L 14 AL 73/17

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 58 AL 303/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AL 73/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 11 AL 7/20 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit i.S.v. § 345b Satz 2 SGB III setzt eine Existenzgründung voraus. Die bloße Erweiterung einer bislang schon ausgeübten selbständigen Tätigkeit genügt hierfür nicht.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. März 2017 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Höhe der Beiträge während der Antragspflichtversicherung des Klägers in der Zeit vom 25. Oktober 2015 bis 23. Oktober 2016.

Der 1968 geborene Kläger verfügt über einen akademischen Abschluss als Diplom-Politikwissenschaftler und war in den letzten Jahren in dem aus der Übersicht auf Bl. 3 und 4 dieses Urteils ersichtlichen Umfang tätig.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger für die Zeit ab dem 1. Februar 2010 im Zusammenhang mit der Aufnahme seiner selbständigen Tätigkeit einen Gründungszuschuss. Ab 2010 wechselten sich beim Kläger Zeiten eines Versicherungspflichtverhältnisses auf Antrag für eine selbständige Tätigkeit mit Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld (Alg) im Wesentlichen wie folgt ab: 1. Febr. 2010 - 31. Jan. 2013 Selbständige Tätigkeit (Trainer und Bildungsreferent) 2. Febr. 2013 - 26. April 2014 Alg bei Arbeitslosigkeit bzw. bei beruflicher Weiterbildung (Anspruchsdauer ursprünglich 360 Tage) 27. April 2014 - 23. April 2015 Selbständige Tätigkeit 24. April 2015 - 24. Okt. 2015 Alg bei Arbeitslosigkeit (Anspruchsdauer 180 Tage)

Für die o.g. Zeiten selbständiger Tätigkeit entsprach die Beklagte jeweils Anträgen des Klägers auf freiwillige Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung (§ 28a Drittes Buch Sozialgesetzbuch – SGB III). Die jeweiligen Bescheide hob sie ab dem Bezug von Alg jeweils wieder auf. Während des Alg-Bezugs ab Februar 2013 übte der Kläger nach eigenen Angaben wie schon zuvor eine Nebentätigkeit bei der A-S-Hochschule (mit einer Lehrverpflichtung von zwei Stunden wöchentlich) und während des Alg-Bezugs ab April 2015 eine Nebentätigkeit als freiberuflicher Kommunikationstrainer (8,5 Stunden wöchentlich) aus.

Zeitraum Art der Tätigkeit als Freiberufler Auftraggeber/in (ungefährer) zeitlicher Aufwand Vergütung in Euro

01.10.2010 - 31.09.2015 Lehrbeauftragter A-S-Hochschule B, Soziale Arbeit, Diversity Studies 2 - 4 Semesterwochenstunden (SWS) WS+SS 2010-2011: 5.952,- WS 2011-2012: 1.600,- WS+SS 2012-2013: 3.172,- WS+SS 2013-2014: 3.844,- WS+SS 2014-2015: 3.019,-

01.10.2010 -31.09.2012 Lehrbeauftragter Hochschule M-S, Kindheitswissenschaften, Diversity Studies 34 Stunden/Semester 60 Stunden 68 Stunden 60 Stunden WS 2010/11. 850,- SS 2011: 1.500,- WS 2011/12: 1.600,- SS 2012: 1.500,-

01.03.-31.05.2010 Koordinator im Bereich "Stadtentwicklung" bei Erstellung "Landesaktionsplan gegen Rassismus ..." Mrat Berlin-Brandenburg e.V. 3-4 Tage 600,-

28.09.2010 Bildungsreferent bei Tagung der Internationalen Wochen gegen Rassismus I Rat in Deutschland e.V. 1 Tag 450,-

05.-06.11.2010 Workshop-Training + Dokumentation: Rassismus und Diskriminierung in interkulturellen Trainings" Studienzentrum für evangelische Jugendarbeit in J e.V. 1 Tag 400,-

26.09.2010 - 12.12.2010 Referent für Infoveranstaltungen: "Stärkung von Muslimen gegen Rassismus" T Bund Berlin-Brandenburg e.V. 10 Stunden 624,-

07.11.2011 + 05.12.2011 Bildungsreferent/-trainer: Workshop zu Sprache und Diskriminierung C-Werkstatt gGmbH 2 Tage 800,-

Januar - Oktober 2011 Koordination, fachlicher Input und Dokumentation im Be-reich "Stadtentwicklung/ Wohnen" zum Landesaktionsplan gegen Rassismus Mrat Berlin-Brandenburg e.V. 2-3 Tage 300,-

06.06.2012 Bildungsreferent/-trainer: Workshop zu Sprache und Diskriminierung C-Werkstatt gGmbH 1 Tag 400,-

Werkvertrag für 2012-2013 Koordinator des ECAR-Empowerment- Workshop-Projekts (darin zugleich Auftraggeber von freiberuflichen Trainer/innen in einem Team vom 12 Personen) B Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit 2012: 3.000,- 2012: 6.000,- 2012: 3.000,- 2013: 7.980,-

25.09.2012 Referent bei Fachwerkstatt zum Thema Empowerment-Trainings A an der S GmbH 1 Tag 200,-

14.09.2012 Empowerment-Workshop-Training zu dem Thema "Sprache Macht Diskriminierung" G e.V. B 1 Tag 300,-

09.11-10.11.2012 Empowerment-Workshop/-Training Verband für I A e.V. Regionalverband B 2 Tage 1.190,-

11.03.2013 Empowerment-Workshop-Training zu dem Thema "Sprache Macht Diskriminierung" Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg von Berlin 1 Tag 476,-

08.10.2013 Empowerment-Workshopleitung I e.V. 1 Tag 300,-

08.10.2013 + 07.12.2013 Führung von Interviews im Kontext von interkultureller Altenpflege C-Werkstatt gGmbH 2 Tage 3.000,-

15.06.2015 Referent, Workshop-Trainer: Professionelles Handeln in der Migrationsarbeit Landesweite Koordinierungsstelle K Izentren 1 Tag 1.000,-

Den Antrag des Klägers vom 2. Januar 2015, ihn ab dem 1. Februar 2010 (auch) als Pflegeperson freiwillig weiterzuversichern, lehnte die Beklagte ab, weil dies rückwirkend nicht möglich sei und er bereits in einem anderen wirksamen Antragspflichtverhältnis stehe.

Dem Ende 2015 gestellten erneuten Antrag des Klägers bezüglich eines Versicherungspflichtverhältnisses auf Antrag für die selbständige Tätigkeit als "Freiberufler" entsprach die Beklagte mit Bescheid vom 10. Dezember 2015. In diesem und einem weiteren Bescheid gleichen Datums setzte sie den vom Kläger zu zahlenden monatlichen Beitrag auf 85,05 EUR (ausgehend von monatlichen beitragspflichtigen Ein-nahmen von 2.835.- EUR und einem Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung von 3%) bzw. für die Zeit ab dem 1. Januar 2016 auf 87,15 EUR (ausgehend nunmehr von monatlichen beitragspflichtigen Einnahmen von 2.905.- EUR) fest. Mit seinem hiergegen gerichteten Widerspruch machte der Kläger eine Halbierung seiner monatlichen Beiträge geltend, weil er im Anschluss an seine Arbeitslosigkeit nun als freiberuflicher Autor und Übersetzer neben seiner bisherigen Tätigkeit als Lehrbeauftragter tätig werde. Hierzu habe er sich bei der Verwertungsgesellschaft Wort registrieren lassen und einen Vertrag abgeschlossen. Im vergangenen Jahr sei von ihm ein Beitrag in einem Sammelband erschienen, ein weiterer werde im laufenden Jahr erscheinen. Des Weiteren habe er im Rahmen eines noch laufenden Dokumentarfilmprojekts als Übersetzer mitgewirkt. Diesen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. Januar 2016 zurück.

Für die Zeit ab dem 24. Oktober 2016 bewilligte die Beklagte dem Kläger erneut Alg und hob den Bescheid vom 10. Dezember 2005 über ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag auf (Bescheide vom 2. November 2016).

Im Klageverfahren hat der Kläger angegeben, das Gepräge seiner selbständigen Tätigkeit habe sich wesentlich geändert. Die bisherige Lehrtätigkeit (Gesamtumfang: 1,5 Stunden/Woche, 32 Stunden insgesamt verteilt auf drei Monate im Semester) laufe im Juni 2016 aus. Eine Fortsetzung habe der Hochschulträger bisher nicht zugesagt. Die Erteilung der Zusage hänge von vielerlei Faktoren ab und werde üblicherweise mit einer Vorlaufzeit von drei Monaten vorgenommen. Er habe sich daher entschieden, ab dem 25. Oktober 2015 als Dolmetscher/Übersetzer/Autor selbständig zu arbeiten. Es sei nicht unerheblich, welche Tätigkeit er ausübe. Entscheidend seien vielmehr die zur Erreichung des Betriebszwecks wesentlichen Faktoren, zu denen insbesondere Kunden- und Lieferantenbeziehungen, die Stellung am Markt und u.U. die Produktionsmethoden gehörten. Nicht nur die zeitliche Zäsur markiere vorliegend den Beginn einer Startphase, sondern vor allem seine wirtschaftliche Situation mit geringen Einkünften, erhöhten Aufwendungen und dem besonderen Risiko eines Scheiterns am Markt. Von daher sei ihm das Beitragsprivileg einzuräumen.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 17. März 2017 die Bescheide der Beklagten vom "10.10.2015" (gemeint offensichtlich: 10. Dezember 2015) in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. Januar 2016 aufgehoben, die Beklagte "verurteilt, die Beiträge zur freiwilligen Versicherung nach § 28a SGB III ab 25.10.2015 nach 50 % der Bezugsgröße gemäß § 345b Satz 2 SGB III zu bemessen" und die Berufung zugelassen. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, es komme nach dem Wortlaut von § 345b SGB III für den reduzierten Beitrag allein auf die "Aufnahme" der selbständigen Tätigkeit an. Dies sei nicht gleichbedeutend mit erstmaliger Aufnahme und könne nach dem Wortsinn auch die wiederholte Aufnahme umfassen. Das weitere Verständnis der Norm passe zur pauschalen Festsetzung des Beitrags unabhängig von den erzielten oder zu erwartenden Einnahmen aus der selbständigen Tätigkeit. Eine inhaltliche Wertung der aufgenommenen Tätigkeit werfe überdies schwierige Abgrenzungsfragen auf, die einer unzweideutigen und zügigen Beitragserhebung entgegenstünden. Wolle man allein darauf abstellen, ob überhaupt erstmals eine selbständige Tätigkeit begonnen werde, würde das in vielen Fällen dem Normzweck, die Beitragslast in der Startphase der Selbständigkeit zu verringern, zuwiderlaufen. Das gelte nicht nur für eine berufliche Umorientierung, sondern auch im Fall einer Wiederaufnahme der frühen Tätigkeit, wenn infolge der Unterbrechung nicht auf einen Kundenstamm oder bisherige Auftraggeber zurückgegriffen werden könne und/oder Investitionen erforderlich seien. Ein Missbrauch werde dadurch ausgeschlossen, dass eine gleichartige Tätigkeit bei zweimaliger Unterbrechung eine freiwillige Weiter- bzw. Wiederversicherung ausschließe. Der Kläger habe substantielle Veränderungen seiner Selbständigkeit glaubhaft gemacht, die nach Überzeugung der Kammer eine Reduzierung der Beitragslast rechtfertigten. Ein vollständig neues Berufsbild sei nicht erforderlich; es genüge, wenn sich das Profil der Selbständigkeit ändere. Das Gericht entnehme diese Lesart § 28 Abs. 2 Satz 2 SGB III, der bei einem Ausschluss der freiwilligen Versicherung nach zweimaligem Bezug von Alg auf die Wiederaufnahme der "gleichen Tätigkeit" abstelle. Dass der Kläger am 25. Oktober 2015 die gleiche Tätigkeit wie zuvor aufgenommen habe, könne zweifelsfrei verneint werden.

Gegen dieses ihr am 12. April 2017 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten vom 10. Mai 2017, zu deren Begründung sie vorträgt: Nach der Gesetzesbegründung zu § 345b Satz 2 SGB III zahlten Selbständige innerhalb des ersten Jahres nach Aufnahme der Tätigkeit einen hälftigen Beitrag, um den besonderen Schwierigkeiten während der unmittelbaren Startphase einer Existenzgründung Rechnung zu tragen. Eine solche Fallgestaltung liege hier nicht vor. Denn der Kläger habe im Wesentlichen seine frühere Selbständigkeit als Lehrbeauftragter fortgesetzt und diese lediglich um weitere Aspekte ergänzt. Der Kläger hätte niemals freiwillig versichert werden dürfen, da die selbständige Tätigkeit auch nach seinen Aussagen nicht wenigstens 15 Stunden/Woche umfasst habe. Allerdings dürfte dies wohl nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Dies gelte auch für die Frage, ob hier der Ausschlussgrund des § 28a Abs. 2 Satz 2 SGB III vorliege. Trotz wiederholter Anforderungen habe der Kläger nach wie vor keinerlei tatsächliche Belege in Form von Auftragsbestätigungen, Rechnungen oder ggf. Einnahme-/Überschussrechnungen bzw. Steuerbescheide eingereicht.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. März 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und bringt vor: Er habe mit seiner Lehrtätigkeit und der Durchführung von Workshops als Politikwissenschaftler nicht genug verdient und sich deshalb entschlossen, sich beruflich umzuorientieren. Weil er sowohl in Türkisch als auch in Deutsch sprachsicher sei und auch fließend Englisch spreche, habe er sich für eine Tätigkeit als Übersetzer und Dolmetscher entschieden. Er habe aber auch versucht, ein Standbein in der Lehre zu behalten und daher seit 2010 bei der A-S-Hochschule als Lehrbeauftragter gearbeitet, wo er für ein auf 20 Wochen angelegtes Seminar mit zwei oder drei Wochenstunden 36 EUR pro Wochenstunde erhalten habe. Seine Tätigkeit als Übersetzer und Dolmetscher sei nicht zufriedenstellend verlaufen. Er habe sich dann als wissenschaftlicher Autor betätigt und zum Beispiel für Auftraggeber wie Trägervereine Handreichungen über die Durchführung von politischen Bildungsmaßnahmen (etwa Selbsthilfe) geschrieben oder freiberuflich durchgeführte Projekte dokumentiert (zum Beispiel Begleitung von Studenten in einem Vorbereitungskurs für eine Tätigkeit als Entwicklungshelfer im Ausland). Da er mit seiner Tätigkeit seinen Lebensunterhalt nicht sichern könne, müsse er "mehrspurig" arbeiten. So habe er versucht, wieder als Journalist Fuß zu fassen, aber der Markt sei sehr umkämpft. Zu seinem Arbeitsaufwand pro Woche könne er keine detaillierten Angaben machen. Bei selbständiger Arbeit laufe einiges parallel, mal sei es weniger, mal mehr. Ab 2010 habe er außerdem für verschiedene Träger Workshops als Empowerment-Trainer geleitet, die zwischen einem halben und zwei Tagen gedauert hätten. In der Tätigkeit für die Landesantidiskriminierungsstelle – für die Dauer dieses Projekts sein Hauptauftrag – habe er die Aufgabe gehabt, 5-6 Workshops jeweils über 3-4 Tage durchzuführen. Mit dem Gesamtbetrag von 20.000 EUR habe er die Miete, aber auch das dazu erforderliche weitere Personal (ca. 15 Personen) bezahlen müssen. Die wissenschaftlichen Publikationen in Sammelbänden seien keine Werkaufträge gewesen und mit keinen Honorareinnahmen, sondern mit dem Bemühen der Weiterqualifikation verbunden gewesen. Auch bei der Publikation der Dokumentation des ECAR-Empowerment-Projekts habe es sich nicht um einen Auftrag für eine Autorentätigkeit gehandelt, sondern um eine dokumentierte Zusammenfassung des Projekts im Rahmen der umfassenden Tätigkeit als Koordinator, in welcher er im Besonderen mit der Konzeption und Umsetzung, d.h. dem Projekt-, Personal- und Finanzmanagement betraut gewesen sei. Für die Zeit ab September 2015 habe er geplant, allmählich als neue berufliche Ausrichtung in das Tätigkeitsfeld des Dolmetschers/ Übersetzers (türkisch - deutsch) bzw. des Autors einzusteigen. Er habe sich dadurch eine sicherere berufliche Basis erhofft, um aus seinen prekären, temporären Arbeitsverhältnissen als freiberuflicher Lehrbeauftragter, Referent und Trainer herauszukommen. Da er sich in dem neuen Arbeitsfeld erst noch habe einarbeiten, bekannt machen und vernetzen müssen, habe er die Lehrtätigkeit an der Hochschule in der Hoffnung fortgesetzt, dort eventuell doch noch eine Anstellung als Gastdozent zu bekommen. Auch habe er die Tür für Auftragsanfragen hinsichtlich seiner Qualifikationen als Empowerment-Trainer und Referent offengehalten, um sich so weiterhin finanziell über Wasser zu halten. Er sei davon ausgegangen, dass er für seinen ersten kleinen Auftrag im neuen Tätigkeitsfeld mindestens drei Monate brauchen würde und weitere sechs Monate, um sich ein Stück weit eingearbeitet, Kontakte geknüpft und sich vernetzt zu haben.

Die jeweiligen Berichterstatter haben am 24. Juli 2019 und 11. Mai 2020 Erörterungstermine durchgeführt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die dem Senat vorgelegen hat, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hätte der Klage nicht stattgeben dürfen. Die Bescheide der Beklagten vom 10. Dezember 2015, soweit sie die Höhe des monatlichen Beitrags betreffen, und der Widerspruchsbescheid vom 28. Januar 2016 sind im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der Kläger kann nicht verlangen, im streitigen Zeitraum vom 25. Oktober 2015 bis 23. Oktober 2016 geringere Beiträge zahlen zu müssen.

I. Streitgegenstand sind neben dem Urteil des Sozialgerichts vom 17. März 2017 die o.g. Bescheide der Beklagten vom 10. Dezember 2015, soweit sie die Beitragshöhe betreffen, in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Januar 2016. Gegenstand schon des Klageverfahrens wurde gemäß § 96 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) außerdem der o.g. Bescheid der Beklagten vom 2. November 2016, durch den das mit Bescheid vom 10. Dezember 2015 festgestellte Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag (Antragspflichtversicherung) wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld (vgl. § 28a Abs. 5 Nr. 1 SGB III) ab dem 24. Oktober 2016 beendet wurde. Denn dieser Bescheid änderte den Bescheid vom 10. Dezember 2015 insoweit, als die darin auf unbestimmte Zeit festgestellte Antragspflichtversicherung mit Wirkung für die Zukunft beseitigt wurde. Umstritten ist daher nur der Zeitraum vom 25. Oktober 2015 bis 23. Oktober 2016.

II. Die Rechtsgrundlage für die Höhe der Beiträge aufgrund einer Antragspflichtversicherung für Selbständige findet sich in § 345b Satz 1 Nr. 2, Sätze 2 und 3 SGB III. Danach gilt:

Für Personen, die ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag begründen, gilt als beitragspflichtige Einnahme 2. in Fällen des § 28a Absatz 1 Nummer 2 ein Arbeitsentgelt in Höhe der monatlichen Bezugsgröße [ ]. Abweichend von Satz 1 Nummer 2 gilt in Fällen des § 28a Absatz 1 Nummer 2 bis zum Ablauf von einem Kalenderjahr nach dem Jahr der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit als beitragspflichtige Einnahme ein Arbeitsentgelt in Höhe von 50 Prozent der monatlichen Bezugsgröße. Dabei ist die Bezugsgröße für das Beitrittsgebiet maßgebend, wenn der Tätigkeitsort im Beitrittsgebiet liegt.

Gemäß § 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III können ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag Personen begründen, die eine selbständige Tätigkeit mit einem Umfang von mindestens 15 Stunden wöchentlich aufnehmen und ausüben. Die Begründung eines Versicherungspflichtverhältnisses auf Antrag nach Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ist ausgeschlossen, wenn die antragstellende Person bereits versicherungspflichtig nach dieser Regelung war, die zu dieser Versicherungspflicht führende Tätigkeit zweimal unterbrochen hat und in den Unterbrechungszeiten einen Anspruch auf Arbeitslosengeld geltend gemacht hat (§ 28a Abs. 2 Satz 2 SGB III).

Die gemäß § 345b SGB III anzuwendende Bezugsgröße bestimmt sich nach § 1 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 18 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV). Sie betrug nach § 2 Abs. 1 der auf § 17 Abs. 2 SGB IV beruhenden Sozialversicherungs-Rechengrößenverordnungen für die Jahre 2015 (vom 1. Dezember 2014, BGBl. I S. 1957) bzw. 2016 (vom 30. November 2015, BGBl. I S. 2137) 2.835.- bzw. 2.905.- EUR. Der Beitragssatz betrug nach § 341 Abs. 2 SGB III (in der in den Jahren 2015 und 2016 geltenden Fassung) 3,0 Prozent.

III. Nach diesen gesetzlichen Vorgaben hat die Beklagte die Beiträge des Klägers im streitigen Zeitraum zutreffend nach der (vollen) Bezugsgröße bemessen. Der Kläger stand im Hinblick auf seine selbständige Tätigkeit in einem Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag nach § 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III. Bei Anwendung der o.g. Bezugsgrößen und des o.g. Beitragssatzes hat die Beklagte korrekt monatliche Beiträge von 85,05 (für den Teilzeitraum vom 25. Oktober bis 31. Dezember 2015) bzw. 87,15 EUR (für den Teilzeitraum 1. Januar bis 24. Oktober 2016) errechnet. Die für das Beitrittsgebiet geltende Bezugsgröße (§ 345b Satz 3 SGB III) ist nicht anwendbar, weil der Kläger – soweit ersichtlich – über keine feste Arbeitsstätte verfügt und – wie sich aus der Beschreibung seiner unterschiedlichen Aufträge und Projekte ergibt – seine selbständige Tätigkeit an verschiedenen Orten ausübt, sodass gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 11 Abs. 2 SGB IV sein Wohnsitz im ehemaligen Westteil von Berlin (ehemaliger Bezirk Kreuzberg von Berlin) als Tätigkeitsort gilt.

IV. Die Privilegierungsregelung in § 345b Satz 2 SGB III kommt dem Kläger nicht zugute. Diese Vorschrift ist nicht anwendbar, wenn ein auf Antrag pflichtversicherter selbständig Tätiger – wie der Kläger – (zunächst) im Wesentlichen seine bisherige selbständige Tätigkeit fortführt, auch wenn er sich gleichzeitig ein neues Tätigkeitsfeld erschließen will. Dies ergibt eine Auslegung von § 345b Satz 2 SGB III.

1. Zwar ist dem Sozialgericht zuzugeben, dass der Wortlaut der Vorschrift nicht zu einer Beschränkung auf die erstmalige Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit zwingt und ein weites Normverständnis für die Verwaltungspraxis einfach handhabbare Kriterien zur Verfügung stellt, die eine zügige Entscheidung über die Beitragshöhe ermöglichen. Diese weite Auslegung ist indes mit dem Willen des Gesetzgebers nicht in Übereinstimmung zu bringen. Einer hieran orientierten Auslegung kommt besonderes Gewicht zu. Denn die Gerichte dürfen sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen, sondern müssen die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren. Eine Interpretation, die sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (BVerfG, Beschluss vom 06. Juni 2018 – 1 BvL 7/14 –, juris, m.w.N.). Maßgeblich ist daher, dass der Gesetzgeber mit der zum 1. Januar 2011 wirksam gewordenen Ergänzung von § 345b SGB III um einen Satz 2 durch das Beschäftigungschancengesetz vom 24. Oktober 2010 (BGBl. I, 1417) – wie von der Beklagten zutreffend wiedergegeben – das Ziel verfolgte, den besonderen Schwierigkeiten während der unmittelbaren Startphase einer Existenzgründung dadurch Rechnung zu tragen, dass Selbständige innerhalb des ersten Jahres nach Aufnahme der Tätigkeit lediglich einen hälftigen Beitrag zahlen (Bundestags-Drs. 17/1945, S. 17). Nur im Rahmen einer Existenzgründung sollten demnach Selbständige bei der Aufnahme ihrer Tätigkeit von dieser Ausnahmeregelung profitieren.

Systematische Überlegungen stützen dieses Ergebnis. Mit dem Beschäftigungschancengesetz hat der Gesetzgeber das bis dahin befristete Institut einer Antragspflichtversicherung fortgeführt (Bundestags-Drs. 17/1945, S. 11, 14), wollte aber zugleich ein ausgewogene(re)s Verhältnis zwischen Beitrag und Leistung in diesem Bereich herstellen, indem sich die Beiträge künftig nicht mehr nach 25 % der Bezugsgröße (so § 345b Satz 1 SGB III in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung), sondern nach (100 %) der Bezugsgröße bemessen sollten (a.a.O., S. 14). Dem damit verbundenen Ziel, im Bereich der Antragspflichtversicherung durch grundsätzlich höhere Beiträge die Einnahmeseite zu stärken, liefe eine (zu) weite Auslegung der Sonderregelung in § 345b Satz 2 SGB III zuwider.

Dieses Verständnis von § 345b Satz 2 SGB III steht auch im Einklang mit der herrschenden Literaturmeinung zur parallelen Frage im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung. Dort gehen die überwiegenden Stimmen zur Auslegung zu § 165 Abs. 1 Satz 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) davon aus, dass die Beitragsprivilegierung grundsätzlich auch mehrfach beansprucht werden kann, vorausgesetzt, dass die selbständige Tätigkeit tatsächlich mit dem Charakter einer Existenzgründung – ggf. auch erneut, z.B. nach einer deutlichen zeitlichen Zäsur – aufgenommen wird und sich inhaltlich eindeutig von ggf. bislang ausgeübten selbständigen Tätigkeiten abgrenzen lässt (Wißing, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2.A., § 165 SGB VI (Stand: 22.12.2016), Rn. 75; Niemann, in: Hauck/Noftz, SGB, 05/19, § 165 SGB VI, Rn. 18; Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungs-recht/Wehrhahn, Stand: März 2019, § 165 SGB VI, Rn. 32; Beck’scher OnlineKommentar Sozialrecht / von Koch, Stand: 01.09.2020, § 165 SGB VI, Rn. 35; Reinhardt/Reinhardt, Sozialgesetzbuch VI, 4. Auflage 2018, § 165, Rn. 10).

2. Hieran gemessen ist § 345b Satz 2 SGB III für den streitigen Zeitraum auf den Kläger nicht anwendbar. Denn eine Existenzgründung oder einen vergleichbaren beruflichen Neustart hat er zum 25. Oktober 2015 nicht vollzogen.

a. Die Antwort auf die Frage, welche Art von im Rahmen von § 28a, § 345b Satz 2 SGB III relevanter selbständiger Tätigkeit ein Antragsteller in welchem zeitlichen Umfang ausüben will, bedarf einer Prognose. Zum Wesen einer Prognoseentscheidung gehört es, dass aufgrund feststehender Umstände oder festgestellter Tatsachen Schlussfolgerungen für eine künftige, ungewisse Entwicklung gezogen werden. Denn die Prognose ist bereits begriffsnotwendig zukunftsbezogen (BSG, Urteil vom 27. März 2020 – B 10 EG 7/18 R –, juris, m.w.N.). Berücksichtigt werden können daher nur Umstände, die zu dem Zeitpunkt, zu dem die Prognose zu treffen ist, bekannt sind. Erweist sich eine Prognose im Nachhinein als unzutreffend, weil der angenommene Verlauf sich tatsächlich anders gestaltet hat, so bleibt sie für die Vergangenheit dennoch verbindlich. Eine rückwirkend abweichende Betrachtung ist mit dem Wesen der Prognose nicht zu vereinbaren (BSG, Urteil vom 28. März 2019 – B 10 LW 1/17 R –; Senat, Urteil vom 07. Mai 2020 – L 14 AL 111/18 –; jeweils juris und m.w.N.).

b. Maßgeblich ist daher nicht, welche selbständige Tätigkeit der Kläger ab dem 25. Oktober 2015 tatsächlich ausgeübt hat, sondern welche selbständigen Tätigkeiten, ggf. in welchem zeitlichen Umfang, er auszuüben beabsichtigte. Abzustellen ist hierbei auf das Vorbringen des Klägers, er habe sich einerseits ein neues Berufsfeld als Übersetzer, Dolmetscher und Autor erschließen wollen, andererseits aber auch seine bisherige Tätigkeit als freiberuflicher Lehrbeauftragter, Referent und Trainer als zusätzliches Standbein fortführen wollen. Auch wenn der Kläger keine Angaben zum voraussichtlichen zeitlichen Anteil dieser beiden Berufsfelder gemacht hat, entnimmt der Senat seinem Vorbringen, dass die wesentliche Änderung für die Zeit ab dem 25. Oktober 2015 eine Erweiterung seines Tätigkeitsfeldes sein sollte. Darin liegt nach Auffassung des Senats keine Existenzgründung. Denn eine solche ist zu verneinen, wenn zu einem wesentlichen Anteil eine selbständige Tätigkeit – hier: als Lehrbeauftragter, Referent und Trainer – weitergeführt wird, die bereits früher – hier: vom 1. Februar 2010 bis 31. Januar 2013 und vom 27. April 2014 bis 23. April 2015 – hauptberuflich, d.h. mehr als 15 Stunden wöchentlich (§ 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III), ausgeübt und zumindest teilweise auch in Zeiten der Arbeitslosigkeit – hier: durchgängige Tätigkeit an der o.g. Hochschule, Nebentätigkeit als Trainer – fortgesetzt wurde. Dass der Kläger sich ein zusätzliches Standbein schaffen wollte, steht der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit i.S.v. § 345b Satz 2 SGB III nicht gleich.

V. Angesichts dessen kann der Senat offen lassen, ob ein Anspruch des Klägers auf geringere Beiträge im streitigen Zeitraum auch deswegen ausscheidet, weil schon – wie die Beklagte im Berufungsverfahren vertreten hat – seinem Antrag auf Antragspflichtversicherung nicht hätte stattgegeben werden dürfen.

Zwar trifft die von der Beklagten angeführte Begründung nicht zu, weil sie offensichtlich aus Angaben des Klägers aus der Zeit nach Erlass des Bescheids vom 10. Dezember 2015 bezüglich der Antragspflichtversicherung Rückschlüsse auf den zeitlichen Umfang seiner Tätigkeit ab dem 25. Oktober 2015 zieht, was – wie bereits dargelegt – mit dem Prognosecharakter der Entscheidung über einen Antrag nach § 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III unvereinbar ist. Der Prognosecharakter der Entscheidung schließt es – dies sei an dieser Stelle klargestellt – indes nicht aus, die Angaben eines Antragsstellers zur beabsichtigten selbständigen Tätigkeit kritisch zu hinterfragen und ihre Plausibilität ggf. anhand der bislang tatsächlich ausgeübten Tätigkeit zu überprüfen.

Eine Antragspflichtversicherung des Klägers ab dem 25. Oktober 2015 könnte aber nach dem Wortlaut von § 28a Abs. 2 Satz 2 SGB III ausgeschlossen sein, weil der Kläger die ab Februar 2010 ausgeübte, zur Versicherungspflicht führende selbständige Tätigkeit als Lehrbeauftragter, Referent und Trainer im Rahmen des o.g. Alg-Bezugs bereits zweimal unterbrochen hatte. Ob die Rechtsfolge des § 28a Abs. 2 Satz 2 SGB III – wofür die Gesetzesbegründung und die bereits dargestellte Bedeutung des gesetzgeberischen Willens spricht – nicht eingreift, wenn "der Arbeitslosengeldbezug auf einem neu entstandenen Anspruch (vergleiche § 147 Absatz 1 Nummer 1) beruht" (Bundestags-Drs. 17/1945, S. 14) – dies träfe beim Kläger in beiden Phasen des Alg-Bezugs zu –, kann hier dahinstehen (vgl. zum Meinungsstand: Wehrhahn, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 2.A., § 28a SGB III (Stand: 15.06.2020), Rn. 24; Timme, in: Hauck/Noftz, SGB, 03/17, § 28a SGB III, Rn. 41; Scheidt, in: Heinz/Schmidt-De Caluwe/Scholz, Sozialgesetzbuch III, 7. Auflage 2021, § 28a Rn. 50 ff.; s.a. Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 01. Dezember 2014 – L 14 AL 134/13 – ; LSG Hamburg, Urteil vom 29. August 2018 – L 2 AL 46/17 –; beide juris), weil die Berufung bereits aus anderen Gründen Erfolg hat.

VI. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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