Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
28
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 28 R 684/14
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 28 BA 109/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 11. Oktober 2018 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die Kosten auch für das Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob Untätigkeit der Beklagten vorliegt.
Die Rechtsvorgängerin der Beklagten – die Landesversicherungsanstalt B, nachfolgend insgesamt: Beklagte – führte bei der Klägerin, einem Malerbetrieb, am 12. September 2002 eine Betriebsprüfung hinsichtlich des Zeitraums Januar 1998 bis Dezember 2001 durch. Mit Bescheid vom 2. Oktober 2002 setzte sie gegenüber der Klägerin eine Nachforderung in Höhe von 9.297,83 EUR fest mit der Begründung, die beitragsrechtliche Beurteilung der Entgelte und sonstigen Zuwendungen sei im Hinblick auf den allgemein geltenden Mindestlohn, der in Bezug auf die gesondert aufgeführten Personen unterschritten worden sei, nicht zutreffend erfolgt, so dass die auf den geschuldeten Arbeitslohn zu entrichtenden Sozialversicherungsbeiträge nachzufordern seien. Das gegen den Bescheid, den die Klägerin am 19. Oktober 2002 erhalten habe, gerichtete Widerspruchsschreiben vom 25. Oktober 2002 ging am 4. November 2002 bei der Beklagten ein. Einem von der früheren Steuerberaterin der Klägerin gestellten Ruhensantrag und Stundungsbegehren entsprach die Beklagte nicht, ohne in der Sache über den Widerspruch zu entscheiden (Bescheid vom 20. Januar 2003). Den beim Sozialgericht Cottbus am 20. Februar 2003 gestellten einstweiligen Rechtsschutzantrag – S 3 RJ 160/03 ER – nahm die Klägerin zurück (Erklärung vom 4. April 2003), nachdem sich die Beteiligten auf ein Ruhen des Widerspruchsverfahrens verständigt hatten.
Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 23. September 2013 erinnerte die Klägerin an die Bescheidung des Widerspruchs. Die Beklagte lehnte dies ab, weil der Widerspruch mit Schreiben vom 8. Dezember 2004 zurückgenommen worden, der Bescheid vom 23. September 2002 mithin bestandskräftig sei (Schreiben vom 27. September 2013 und vom 25. November 2013), welches die Klägerin ihrerseits bestritt (Schriftsatz des Bevollmächtigten der Klägerin vom 7. Oktober 2013).
Die Klägerin hat sodann am 18. November 2014 vor dem Sozialgericht Cottbus Untätigkeitsklage erhoben mit der Begründung, eine Rücknahme des Widerspruchs sei nicht erklärt worden und der Widerspruch ohne zureichenden Grund nicht beschieden. Die Forderung sei in Raten an die Innungskrankenkasse B (IKK) als Vollstreckungsbehörde in der Zeit von April bis Oktober 2005 abbezahlt worden, wozu sie im Hinblick auf das erfolglose Eilrechtsschutzverfahren verpflichtet gewesen sei.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 11. Oktober 2018 die Beklagte verpflichtet, über den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 2. Oktober 2002 zu entscheiden. Die Untätigkeitsklage sei zulässig, nachdem die Beklagte den Widerspruch der Klägerin, der nicht nachweislich von jener zurückgenommen worden sei, bisher nicht beschieden habe. Die Untätigkeitsklage sei auch nicht verwirkt. Sie sei zwar erst nach mehreren Jahren erhoben worden. Weitere Anhaltspunkte für eine Rechtsmissbräuchlichkeit seien aber nicht gegeben. Solche stellten auch nicht die Betriebsprüfungen von 2006 und 2010 dar, in denen die Klägerin nicht auf das offene Widerspruchsverfahren hingewiesen habe. Offensichtlich seien beide Beteiligten von einem weiteren Ruhen des gegenständlichen Widerspruchsverfahrens ausgegangen. Die Untätigkeitsklage sei auch begründet. Ein zureichender Grund für die Verzögerung sei weder vorgetragen noch ersichtlich.
Mit ihrer Berufung vom 8. November 2018 macht die Beklagte geltend, der Widerspruch sei ausweislich der nach Vernichtung des Vorgangs verbliebenen Restunterlagen mit Schreiben vom 8. Dezember 2004 zurückgenommen worden. Die Klägerin habe jedenfalls anlässlich der Betriebsprüfungen im Jahr 2006 und 2010 Anlass gehabt, den Verfahrensstand zu erfragen. Das Umstandsmoment liege angesichts der extremen Zeitspanne, die bereits ein Rechtsschutzbedürfnis ohne weitere Umstände ausschließe, neben der Vernichtung des Vorgangs in der Tatsache, dass die Klägerin den Forderungsbetrag an die IKK als Einzugsstelle gezahlt und die Beitragsforderung aus dem Bescheid vom 23. September 2002 am 15. April 2005 bei der IKK als offene Forderung verbucht worden sei.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 11. Oktober 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und ergänzt unter Bezugnahme auf eine entsprechende Email ihrer früheren Steuerberaterin vom 2. September 2020, dass diese über keine Unterlagen in Bezug auf den Vorgang mehr verfüge. Eine Widerspruchsrücknahme, die die Beklagte nicht durch Vorlage des entsprechenden Schreibens belegen könne, sei nicht erfolgt. Aufgrund der Betriebsprüfungen in den Jahren 2006 und 2010 habe sich kein Anlass ergeben, bei der Beklagten wegen des Widerspruchsverfahrens nachzufragen. Jedenfalls könne eine fehlende Nachfrage kein Vertrauen bei der Beklagten begründet haben. Angesichts des noch offenen Widerspruchsverfahrens bestehe ein Anspruch auf Bescheidung.
Die Beteiligten haben sich mit einer schriftlichen Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen, den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Gerichtsakte des Sozialgerichts Cottbus – S 3 RJ 160/03 ER – sowie den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige und insbesondere gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung der Beklagten – insofern ist für den Wert des Beschwerdegegenstandes bei der Untätigkeitsklage auf den Wert des erstrebten bzw. angefochtenen Verwaltungsaktes abzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 10. Oktober 2017 – B 12 KR 3/16 R – juris Rn. 14 m.w.N.) – über die der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden konnte (vgl. §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG), ist unbegründet. Das Sozialgericht hat auf die statthafte Untätigkeitsklage zu Recht und mit zutreffenden Gründen die Beklagte zur Bescheidung des am 4. November 2002 erhobenen Widerspruchs der Klägerin gegen den Bescheid der Landesversicherungsanstalt B vom 23. September 2002 verurteilt. Gemäß § 88 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 SGG ist eine Untätigkeitsklage u.a. zulässig, wenn über einen Widerspruch innerhalb der Sperrfrist von drei Monaten keine Entscheidung ergangen ist. Sie ist begründet, wenn es für die Nichtbescheidung an einem zureichenden Grund fehlt. So liegt es hier.
Soweit die Beklagte unter Hinweis auf einen entsprechenden Auszug aus ihrem Widerspruchsbuch (auf Bl. 24 der Gerichtsakte wird insofern Bezug genommen) geltend macht, der – bisher nicht beschiedene – Widerspruch sei mit einem Schreiben vom 8. Dezember 2004 zurückgenommen worden, kann dies, wie die Beklagte als insofern objektiv beweisbelastete Beteiligte selbst einräumt, mangels Vorlage des entsprechenden Schreibens der Klägerin, die eine Rücknahme des Widerspruchs bestreitet, bzw. eines Bevollmächtigten der Klägerin nicht zur vollen Überzeugung des Senats festgestellt werden. Eine Widerspruchsrücknahme ergibt sich auch nicht aus der vorgetragenen Abgabe der Forderungszuständigkeit an die IKK am 15. April 2005. Der Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 2. Oktober 2002 hatte bereits ausweislich des Bescheides keine aufschiebende Wirkung, und die Klägerin hatte ihren einstweiligen Rechtsschutzantrag im Verfahren vor dem SG Cottbus – S 3 RJ 160/03 ER – im April 2003 nach einer Einigung mit der Beklagten über ein "Ruhen" des Widerspruchsverfahrens zurückgenommen. Allein aufgrund dieser Umständen kann nicht im Vollbeweis eine Widerspruchsrücknahme festgestellt werden. Weitere Ermittlungsmöglichkeiten von Amts wegen drängen sich dem Senat, wie den Beteiligten mitgeteilt worden ist, nicht auf (§ 103 SGG).
Zwar kann das Rechtsschutzbedürfnis für eine (nunmehr, vgl. noch § 88 Abs. 2 Satz 2 in der bis 1976 geltenden und sodann gestrichenen Fassung [BGBl. I 2437]) grundsätzlich unbefristet zulässige (vgl. § 89 SGG analog) Untätigkeitsklage unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung entfallen (vgl. B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 88 Rn. 5c m.w.N.). Dies setzt jedoch voraus, dass die verspätete Geltendmachung gegen Treu und Glauben verstößt, etwa weil der Berechtigte sich verspätet auf das Recht beruft (Zeitmoment) und unter Verhältnissen untätig geblieben ist, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt (Umstandsmoment), so dass auch ein an sich unbefristeter Antrag deshalb nicht nach Belieben hinausgezögert oder verspätet gestellt werden kann, ohne unzulässig zu werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. März 2008 – 2 BvR 2111/07 u.a. – juris Rn. 25 m.w.N.). Das öffentliche Interesse an der Wahrung des Rechtsfriedens kann in derartigen Fällen verlangen, die Anrufung des Gerichts nach langer Zeit untätigen Zuwartens als unzulässig anzusehen (BVerfG, a.a.O.). Solches ist hier jedoch, wie vom Sozialgericht zutreffend ausgeführt worden ist, nicht der Fall.
Soweit die Beklagte insbesondere auf das vorliegende Zeitmoment hinweist – seit Erhebung des Widerspruchs bis zur Untätigkeitsklage sind zwölf Jahre vergangen, seit der "Ruhensvereinbarung" bis zum "Wiederaufgreifen" des Widerspruchsverfahrens ca. zehn Jahre – sind zwar umso geringere Anforderungen an das Vorliegen des Umstandsmoments zu stellen, je länger die Untätigkeit andauert. Indes setzt das Vorliegen eines Umstandsmoments voraus, dass dem Beteiligten eine frühere bzw. rechtzeitige Geltendmachung des Rechts möglich, zumutbar und von ihm auch zu erwarten gewesen wäre (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Dezember 2012 – 1 BvR 2862/11 u.a. – juris Rn. 3). Trotz des vorliegend verstrichenen Zeitraums von zehn bzw. zwölf Jahren seit Erhebung des Widerspruchs fehlt es vorliegend aber am Umstandsmoment. Denn die Beteiligten waren, wie bereits ausgeführt und was von ihnen nicht in Abrede gestellt wird, im April 2004 einvernehmlich übereingekommen, das gegenständliche Widerspruchsverfahren bis zu einer höchstrichterlichen Klärung "ruhen" zu lassen, mithin nicht zu betreiben. Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte das Verfahren seither ihrerseits wieder aufgenommen hätte oder zwischenzeitlich – spätestens vor der Aktenvernichtung – bei der Klägerin angefragt hätte, ob jene noch ein Interesse an einer Fortführung des Widerspruchsverfahrens hat (vgl. insofern BVerfG, Beschluss vom 27. Dezember 2012 – 1 BvR 2862/11 u.a. – a.a.O. Rn. 5 im Hinblick auf einen Zeitraum von mehr als 13 Jahren bis zur Erhebung der Untätigkeitsklage trotz erfolgloser Aufforderung der Behörde, der Widerspruchsführer solle schriftlich mitteilen, wenn er noch einen Widerspruchsbescheid wünsche), bestehen nicht. Solches hat die Beklagte selbst, und zwar aus ihrer Sicht angesichts der vermerkten Widerspruchsrücknahme nach-vollziehbar, nicht behauptet. Bei dieser Sachlage geht aber auch ihr Hinweis auf die Vorschriften der §§ 110a bis 110c Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) – Gemeinsame Vorschriften über die Sozialversicherung – in Verbindung mit dem von ihr angeführten Rundschreiben vom 2. Juli 2004 im Hinblick auf die zwischenzeitlich erfolgte Vernichtung des Verwaltungsvorgangs fehl. Denn gemäß § 110b Abs. 1 SGB IV können Unterlagen, die für eine öffentliche-rechtliche Verwaltungstätigkeit einer Behörde nicht mehr erforderlich sind, nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen und weiteren, sich aus den Absätzen 2 und 3 ergebenden Maßgaben, vernichtet werden. Diese Voraussetzungen sind aber im Falle eines "ruhenden", mithin lediglich einvernehmlich nicht betriebenen Widerspruchsverfahrens nicht gegeben, insbesondere ist in dem vorliegenden Fall einer Betriebsprüfung beim Arbeitgeber nach § 28p Abs. 1 SGB IV keine Bestandskraft des angefochtenen und Gegenstand des Widerspruchsverfahrens bildenden Bescheides (vgl. insofern den von der Beklagten zitierten Auszug des vorgenannten Rundschreibens im Schriftsatz vom 2. Juni 2020) eingetreten. Anders, als die Beklagte weiter geltend macht, ergibt sich daraus, dass sie die Vernichtung der Unterlagen im Hinblick auf die vermeintliche, weil inzwischen nicht mehr feststellbare Rücknahme des Widerspruchs vorgenommen habe, auch keine sie unzulässig benachteiligende Beweislastumkehr. Vielmehr trägt ein Beteiligter, wenn wie hier weitere Möglichkeiten der Amtsermittlung gemäß § 103 SGG nicht zur Verfügung stehen (non liquet), grundsätzlich die Beweislast (objektive Feststellungslast) für diejenigen Tatsachen, zur deren Gunsten diese im Prozess wirken, zumal dann, wenn sie, welches vorliegend der Fall ist, in ihre Sphäre fallen (vgl. hierzu allgemein B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a.a.O. § 103 Rn. 19a; BSG, Urteile vom 1. Juli 2014 – B 1 KR 29/13 R – juris Rn. 14 und vom 16. Dezember 2008 – B 1 KN 2/08 KR R – juris Rn. 28). Das für einen Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses erforderliche Umstandsmoment folgt schließlich auch nicht daraus, dass zeitlich nachfolgend weitere Betriebsprüfungen bei der Klägerin durchgeführt worden seien. Ein sachlicher, insbesondere vertrauensbildender Zusammenhang zum gegenständlichen Widerspruchsverfahren ist insofern nicht erkennbar.
Die Untätigkeitsklage ist mangels zureichenden Grundes für eine sachliche Entscheidung seitens der Beklagten in angemessener Frist auch begründet. Jedenfalls mit dem anwaltlichen Schriftsatz vom 23. September 2013 hat die Klägerin zu erkennen gegeben, dass sie mit einem weiteren "Ruhen" nicht mehr einverstanden sei und nunmehr eine Bescheidung ihres Widerspruchs begehre. Eine sachliche Bescheidung durch die Beklagte ist seither indes nicht erfolgt. Die von ihr geltend gemachte Widerspruchsrücknahme wurde von der Klägerin, die offenbar im Hinblick auf den vollziehbaren Bescheid Zahlungen geleistet hatte, wie bereits dargestellt, mehrfach bestritten und konnte seitens der Beklagten nicht belegt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Tatbestand:
Streitig ist, ob Untätigkeit der Beklagten vorliegt.
Die Rechtsvorgängerin der Beklagten – die Landesversicherungsanstalt B, nachfolgend insgesamt: Beklagte – führte bei der Klägerin, einem Malerbetrieb, am 12. September 2002 eine Betriebsprüfung hinsichtlich des Zeitraums Januar 1998 bis Dezember 2001 durch. Mit Bescheid vom 2. Oktober 2002 setzte sie gegenüber der Klägerin eine Nachforderung in Höhe von 9.297,83 EUR fest mit der Begründung, die beitragsrechtliche Beurteilung der Entgelte und sonstigen Zuwendungen sei im Hinblick auf den allgemein geltenden Mindestlohn, der in Bezug auf die gesondert aufgeführten Personen unterschritten worden sei, nicht zutreffend erfolgt, so dass die auf den geschuldeten Arbeitslohn zu entrichtenden Sozialversicherungsbeiträge nachzufordern seien. Das gegen den Bescheid, den die Klägerin am 19. Oktober 2002 erhalten habe, gerichtete Widerspruchsschreiben vom 25. Oktober 2002 ging am 4. November 2002 bei der Beklagten ein. Einem von der früheren Steuerberaterin der Klägerin gestellten Ruhensantrag und Stundungsbegehren entsprach die Beklagte nicht, ohne in der Sache über den Widerspruch zu entscheiden (Bescheid vom 20. Januar 2003). Den beim Sozialgericht Cottbus am 20. Februar 2003 gestellten einstweiligen Rechtsschutzantrag – S 3 RJ 160/03 ER – nahm die Klägerin zurück (Erklärung vom 4. April 2003), nachdem sich die Beteiligten auf ein Ruhen des Widerspruchsverfahrens verständigt hatten.
Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 23. September 2013 erinnerte die Klägerin an die Bescheidung des Widerspruchs. Die Beklagte lehnte dies ab, weil der Widerspruch mit Schreiben vom 8. Dezember 2004 zurückgenommen worden, der Bescheid vom 23. September 2002 mithin bestandskräftig sei (Schreiben vom 27. September 2013 und vom 25. November 2013), welches die Klägerin ihrerseits bestritt (Schriftsatz des Bevollmächtigten der Klägerin vom 7. Oktober 2013).
Die Klägerin hat sodann am 18. November 2014 vor dem Sozialgericht Cottbus Untätigkeitsklage erhoben mit der Begründung, eine Rücknahme des Widerspruchs sei nicht erklärt worden und der Widerspruch ohne zureichenden Grund nicht beschieden. Die Forderung sei in Raten an die Innungskrankenkasse B (IKK) als Vollstreckungsbehörde in der Zeit von April bis Oktober 2005 abbezahlt worden, wozu sie im Hinblick auf das erfolglose Eilrechtsschutzverfahren verpflichtet gewesen sei.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 11. Oktober 2018 die Beklagte verpflichtet, über den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 2. Oktober 2002 zu entscheiden. Die Untätigkeitsklage sei zulässig, nachdem die Beklagte den Widerspruch der Klägerin, der nicht nachweislich von jener zurückgenommen worden sei, bisher nicht beschieden habe. Die Untätigkeitsklage sei auch nicht verwirkt. Sie sei zwar erst nach mehreren Jahren erhoben worden. Weitere Anhaltspunkte für eine Rechtsmissbräuchlichkeit seien aber nicht gegeben. Solche stellten auch nicht die Betriebsprüfungen von 2006 und 2010 dar, in denen die Klägerin nicht auf das offene Widerspruchsverfahren hingewiesen habe. Offensichtlich seien beide Beteiligten von einem weiteren Ruhen des gegenständlichen Widerspruchsverfahrens ausgegangen. Die Untätigkeitsklage sei auch begründet. Ein zureichender Grund für die Verzögerung sei weder vorgetragen noch ersichtlich.
Mit ihrer Berufung vom 8. November 2018 macht die Beklagte geltend, der Widerspruch sei ausweislich der nach Vernichtung des Vorgangs verbliebenen Restunterlagen mit Schreiben vom 8. Dezember 2004 zurückgenommen worden. Die Klägerin habe jedenfalls anlässlich der Betriebsprüfungen im Jahr 2006 und 2010 Anlass gehabt, den Verfahrensstand zu erfragen. Das Umstandsmoment liege angesichts der extremen Zeitspanne, die bereits ein Rechtsschutzbedürfnis ohne weitere Umstände ausschließe, neben der Vernichtung des Vorgangs in der Tatsache, dass die Klägerin den Forderungsbetrag an die IKK als Einzugsstelle gezahlt und die Beitragsforderung aus dem Bescheid vom 23. September 2002 am 15. April 2005 bei der IKK als offene Forderung verbucht worden sei.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 11. Oktober 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und ergänzt unter Bezugnahme auf eine entsprechende Email ihrer früheren Steuerberaterin vom 2. September 2020, dass diese über keine Unterlagen in Bezug auf den Vorgang mehr verfüge. Eine Widerspruchsrücknahme, die die Beklagte nicht durch Vorlage des entsprechenden Schreibens belegen könne, sei nicht erfolgt. Aufgrund der Betriebsprüfungen in den Jahren 2006 und 2010 habe sich kein Anlass ergeben, bei der Beklagten wegen des Widerspruchsverfahrens nachzufragen. Jedenfalls könne eine fehlende Nachfrage kein Vertrauen bei der Beklagten begründet haben. Angesichts des noch offenen Widerspruchsverfahrens bestehe ein Anspruch auf Bescheidung.
Die Beteiligten haben sich mit einer schriftlichen Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen, den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Gerichtsakte des Sozialgerichts Cottbus – S 3 RJ 160/03 ER – sowie den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige und insbesondere gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung der Beklagten – insofern ist für den Wert des Beschwerdegegenstandes bei der Untätigkeitsklage auf den Wert des erstrebten bzw. angefochtenen Verwaltungsaktes abzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 10. Oktober 2017 – B 12 KR 3/16 R – juris Rn. 14 m.w.N.) – über die der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden konnte (vgl. §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG), ist unbegründet. Das Sozialgericht hat auf die statthafte Untätigkeitsklage zu Recht und mit zutreffenden Gründen die Beklagte zur Bescheidung des am 4. November 2002 erhobenen Widerspruchs der Klägerin gegen den Bescheid der Landesversicherungsanstalt B vom 23. September 2002 verurteilt. Gemäß § 88 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 SGG ist eine Untätigkeitsklage u.a. zulässig, wenn über einen Widerspruch innerhalb der Sperrfrist von drei Monaten keine Entscheidung ergangen ist. Sie ist begründet, wenn es für die Nichtbescheidung an einem zureichenden Grund fehlt. So liegt es hier.
Soweit die Beklagte unter Hinweis auf einen entsprechenden Auszug aus ihrem Widerspruchsbuch (auf Bl. 24 der Gerichtsakte wird insofern Bezug genommen) geltend macht, der – bisher nicht beschiedene – Widerspruch sei mit einem Schreiben vom 8. Dezember 2004 zurückgenommen worden, kann dies, wie die Beklagte als insofern objektiv beweisbelastete Beteiligte selbst einräumt, mangels Vorlage des entsprechenden Schreibens der Klägerin, die eine Rücknahme des Widerspruchs bestreitet, bzw. eines Bevollmächtigten der Klägerin nicht zur vollen Überzeugung des Senats festgestellt werden. Eine Widerspruchsrücknahme ergibt sich auch nicht aus der vorgetragenen Abgabe der Forderungszuständigkeit an die IKK am 15. April 2005. Der Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 2. Oktober 2002 hatte bereits ausweislich des Bescheides keine aufschiebende Wirkung, und die Klägerin hatte ihren einstweiligen Rechtsschutzantrag im Verfahren vor dem SG Cottbus – S 3 RJ 160/03 ER – im April 2003 nach einer Einigung mit der Beklagten über ein "Ruhen" des Widerspruchsverfahrens zurückgenommen. Allein aufgrund dieser Umständen kann nicht im Vollbeweis eine Widerspruchsrücknahme festgestellt werden. Weitere Ermittlungsmöglichkeiten von Amts wegen drängen sich dem Senat, wie den Beteiligten mitgeteilt worden ist, nicht auf (§ 103 SGG).
Zwar kann das Rechtsschutzbedürfnis für eine (nunmehr, vgl. noch § 88 Abs. 2 Satz 2 in der bis 1976 geltenden und sodann gestrichenen Fassung [BGBl. I 2437]) grundsätzlich unbefristet zulässige (vgl. § 89 SGG analog) Untätigkeitsklage unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung entfallen (vgl. B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 88 Rn. 5c m.w.N.). Dies setzt jedoch voraus, dass die verspätete Geltendmachung gegen Treu und Glauben verstößt, etwa weil der Berechtigte sich verspätet auf das Recht beruft (Zeitmoment) und unter Verhältnissen untätig geblieben ist, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt (Umstandsmoment), so dass auch ein an sich unbefristeter Antrag deshalb nicht nach Belieben hinausgezögert oder verspätet gestellt werden kann, ohne unzulässig zu werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. März 2008 – 2 BvR 2111/07 u.a. – juris Rn. 25 m.w.N.). Das öffentliche Interesse an der Wahrung des Rechtsfriedens kann in derartigen Fällen verlangen, die Anrufung des Gerichts nach langer Zeit untätigen Zuwartens als unzulässig anzusehen (BVerfG, a.a.O.). Solches ist hier jedoch, wie vom Sozialgericht zutreffend ausgeführt worden ist, nicht der Fall.
Soweit die Beklagte insbesondere auf das vorliegende Zeitmoment hinweist – seit Erhebung des Widerspruchs bis zur Untätigkeitsklage sind zwölf Jahre vergangen, seit der "Ruhensvereinbarung" bis zum "Wiederaufgreifen" des Widerspruchsverfahrens ca. zehn Jahre – sind zwar umso geringere Anforderungen an das Vorliegen des Umstandsmoments zu stellen, je länger die Untätigkeit andauert. Indes setzt das Vorliegen eines Umstandsmoments voraus, dass dem Beteiligten eine frühere bzw. rechtzeitige Geltendmachung des Rechts möglich, zumutbar und von ihm auch zu erwarten gewesen wäre (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Dezember 2012 – 1 BvR 2862/11 u.a. – juris Rn. 3). Trotz des vorliegend verstrichenen Zeitraums von zehn bzw. zwölf Jahren seit Erhebung des Widerspruchs fehlt es vorliegend aber am Umstandsmoment. Denn die Beteiligten waren, wie bereits ausgeführt und was von ihnen nicht in Abrede gestellt wird, im April 2004 einvernehmlich übereingekommen, das gegenständliche Widerspruchsverfahren bis zu einer höchstrichterlichen Klärung "ruhen" zu lassen, mithin nicht zu betreiben. Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte das Verfahren seither ihrerseits wieder aufgenommen hätte oder zwischenzeitlich – spätestens vor der Aktenvernichtung – bei der Klägerin angefragt hätte, ob jene noch ein Interesse an einer Fortführung des Widerspruchsverfahrens hat (vgl. insofern BVerfG, Beschluss vom 27. Dezember 2012 – 1 BvR 2862/11 u.a. – a.a.O. Rn. 5 im Hinblick auf einen Zeitraum von mehr als 13 Jahren bis zur Erhebung der Untätigkeitsklage trotz erfolgloser Aufforderung der Behörde, der Widerspruchsführer solle schriftlich mitteilen, wenn er noch einen Widerspruchsbescheid wünsche), bestehen nicht. Solches hat die Beklagte selbst, und zwar aus ihrer Sicht angesichts der vermerkten Widerspruchsrücknahme nach-vollziehbar, nicht behauptet. Bei dieser Sachlage geht aber auch ihr Hinweis auf die Vorschriften der §§ 110a bis 110c Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) – Gemeinsame Vorschriften über die Sozialversicherung – in Verbindung mit dem von ihr angeführten Rundschreiben vom 2. Juli 2004 im Hinblick auf die zwischenzeitlich erfolgte Vernichtung des Verwaltungsvorgangs fehl. Denn gemäß § 110b Abs. 1 SGB IV können Unterlagen, die für eine öffentliche-rechtliche Verwaltungstätigkeit einer Behörde nicht mehr erforderlich sind, nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen und weiteren, sich aus den Absätzen 2 und 3 ergebenden Maßgaben, vernichtet werden. Diese Voraussetzungen sind aber im Falle eines "ruhenden", mithin lediglich einvernehmlich nicht betriebenen Widerspruchsverfahrens nicht gegeben, insbesondere ist in dem vorliegenden Fall einer Betriebsprüfung beim Arbeitgeber nach § 28p Abs. 1 SGB IV keine Bestandskraft des angefochtenen und Gegenstand des Widerspruchsverfahrens bildenden Bescheides (vgl. insofern den von der Beklagten zitierten Auszug des vorgenannten Rundschreibens im Schriftsatz vom 2. Juni 2020) eingetreten. Anders, als die Beklagte weiter geltend macht, ergibt sich daraus, dass sie die Vernichtung der Unterlagen im Hinblick auf die vermeintliche, weil inzwischen nicht mehr feststellbare Rücknahme des Widerspruchs vorgenommen habe, auch keine sie unzulässig benachteiligende Beweislastumkehr. Vielmehr trägt ein Beteiligter, wenn wie hier weitere Möglichkeiten der Amtsermittlung gemäß § 103 SGG nicht zur Verfügung stehen (non liquet), grundsätzlich die Beweislast (objektive Feststellungslast) für diejenigen Tatsachen, zur deren Gunsten diese im Prozess wirken, zumal dann, wenn sie, welches vorliegend der Fall ist, in ihre Sphäre fallen (vgl. hierzu allgemein B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a.a.O. § 103 Rn. 19a; BSG, Urteile vom 1. Juli 2014 – B 1 KR 29/13 R – juris Rn. 14 und vom 16. Dezember 2008 – B 1 KN 2/08 KR R – juris Rn. 28). Das für einen Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses erforderliche Umstandsmoment folgt schließlich auch nicht daraus, dass zeitlich nachfolgend weitere Betriebsprüfungen bei der Klägerin durchgeführt worden seien. Ein sachlicher, insbesondere vertrauensbildender Zusammenhang zum gegenständlichen Widerspruchsverfahren ist insofern nicht erkennbar.
Die Untätigkeitsklage ist mangels zureichenden Grundes für eine sachliche Entscheidung seitens der Beklagten in angemessener Frist auch begründet. Jedenfalls mit dem anwaltlichen Schriftsatz vom 23. September 2013 hat die Klägerin zu erkennen gegeben, dass sie mit einem weiteren "Ruhen" nicht mehr einverstanden sei und nunmehr eine Bescheidung ihres Widerspruchs begehre. Eine sachliche Bescheidung durch die Beklagte ist seither indes nicht erfolgt. Die von ihr geltend gemachte Widerspruchsrücknahme wurde von der Klägerin, die offenbar im Hinblick auf den vollziehbaren Bescheid Zahlungen geleistet hatte, wie bereits dargestellt, mehrfach bestritten und konnte seitens der Beklagten nicht belegt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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BRB
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