L 13 SB 271/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 17 SB 245/18
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 271/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 12. November 2019 wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahren zur Gänze zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die 1957 geborene Klägerin wehrt sich gegen die Herabsetzung des bei ihr ursprünglich festgestellten Grades der Behinderung (GdB) von 50 auf nunmehr 20.

Mit Bescheid vom 20. April 2015 hatte der Beklagte bei der Klägerin unter Annahme einer Heilungsbewährungsdauer von 2 Jahren wegen einer Gewebeneubildung der linken Brustdrüse einen GdB von 50 festgestellt.

Im April 2016 beantragte die Klägerin die Heraufsetzung des GdB und Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches mit Merkzeichen G. Diesen Antrag beschied der Beklagte mit Bescheid vom 2. Juni 2016. Der Bescheid enthielt folgenden Tenor: "Der Grad der Behinderung (GdB) beträgt weiterhin 50. Ihr Antrag auf Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) wird abgelehnt. Ihr Antrag auf Feststellung des Merkzeichens G "erhebliche Gehbehinderung" wird abgelehnt.".

Im Februar 2017 nahm der Beklagte den Ablauf der ursprünglich angenommenen Heilungsbewährungsdauer zum Anlass für die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens. Nach Beiziehung von Befundunterlagen und Beteiligung seines ärztlichen Dienstes sowie Anhörung der Klägerin erließ der Beklagte mit Datum vom 8. September 2017 einen Neufeststellungsbescheid mit dem Tenor: "Ein GdB von wenigstens 20 wird nicht mehr erreicht, somit entfällt der Feststellungsanspruch. Diese Entscheidung ist wirksam ab Bekanntgabe dieses Bescheides. Der Bescheid vom 20. April 2015 wird entsprechend aufgehoben."

Auf den hiergegen eingelegten Widerspruch der Klägerin stellte der Beklagte weitere Ermittlungen an, in deren Ergebnis er nunmehr von einem GdB 20 ausging. Hierzu hörte er die Klägerin an und erließ sodann mit Datum vom 1. Oktober 2018 einen Widerspruchsbescheid, dessen Eingangsteil wörtlich lautete: "Auf Ihren Widerspruch gegen den Bescheid vom 8. September 2017 ergeht mit Wirkung ab 8. September 2017 folgende Entscheidung: Der GdB beträgt 20. Der Ausgangsbescheid vom 8. September 2017 wird insoweit aufgehoben. Sie gehören zum Personenkreis der Menschen mit Behinderungen. Ein Schwerbehindertenausweis steht Ihnen nicht zu. Der Widerspruch ist im Übrigen zurückzuweisen. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen im Vorverfahren sind Ihnen zu einem Fünftel zu erstatten." Hierzu stellte der Beklagte folgende Funktionsbeeinträchtigungen fest und ging dabei verwaltungsintern von dem aus dem jeweiligen Zusatz ersichtlichen Einzel-GdB aus:

- Psychische Minderbelastbarkeit (20), - Funktionsstörung der Wirbelsäule (20), - Asthma bronchiale (10), - Lungenfunktionseinschränkungen (10) sowie - Teilverlust der linken Brust (10).

Mit der am 15. Oktober 2018 erhobenen Klage hat die Klägerin die Aufhebung der Herabsetzungsentscheidung begehrt und hierzu im Wesentlichen vorgebracht, der Beklagte habe die bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen nicht zutreffend bewertet. Mit Urteil vom 12. November 2019 hat das Sozialgericht den Neufeststellungsbescheid vom 8. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Oktober 2018 aufgehoben und dem Beklagten die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin auferlegt. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Anfechtungsklage sei zulässig und auch begründet, wobei eine Prüfung und Beurteilung der gesundheitlichen Verhältnisse der Klägerin habe unterbleiben können, da der streitgegenständliche Neufeststellungsbescheid nur hätte ergehen dürfen, wenn in ihm zugleich auch der Bescheid des Beklagten vom 2. Juni 2016 über die Feststellung des GdB von 50 aufgehoben worden wäre. Daher lägen die Voraussetzungen einer Aufhebungsentscheidung gemäß § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch / Zehntes Buch (SGB X) nicht vor. Wegen der Einzelheiten wird auf das Urteil Bezug genommen, das dem Beklagten am 2. Dezember 2019 zugestellt worden ist.

Mit der am 13. Dezember 2019 eingelegten Berufung ist der Beklagte dem Urteil des Sozialgerichts entgegengetreten. Er ist der Ansicht, sein Bescheid vom 2. Juni 2016 enthalte keine eigenständige Regelung über die Feststellung eines GdB von 50 und hätte daher auch im Rahmen eines Neufeststellungsverfahrens nach § 48 Abs. 1 SGB X nicht aufgehoben werden müssen. Er beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 12. November 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten auf den gesamten Inhalt der Streitakte und des beigezogenen Verwaltungsvorganges des Beklagten Bezug genommen. Er hat vorgelegen und ist Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Über die zulässige Berufung konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung und in der Besetzung durch den Berichterstatter anstelle des gesamten Senates entscheiden, weil sich die Beteiligten mit einer derartigen Verfahrensweise einverstanden erklärt haben, §§ 153 Abs. 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sowie § 155 Abs. 3 und 4 SGG. Zwar haben einige Senate des Bundessozialgericht (BSG) in Bezug auf Angelegenheiten von grundsätzlicher Bedeutung die Ansicht vertreten, eine Ausübung des dem Gericht zustehenden Ermessens in Richtung einer Entscheidung durch den Berichterstatter sei fehlerhaft (vgl. Nachweise in Urteil vom 12. Dezember 2018, B6 KA 50/17 R Rdnr. 18f., juris), doch liegt die Sache hier insoweit anders, als beim BSG bereits mehrere Revisionsverfahren zur Klärung der hier streitentscheidenden Rechtsfrage anhängig sind und die Entscheidung auch der ständigen Rechtsprechung des 13. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg entspricht.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat den streitgegenständlichen Bescheid vom 8. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Oktober 2018 – wenn auch nur im Ergebnis – zu Recht aufgehoben, denn er ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Rechtsgrundlage für den Absenkungsbescheid ist § 48 Abs. 1, Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dem Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Bei dem ursprünglichen Bescheid vom 20. April 2015 handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Ob im Sinne der genannten Vorschrift in den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, bedarf hier jedoch keiner Prüfung, denn entgegen § 48 Abs. 1, Satz 1 SGB X wurde der Festsetzungsbescheid vom 20. April 2015 nicht mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben. Zwar sollte nach dem Verfügungsteil des Bescheides vom 8. September 2017 die Aufhebungswirkung mit Bekanntgabe des Bescheides und damit für die Zukunft eintreten, was zur Folge gehabt hätte, dass die Klägerin zwischen dem Datum des Bescheides (8. September 2017) und dem Zeitpunkt der Bekanntgabe im Sinne von § 37 SGB X noch über die Feststellung eines GdB von 50 verfügt hätte. Diese – im Grundsatz mit § 48 Abs. 1, Satz 1SGB X vereinbare – Situation hat durch die Bescheidung des Widerspruches eine maßgebliche Veränderung insoweit erfahren, als danach bei der Klägerin mit Wirkung ab dem 8. September 2017 ein GdB von nur noch 20 festgestellt und der Ausgangsbescheid vom 8. September 2017 entsprechend aufgehoben wurde. Mit dieser Regelung vom 1. Oktober 2018 wurde mithin der ursprünglich festgestellte GdB von 50 nunmehr auch für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum aufgehoben. Diese Entscheidung kann sich nicht auf § 48 SGB X stützen, denn die Voraussetzungen für eine rückwirkende Änderung des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X liegen hier offenkundig nicht vor.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats führt dies zur Aufhebung der Absenkungsentscheidung in Gänze. Eine Aufhebung nur für die Zeit vor Bekanntgabe des Bescheides vom 8. September 2017 kommt hingegen nicht in Betracht, denn die teilweise Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes setzt naturgemäß dessen Teilbarkeit voraus. Ein Bescheid, mit dem eine begünstigende Feststellung im Schwerbehindertenverfahren ganz oder teilweise aufgehoben wird, ist jedoch nicht derart in zeitlicher Hinsicht teilbar, dass einer rechtswidrig früh einsetzenden Wirkung durch Aufhebung des Bescheides nur für einen Teilzeitraum Rechnung getragen und der Bescheid im Übrigen aufrechterhalten werden könnte. Bei einem Entziehungsbescheid, der eine günstige Feststellung in einem Dauerverwaltungsakt ändert, handelt es sich seinerseits nämlich nicht um einen Dauerverwaltungsakt (so auch BSG, Urteil vom 29. April 2015, B 14 AS 10/14 R, juris). Seine Wirkung beschränkt sich darauf, den aufzuhebenden Dauerverwaltungsakt zu dem von der Behörde bestimmten Zeitpunkt ganz oder teilweise aufzuheben. Für nachfolgende Zeiträume enthält er selbst hingegen keine Regelung. Maßgeblich ist insoweit allein der ursprüngliche Dauerverwaltungsakt in der Fassung, die er durch den Absenkungsbescheid erhalten hat. Diese zeitlich punktuelle Wirkung eines Aufhebungsbescheides führt dazu, dass eine Regelung, welche die Wirksamkeit der Aufhebung erst später eintreten lässt, kein Minus gegenüber der ursprünglichen Regelung darstellt, sondern ein so genanntes Aliud. Dementsprechend ist ein Aufhebungsbescheid im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nur hinsichtlich des Umfanges der Aufhebung in sachlicher Hinsicht (also der Höhe des GdB), nicht aber in zeitlicher Hinsicht teilbar.

Soweit hingegen das Sozialgericht seine Entscheidung darauf gestützt hat, dass der Beklagte nicht auch seinen Bescheid vom 2. Juni 2015 aufgehoben habe, geht dies fehl. Zum einen fehlt es bereits an einer Darlegung, inwieweit in materieller Hinsicht die Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X davon abhängig sein sollte, dass mit ihr sämtliche vorangegangenen Feststellungen aufgehoben werden sollten, soweit sie der nunmehrigen Feststellung entgegenstehen. Das vom Sozialgericht angesprochene Problem stellt sich vielmehr im Hinblick auf das Bestimmtheitserfordernis aus § 33 Abs. 1 SGB X. Ihm könnte es widersprechen, wenn mit der Aufhebungsentscheidung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ausdrücklich lediglich ein Feststellungsbescheid aufgehoben würde, dem zeitlich nachfolgend jedoch ein weiterer Feststellungsbescheid ergangen ist, der inhaltlich mit dem Ergebnis der Aufhebungsentscheidung im Widerspruch stünde. So liegt es hier indes nicht, denn der Beklagte hat in seinem Bescheid vom 2. Juni 2015 entgegen der Ansicht des Sozialgerichts keine eigenständige Feststellung über das Vorliegen eines GdB von 50 bei der Klägerin getroffen. Angesichts der in mehrfacher Hinsicht unglücklichen Tenorierungspraxis des Beklagten war hier eine Auslegung der tatsächlich getroffenen Regelung nötig, aber auch möglich. Eine solche Auslegung hat aus dem objektiven Empfängerhorizont heraus unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des jeweiligen Verwaltungsverfahrens zu erfolgen. Nachdem die Klägerin während der Geltung eines bei ihr den GdB von 50 festsetzenden Dauerverwaltungsakts (Bescheid vom 20. April 2015) die Neufeststellung des GdB und auch die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines Nachteilsausgleiches beantragt hat, zu diesem Zeitpunkt aber die Heilungsbewährungsdauer für die zur ursprünglichen GdB-Festsetzung führenden Erkrankung nicht abgelaufen war, musste die Klägerin erkennen, dass sich der Prüfungsumfang des Beklagten im Rahmen des Neufeststellungsantrages nicht auf den GdB von 50, sondern nur auf einen höheren GdB bezog. Dementsprechend ist der Tenor des Bescheides vom 2. Juni 2016 dahingehend zu verstehen, dass nicht etwa das Bestehen eines GdB von 50 positiv bestätigt werden sollte, sondern vielmehr das Nichtbestehen eines GdB von mehr als 50 Gegenstand der Regelung war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Zulassung der Revision beruht auf § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG. Die grundsätzliche Bedeutung ergibt sich daraus, dass das Bundessozialgericht für die hier entscheidungserhebliche Frage der Teilbarkeit eines rechtswidrig früh einsetzenden Herabsetzungsbescheides die Revision zugelassen hat (B 9 SB 7/19 R und B 9 SB 2/20 R).
Rechtskraft
Aus
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