L 16 R 139/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 7 R 2074/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 R 139/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. Februar 2019 wird zurückgewiesen. Die Kläger tragen auch die Kosten des Berufungsverfahrens. Die Revision wird nicht zugelassen. Der Streitwert wird für beide Instanzen auf jeweils 5.000,- EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen früheren Beginn der Regelaltersrente (RAR) der am 16. Dezember 2011 verstorbenen Versicherten H K, deren Erben die Kläger sind.

Die 1916 bzw 1920 in Polen geborene, im Dezember 1950 in die Vereinigten Staa-ten von Amerika ausgewanderte Versicherte war anerkannte Verfolgte des Natio-nalsozialismus. Sie hatte bei der Beklagten im Januar 2009 einen Antrag auf RAR unter Berücksichtigung von im Ghetto B zurückgelegten Ghetto-Beitragszeiten von Januar 1940 bis April 1942 nach dem am 1. Juli 1997 in Kraft getretenen Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) ge-stellt. Unter Berücksichtigung der genannten Ghetto-Beitragszeiten und von Ersatz-zeiten von Mai 1942 bis Dezember 1946 bewilligte die Beklagte RAR für die Zeit ab 1. Januar 2009 (Bescheid vom 27. September 2010 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 1. Dezember 2011). Nach In-Kraft-Treten des ZRBG-Änderungsgesetzes gewährte die Beklagte im anschließenden Klageverfahren (Sozialgericht (SG) Berlin - S 4 R 6844/11 -) RAR auch für die Zeit vom 1. Juli 1997 bis 31. Dezember 2011 (Bescheid vom 30. Juni 2015). Die Beteiligten erklärten das Verfahren für erledigt und verglichen sich dahingehend, dass die Beklagte hinsicht-lich des im Klageverfahren geltend gemachten Rentenbegehrens für den Zeitraum vom 1. März 1981 (Vollendung der Regelaltersgrenze) bis 30. Juni 1997 eine Ver-waltungsentscheidung trifft.

Mit Bescheid vom 4. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2016 lehnte die Beklagte eine Altersrentenzahlung für den genannten Zeit-raum ab, da das ZRBG eine Rentenzahlung frühestens ab 1. Juli 1997 ermögliche. Das SG Berlin hat die zuletzt auf Zahlung von RAR für die Zeit ab 1. Januar 1984 nach Maßgabe der (bis 31. Dezember 1991 geltenden) Reichsversicherungsord-nung bzw des Angestelltenversicherungsgesetzes beschränkte Klage der Erben der Versicherten abgewiesen (Urteil vom 4. Februar 2019). Zur Begründung ist ua aus-geführt: Eine Rentenzahlung aufgrund des ZRBG komme erst ab 1. Juli 1997 in Betracht. Die Fiktionswirkung des § 2 ZRBG reiche nicht soweit, dass die fiktiven Ghetto-Beitragszeiten bereits zum Zeitpunkt der Vollendung des 65. Lebensjahres der Versicherten als zurückgelegt gälten. Dies folge auch aus der Fiktion der Warte-zeiterfüllung für die Ermittlung des Zugangsfaktors in § 3 Abs. 2 ZRBG.

Mit der Berufung verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Durch die Fiktion des § 2 ZRBG habe die Versicherte Bundesgebiets-Beitragszeiten in Gestalt der Ghetto-Beitragszeiten bereits bei Vollendung ihres 65. Lebensjahres zurückgelegt gehabt. Sie habe damit mit Ablauf des 31. Dezember 1983 die allgemeine Wartezeit für ein Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 5 RVO für die Zeit ab 1. Januar 1984 erfüllt und Anspruch auf Rente ab diesem Zeitpunkt gehabt.

Die Kläger beantragen nach ihrem Vorbringen,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. Februar 2019 und den Bescheid der Beklagten vom 4. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, für die ver-storbene Versicherte Regelaltersrente für die Zeit ab 1. Januar 1984 zu zah-len.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Kläger, die den hier streitigen Altersrentenanspruch der Versi-cherten mangels Sonderrechtsnachfolge iSv § 56 Abs. 1 Sozialgesetzbuch – All-gemeiner Teil – (SGB I) als Erben gemäß den § 1922 ff Bürgerliches Gesetzbuch (vgl § 58 SGB I) geltend machen, ist nicht begründet und daher zurückzuweisen.

Der Bescheid vom 4. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2016 ist rechtmäßig. Die Beklagte hat das Begehren der Kläger zu Recht abgelehnt. Der Versicherten war keine RAR nach Vollendung ihres 65. Lebensjah-res (vgl zu dieser Begrifflichkeit auch bei Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 5 RVO § 300 Abs. 4 Satz 2 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – SGB VI) bereits ab 1. Januar 1984 zu gewähren. Die für das genannte Altersruhegeld bzw für eine RAR erforderliche allgemeine Wartezeit von 60 Monaten hatte die Versi-cherte erst mit In-Kraft-Treten des ZRBG erfüllt. Ob die im Ghetto B (O) zurückgeleg-ten Zeiten als Beitrags- bzw Beschäftigungszeiten schon nach dem FRG berück-sichtigungsfähig waren, kann dabei dahinstehen. Denn ein zahlbarer Rentenan-spruch für die Zeit vor dem 1. Juli 1997 folgte hieraus nicht (vgl § 18 Abs. 1 und 2 Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung), weil die Versicherte Deutschland erst im Dezember 1950 verlassen hat. Zudem haben die Kläger selbst vorgetragen, dass die Versicherte die persönlichen Voraussetzungen für die Berücksichtigung von Fremdbeitragszeiten (vgl §§ 1, 17a Fremdrentengesetz) nicht erfüllt hatte.

Die Versicherte hatte zwar Ghetto-Beitragszeiten nach dem ZRBG in der Zeit von Januar 1940 bis April 1942 zurückgelegt. Diese sind indes nicht uneingeschränkt so zu behandeln, als seien die Beiträge bereits unter Geltung der RVO entrichtet worden, und damit reiche die Fiktion ihrer Entstehung in jeder Hinsicht und somit die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit bereits in das Jahr 1984 (und für die Ent-stehung der Beiträge darüber hinaus) zurück. Denn die Beitragsfiktion nach § 2 Abs. 1 ZRBG (idF vom 20. Juni 2002, BGBl I 2074, in Kraft getreten mWv 1. Juli 1997 gilt (nur) für die Berechnung der Rente als Beiträge nach den Reichsversiche-rungsgesetzen für eine Beschäftigung außerhalb des Bundesgebiets (Nr 1) sowie für die Erbringung von Leistungen ins Ausland als Beiträge für eine Beschäftigung im Bundesgebiet. Für den Rentenbeginn trifft § 3 Abs. 1 ZRBG eine eigenständige, von den allgemeinen Vorschriften abweichende Fiktion. Danach gilt der Rentenan-trag als am 18. Juni 1997 gestellt. Eine Rentengewährung vor dem 1. Juli 1997 kommt danach nicht in Betracht. Zwar ist den Klägern einzuräumen, dass dem An-trag unter der Geltung der RVO keine materiell-rechtliche Bedeutung für das (dama-lige) Altersruhegeld zukam. Dies ändert jedoch nichts am Vorrang des § 3 Abs. 1 ZRBG (klargestellt durch das Bundessozialgericht (BSG), das im Verfahren - B 13 R 81/08 R = SozR 4-5075 § 1 Nr 7 – Urteil vom 2. Juni 2009 – eine von der Vo-rinstanz ausgesprochene Verurteilung der Beklagten zur Altersrentengewährung an einen 1922 geborenen Versicherten bereits ab 1. Juni 1997, der ebenfalls einen Rentenanspruch nur aufgrund von Ghetto-Beitragszeiten und Ersatzzeiten erwor-ben hatte, für den Monat Juni 1997 aufgehoben hat, vgl Rn 57 aaO).

Schließlich folgt aus § 3 Abs. 2 ZRBG, dass (nur) für die Ermittlung des Zugangs-faktors die Wartezeit als mit Vollendung des 65. Lebensjahres erfüllt und die Rente wegen Alters bis zum "Rentenbeginn" als nicht in Anspruch genommen gilt (vgl hierzu ausdrücklich auch die Gesetzesbegründung in BT-Drucks 14/8602 S 7). Für den späteren Rentenbeginn erhalten die Betroffenen, die die Regelaltersgrenze schon vor dem 1. Juli 1997 erreicht hatten, einen Ausgleich in Gestalt eines höhe-ren Zugangsfaktors. Diese Regelung zeigt, dass der Gesetzgeber die Berechtigung zum Rentenbezug bereits rückwirkend ab Vollendung des 65. Lebensjahres "fin-giert", nicht aber rückwirkend einen tatsächlichen Rentenbezug bereits vor dem 1. Juli 1997 ermöglichen wollte (vgl zum Ganzen SG Lübeck, Urteil vom 18. Juni 2019 – S 6 R 219/15 – juris; die dagegen eingelegte Revision – B 13 R 14/19 R – wurde zurückgenommen). "Diejenigen Ghetto-Beschäftigten, die das 65. Lebensjahr be-reits vor dem 1. Juli 1997 vollendet hatten, erhalten damit nach den allgemeinen Grundsätzen der Rentenberechnung für jeden Monat des Nichtbezugs der Rente vom vollendeten 65. Lebensjahr an bis zum 1. Juli 1997 einen Zuschlag in Höhe von 0,5 %. Somit ergibt sich für jedes Jahr des (Nichtbezugs) der Altersrente vor dem 1. Juli 1997 sogar ein Zuschlag zur Rente von 6 % (vgl zu Protokoll gegebener Redebeitrag von Ulrike Mascher, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundes-minister für Arbeit und Sozialordnung, BT-StenBer 14. Wahlperiode, 233. Sitzung, 25. April 2002, S 23282, zu Punkt D). Ein Berechtigter, der mithin aufgrund dieses Gesetzes die Gewährung von Altersrente ins Ausland beantragt, wird durch das rückwirkende Inkrafttreten des Gesetzes zum 1. Juli 1997 folglich nicht nur so ge-stellt, als habe er im Zeitpunkt der Entscheidungen des BSG vom 18. Juni 1997 den entsprechenden Antrag gestellt; die Berechtigung zum Rentenbezug wird darüber hinaus rückwirkend ab Vollendung des 65. Lebensjahres fingiert" (so schon BSG, Urteil vom 3. Mai 2005 – B 13 RJ 34/04 R = SozR 4-2600 § 306 Nr 1 – Rn 30; darin hat das BSG im Übrigen einen Neufeststellungsanspruch gemäß § 48 SGB X im Hinblick auf ein nach Maßgabe der RVO bereits ab 1. Dezember 1991 gewährtes Altersruhegeld aufgrund des ZRBG erst mWv 1. Juli 1997 zuerkannt).

Ein Rentenzahlungsanspruch aus Ghetto-Beitragszeiten kann daher vor dem 1. Juli 1997 nicht entstanden sein.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm § 154 Abs. 2 Verwaltungsge-richtsordnung, die Streitwertfestsetzung auf § 197a SGG iVm §§ 52 Abs. 2, 63 Abs. 2 Gerichtskostengesetz.

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen im Hin-blick auf die zitierte Rechtsprechung des BSG nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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