SO 30/17 B ER und vom 7. Januar 2019, L 23 SO 279/18 B ER, beide juris; ebenso Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 24. April 2017, L 8 SO 77/17 B ER, juris; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. November 2019, L 7 SO 3873 ER-B und Urteil vom 7. November 2019, L 7 SO 934/19, beide juris; Schlette in Hauck/Noftz, § 23 SGB XII Rn. 86a; abl. u. z. Meinungsstand Siefert in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl., § 23, Rn. 99), hat der Antragsteller vorliegend, durch Beantragung allein der Überbrückungsleistungen, die gerade nur bis zu einer Ausreise gewährt werden, zum Ausdruck gebracht, dass er eine Ausreise (wohl) beabsichtigt, zumindest aber eine Ausreisebereitschaft besteht. Sein Vortrag im Beschwerdeverfahren, er könne in Lettland seine Miete nicht zahlen und habe dort auch keine Kontakte zu Familienangehörigen vermag Gegenteiliges nicht zweifelsfrei zu begründen.

Leistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII sollen auch über die Härtefallregelungen nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII nicht einen dauerhaften Leistungsbezug ermöglichen, denn mit den Leistungen soll nur ein vom Gesetzgeber unterstellter kurzer Zeitraum bis zu einer Ausreise – im Grundsatz nur einmalig in zwei Jahren für einen Monat – abgesichert werden (vgl. auch LSG Baden-Württemberg vom 28. März 2018, L 7 AS 430/18 ER-B, juris, Rn. 18; BT-Drs. zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch18/10211, S. 16 f.). Überbrückungsleistungen sind nur bis zu dem Zeitpunkt zu gewähren, ab dem der Antragsteller in der Lage ist – ggf. mit Begleitung – nach Lettland zu reisen, um dort ggf. weitere existenzsichernde Leistungen (oder notwendige Krankenbehandlungen) in Anspruch zu nehmen. Soweit sich der Antragsteller eigenen Angaben zufolge nur mit einem Rollstuhl fortbewegen kann, genügt dieser Umstand nicht für die Annahme einer krankheitsbedingten Reiseunfähigkeit. Anderes ist nicht glaubhaft gemacht.

Soweit der Antragsteller, insbesondere unter Hinweis auf die Entscheidung des 15. Senats des LSG Berlin-Brandenburg vom 11. Juli 2019, L 15 SO 181/18, und LSG Hessen vom 1. Juli 2020, L 4 SO 120/18, sinngemäß meint, er habe "bis zur Aberkennung eines Aufenthaltsrechts (gemeint ist mit Blick auf die Entscheidung des 15. Senats: durch bestandskräftige und weiterhin wirksame Ausweisungsverfügung der Ausländerbehörde) einen Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 3 (Satz 6) SGB XII", vermag der Senat dieser Auffassung nicht zu folgen. Der 15. Senat begründet seine Auffassung, wonach im Fall fehlender vollziehbarer Ausreisepflicht generell von einem Härtefall auszugehen ist, zum einen damit, dass bei dieser Auslegung der Charakter der Leistung als zeitlich befristet erhalten bleibe. Denn die Leistungen begründende Bedarfslage nach § 23 Abs. 3 Satz 6 Halbs. 2 SGB XII n.F. ende, sobald die Ausländerbehörde tätig geworden sei und eine Unionsbürgerin oder ein Unionsbürger vollziehbar zur Ausreise verpflichtet sei. Es sei nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber sehenden Auges einen vollständig leistungslosen Zustand über mehrere Jahre Dauer habe hinnehmen wollen. Ebenso wenig könne unterstellt werden, dass er den Zugang zu regulären Leistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII letztlich davon habe abhängig machen wollen, dass Unionsbürger ein vom Gesetzgeber nicht gewünschtes Verhalten zeigen (indem sie sich nicht der vom Gesetzgeber leistungsausschließend unterstellten Selbsthilfemöglichkeit der Rückkehr in das Heimatland bedienten).

Dieser Auslegung des Begriffs der "besonderen Härte" vermag sich der erkennende Senat nicht anzuschließen, weil mit einer solchen Auslegung die Grenze einer verfassungskonformen Auslegung überschritten würde. Die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung endet dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch träte. Das Ergebnis einer verfassungskonformen Auslegung muss mithin nicht nur vom Wortlaut des Gesetzes gedeckt sein, sondern auch die prinzipielle Zielsetzung des Gesetzgebers wahren. Das gesetzgeberische Ziel darf nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht werden (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 16. Dezember 2014, 1 BvR 2142/11, juris, Rn. 86). Die Anwendung und Auslegung der Gesetze durch die Gerichte steht mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) nur in Einklang, soweit sie sich in den Grenzen vertretbarer Auslegung und zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung bewegt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Juni 2018, 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, juris, Rn. 72, m.w.N.). Die Gerichte müssen dabei die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Juni 2018, 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, juris, Rn. 73f, m.w.N.).

Davon ausgehend ist der Wortlaut des § 23 Abs. 3 Satz 3 und 6 SGB XII nach Auffassung des Senats eindeutig: Eine Leistung über einen Monat hinaus soll ausschließlich "im Einzelfall" "zur Überwindung einer besonderen Härte" erfolgen. Eine besondere Härte kann sich nach dem eindeutigen Wortlaut nur aus Tatsachen im Einzelfall ergeben, nicht hingegen aus Erwägungen heraus, die für einen verallgemeinerten Personenkreis einen Anspruch begründen (ebenso: Kellner, NZS 2019, 874). Mit dem LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 7. November 2019, L 7 SO 934/19, juris, Rn. 50) ist auch der Senat der Auffassung, dass mithin das Nichthandeln einer Ausländerbehörde in zahlreichen Fällen keine Tatsache ist, die bei dem einzelnen Ausländer eine besondere Härte begründen kann. Im Wortlaut des § 23 Abs. 3 Satz 3 und 6 SGB XII kommt zudem der in der Gesetzesbegründung eindeutig formulierte Wille des Gesetzgebers zum Ausdruck, (auch) EU-Ausländer unter den in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII genannten Voraussetzungen vom Leistungsanspruch auszunehmen sowie Leistungen nur im (eng verstandenen) Härtefall und auch dann nur in engen zeitlichen Grenzen zu gewähren (s. BT-Drucksache 18/10211, S. 1 f., 15 zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch; s.a. BT-Drucksache 18/10211, S.17: "Hierbei handelt es sich um eine Regelung, die lediglich bei Vorliegen besonderer Umstände eingreift, um im Einzelfall für einen begrenzten Zeitraum unzumutbare Härten zu vermeiden, nicht um eine Regelung, mit der ein dauerhafter Leistungsbezug ermöglicht wird. Von einer Unmöglichkeit der Ausreise ist insbesondere auszugehen, wenn eine amtsärztlich festgestellte Reiseunfähigkeit vorliegt."; s.a. SG Darmstadt, Beschluss vom 14. Januar 2020, S 17 SO 191/19 ER, juris ). Dieser Wille würde unterlaufen, wenn im Rahmen der Härtefallregelungen des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII gleichwohl ein letztlich zeitlich unbeschränkter Leistungsanspruch etabliert würde, der vom Handeln der Ausländerbehörde oder etwa der Dauer verwaltungsgerichtlicher Hauptsacheverfahren abhängig wäre (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 7. November 2019, L 7 SO 934/19, a.a.O., Rn. 53). Eine solche Auslegung liefe zumindest auch § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII entgegen, wonach ein Anspruchsausschluss erst nach fünf Jahren endet. Einen Härtefall wegen Nichthandelns der Ausländerbehörde schon vor Ablauf der fünf Jahre anzunehmen, ist daher bedenklich.

Indem dem Antragsteller damit dem Grunde nach existenzsichernde Leistungen verwehrt werden, wird das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfG, Urteil vom 5. November 2019, 1 BvL 7/16, in BVerfGE 142, 353) indes nicht verletzt (vgl. schon Beschluss des Senats vom 7. Januar 2019, L 23 SO 279/18, juris; vgl. Birk in Bieritz-Harder/Conradis/Thie, SGB XII, 12. Auflage, § 23 Rn. 48).

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren liegen vor (§ 73a SGG i.V.m. §§ 114 Zivilprozessordnung (ZPO)). Hinreichende Erfolgsaussichten sind jedenfalls mit Blick auf die nicht einfache Rechtslage zu bejahen.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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