Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 93 AS 8292/20 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AS 1694/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
§ 36 Abs 2 S 1 SGB II i.V.m. § 12 a AufenthG begründen eine von § 36 Abs 1 SGB II abweichende örtliche Zuständigkeit auch bei Vorliegen der allgemeinen gesetzlichen Wohnsitzauflage nach § 12 a Abs 1 AufenthG.
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts vom 11. Dezember 2020 aufgehoben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung insgesamt abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin J F, Wplatz, B, gewährt.
Gründe:
Die Beschwerde des Antragsgegners hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 11. Dezember 2020 – mit dem der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet worden ist, der Antragstellerin für die Zeit vom 24. November 2020 bis zum 30. April 2021 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren – ist rechtswidrig und daher aufzuheben.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt somit voraus, dass ein materieller Anspruch besteht, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (sog. Anordnungsanspruch) und dass der Erlass einer gerichtlichen Entscheidung besonders eilbedürftig ist (sog. Anordnungsgrund). Der geltend gemachte (Anordnungs-)Anspruch und die Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung – ZPO). Für die Glaubhaftmachung genügt es, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund überwiegend wahrscheinlich sind. Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu ermitteln. Können ohne die Gewährung von Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung bzw. – wenn diese wegen notwendiger Ermittlungen im Eilrechtsschutzverfahren nicht durchführbar ist – eine Folgenabwägung erforderlich, die die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend einstellt (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 23. März 2020 – 2 BvR 2051/19 –, juris, m.w.N.). Auch bei Vornahmesachen ist einstweiliger Rechtsschutz jedenfalls dann zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (BVerfG, Beschluss vom 22. November 2002 – 1 BvR 1586/02 –, juris, m.w.N.). Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsgegner ist für den gemäß §§ 7 Abs. 1, 19 ff. SGB II geltend gemachten Leistungsanspruch nach § 36 Abs. 2 SGB II örtlich nicht zuständig.
Nach § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II ist für die Leistungen nach dem SGB II der Träger zuständig, in dessen Gebiet die leistungsberechtigte Person nach § 12 a Abs.1 bis 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) ihren Wohnsitz zu nehmen hat. Nach § 12 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist ein Asylberechtigter, Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter verpflichtet, für den Zeitraum von drei Jahren ab Anerkennung oder Erteilung der Aufenthaltserlaubnis in dem Land seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu nehmen, in das er zur Durchführung des Asylverfahrens zugewiesen worden ist. Aus der Fiktionsbescheinigung vom 6. August 2020 ergibt sich, dass die Antragstellerin ihren Wohnsitz in Thüringen zu nehmen hat. Eine konkret-individuelle Wohnsitzauflage bezogen auf einen bestimmten Wohnort (vgl. § 12 Abs. 2 und 3 AufenthG) ist vorliegend indes nicht ergangen. Dies ist der Antragstellerin allein günstig. Damit erstreckt sich das Gebiet, in dem die Antragstellerin ihren Wohnsitz zu nehmen hat, auf das gesamte Land Thüringen. Nur dort kann unter Berücksichtigung des insoweit begrenzten Freizügigkeitsrechts die Zuständigkeit eines Jobcenters begründet werden. Eine Zuständigkeit des Antragsgegners kommt danach unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt in Betracht.
Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts begründet § 12 a AufenthG eine von § 36 Abs. 1 SGB II abweichende örtliche Zuständigkeit des Leistungsträgers nicht nur bei der Erteilung einer konkret-individuellen Wohnsitzauflage nach § 12 a Abs. 2 oder 3 AufenthG, sondern auch bei Vorliegen der allgemeinen gesetzlichen Wohnsitzauflage des § 12 a Abs. 1 AufenthG. Die Auffassung des Sozialgerichts würde dazu führen, dass die Adressaten einer Wohnsitzauflage nach § 12 a Abs. 1 AufenthG ohne Konsequenzen ihren Wohnsitz unter Aufrechterhaltung des SGB II-Anspruches faktisch eigenmächtig frei wählen könnten. Dies widerspricht erkennbar Sinn und Zweck der §§ 36 SGB II, 12 a AufenthG (so auch Landessozial-gericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26. Juni 2017 – L 31 AS 618/17 B ER –, juris Rn. 15; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 21. September 2020 – L 10 AS 373/9 18 – BeckRS 2020, 2348 Rn. 45; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 5. März 2018 – L 15 AS 32/18 B ER –, juris Rn. 7; Böttiger, in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 36 Rn. 49c; Hlava, in Gagel, SGB II / SGB III, 79. EL September 2020, § 36 SGB II Rn. 35; vgl. ferner LSG Hamburg, Beschluss vom 8. Mai 2017 – L 4 AS 114/17 B ER –, juris Rn. 2). § 12 a AufenthG soll der Steuerung der Wohnsitzaufnahme von Schutzbedürftigen dienen. Mit der Wohnsitzregelung wird das Ziel einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik sowie die Vermeidung von integrationshemmender Segregation verfolgt (BT-Drucks. 18/8615, S. 42 f.). Im Ergebnis sollen die Lasten des Flüchtlingsstroms gleichmäßig auf alle Bundesländer verteilt werden (LSG Berlin-Brandenburg a. a. O.; LSG Mecklenburg-Vorpommern, a.a.O.; LSG Niedersachsen-Bremen, a. a. O.). Durch die Regelung des § 36 Abs. 2 SGB II soll § 12 a AufenthG leistungsrechtlich dadurch flankiert werden, dass die Personen, die einer Wohnsitzauflage unterliegen, nur dort, wo die Wohnsitznahme zulässig ist, SGB II-Leistungen beantragen und entgegennehmen können sollen (BT-Drucks. 18/8615, S. 33 f.). Auch dies verdeutlicht, dass der Leistungsberechtigte nicht entgegen einer bestehenden Wohnsitzauflage Leistungen nach dem SGB II an jedem beliebigen Wohnort in Deutschland in Anspruch nehmen kann.
Die vom Sozialgericht vertretene Auffassung, die positive Zuständigkeitsregelung des § 36 Abs. 2 SGB II solle nach der Vorstellung des Gesetzgebers nicht greifen, wenn nicht eine konkret-individuelle Wohnsitzauflage nach § 12 a Abs. 2 und 3 AufenthG vorliege (ebenso LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17. März 2017 – L 7 AS 228/17 B ER, juris Rn. 18, Beschluss vom 20. Januar 2017 – L 19 AS 2381/16 B ER –, juris Rn. 18, Beschluss vom 12. Dezember 2016 – L 7 AS 2184/16 B ER, L 7 AS 2185/16 B –, juris Rn. 12; Aubel, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 36 [Stand: 01.03.2020] Rn. 61; Hengelhaupt, in Hauck/Noftz, SGB II, 11/20, § 36 Rn. 297; Groth, in GK-SGB II, § 36 [Stand: April 2017] Rn. 56), ist vor die-sem Hintergrund nicht nachvollziehbar. Gegen die hier vertretene Auffassung wird vorgebracht, Aufgabe der Gesetzesauslegung sei es nicht, die "integrations- und sozialpolitisch einzig sinnvolle Auslegung" der § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II i.V.m. § 12 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu finden. Teleologischen Erwägungen komme nur Bedeutung zu, soweit sie sich aus Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte begründen ließen. Wortlaut und Systematik sprächen aber dagegen, dass § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II i.V.m. § 12 a Abs. 1 AufenthG die Zuständigkeit von Jobcentern außerhalb des zugewiesenen Landes insgesamt ausschließe. § 12 a AufenthG weise die ausländische Person nicht einem Jobcenter, sondern dem gesamten Staatsgebiet des Landes zu. Nach dem eindeutigen Wortlaut bestimme § 36 Ab. 2 Satz 1 SGB II jedoch nicht eine Vielzahl von Jobcentern. Vielmehr heiße es in dort lediglich "der Träger". Ein etwaiger entgegenstehender Wille habe im Gesetz keinen Ausdruck gefunden (Aubel, a.a.O., Rn. 57 f.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. Januar 2017 – L 19 AS 2381/16 B ER –, juris Rn. 18).
Gerade der Verweis auf den Wortlaut der gesetzlichen Regelung kann der hier vertretenen Auffassung nicht entgegengehalten werden. Denn der Wortlaut des § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II ist bestenfalls unklar (vgl. von Koppenfels-Spies, NZS 2017, 474 – Anm. zu LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17. März 2017 – L 7 AS 228/17 B ER –), wenn er nicht sogar eindeutig für die hier vertretene Auffassung spricht; denn § 36 Abs. 2 Satz 1, SGB II nimmt auf § 12 a AufenthG insgesamt Bezug, ohne nach konkret-individueller und allgemeiner Wohnsitzauflage zu unterscheiden. Ist bereits der Wortlaut (bestenfalls) unklar, verfängt auch das Argument nicht, ein etwaiger entgegenstehender Wille haben keinen Niederschlag im Gesetz gefunden. Zudem besteht in systematischer Hinsicht keine Diskrepanz zwischen der ein ganzes Bundesland betreffenden Wohnsitzauflage und dem in § 36 Abs. 2 SGB II geregelten örtlichen Zuständigkeitsbereich eines einzigen Jobcenters. Vielmehr dürfte es dem Gesetzgeber mit einer großzügigen, nur ein Bundesland und nicht nur einen bestimmten Wohnort betreffenden Auflage um die Erhaltung eines Restes an Freizügigkeit gegangen sein. Hinzu kommt, dass sich die Erteilung einer – wesentlich rigideren – Wohnsitzauflage nach § 12 a Abs. 2 und 3 AufenthG stets am Verhältnismäßigkeitsmaßstab messen lassen muss (LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O., Rn. 16; LSG Mecklenburg-Vorpommern, a.a.O., Rn. 46). Schließlich zeigt der Blick auf § 36 Abs. 2 Satz 2 SGB II – wonach bei Erteilung einer negativen Wohnsitzauflage nach § 12 a Abs. 4 AufenthG an diesem Ort auch keine Zuständigkeit des Jobcenters begründet werden kann – den eindeutigen Zusammenhang zwischen Wohnsitzauflage und zuständigem Jobcenter (vgl. LSG Berlin-Brandenburg a. a. O., Rn. 17; LSG Mecklenburg-Vorpommern, a.a.O., Rn. 46).
Sofern das Sozialgericht sich darauf stützt (ebenso Aubel, a.a.O., Rn. 60), die Annahme – solange der tatsächliche oder gewöhnliche Aufenthalt nicht in dem nach § 12 a Abs. 1 AufenthG zugewiesenen Land genommen werde, seien Leistungen abzulehnen – führe zu einer Rechtsfolge, die von den normalen Rechtsfolgen fehlender örtlicher Zuständigkeit abweiche, überzeugt dies nicht. Denn eine Weiterleitung des Antrags gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) an den zuständigen Leistungsträger hat auch dann zu erfolgen, wenn die ausländische Person der Wohnsitzauflage nach § 12 a Abs. 1 AufenthG nicht nachgekommen ist – und zwar entweder an den Leistungsträger, der örtlich zuständig ist, nachdem die ausländische Person ihren Wohnsitz in dem zugewiesenen Bundesland genommen hat, oder ggf. an den Leistungsträger, der vor Verlassen des zugewiesenen Bundeslandes ursprünglich zuständig war. Der ausländischen Person werden zwar insofern gewisse Mitwirkungspflichten gemäß §§ 60 ff. SGB I auferlegt (vgl. Fasselt, in Ehmann/Karmanski/Kuhn-Zuber, Gesamtkommentar SRB, 2. Aufl. 2018, § 36 SGB II Rn. 5), bevor eine Weiterleitung des Antrags möglich ist. So muss sie der Wohnsitzauflage nachkommen und ihren Wohnsitz in dem zugewiesenen Bundesland nehmen. Dies ist indes zumutbar und nach der gesetzgeberischen Konzeption auch gewollt. Im Übrigen wird teilweise die Ansicht vertreten, sowohl bei einem vorübergehenden als auch bei einem längeren Aufenthalt in einem anderen als dem zugewiesenen Bundesland sei – um die nichtbeabsichtigte Folge eines Leistungsausschlusses mangels bestimmbaren Leistungsträgers zu vermeiden – weiterhin der Träger örtlich zuständig, der vor dem Verlassen des Landes nach § 36 Abs. 1 AufenthG zuständig war (Hlava, a.a.O., Rn. 35; Hengelhaupt, a.a.O., Rn. 301).
Insofern verfängt auch das systematische Argument, § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II sei eine rein verfahrensrechtliche Norm ohne anspruchsregelnde Funktion (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17. März 2017 – L 7 AS 228/17 B ER –, juris Rn. 15, Beschluss vom 20. Januar 2017 – L 19 AS 2381/16 B ER –, juris Rn. 20; Aubel, a.a.O., Rn. 52; Hengelhaupt, a.a.O., Rn. 302), nicht. Denn über § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II kommt es – wie dargelegt – bei Fehlen einer konkret-individuellen Wohnsitzauflage grundsätzlich nur bei Verletzung der Mitwirkungspflichten zu einem materiell-rechtlichen Leistungsausschluss. Entscheidend ist jedoch, dass Personen, die einer Wohnsitzauflage unterliegen, diesem Leistungsausschluss nicht machtlos ausgeliefert sind. Sie haben es selbst in der Hand, der Wohnsitzauflage nachzukommen – wozu sie im Übrigen verpflichtet sind –, und können so den Leistungsausschluss verhindern.
Ferner verdeutlicht der Blick auf die Entstehungsgeschichte (BT-Drucks. 18/8615, S. 33 f., S. 42) den Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung. So sollen § 36 Abs. 2 SGB II i.V.m.§ 12 a AufenthG – wie dargelegt – sicherstellen, dass Personen, die einer Wohnsitzauflage unterliegen, nur dort, wo die Wohnsitznahme zulässig ist, Leistungen nach dem SG II beantragen und entgegennehmen können sollen. Dies zeigt, dass das teleologische Argument vor allem durch die historische Auslegung gestützt wird; dementsprechend kann es von ihr nicht losgelöst betrachtet und ihr schon gar nicht als gegensätzlich gegenübergestellt werden.
Das von der Antragstellerin in Hinblick auf die Wohnsitzauflage bereits eingeleitete Aufhebungsverfahren bei der Ausländerbehörde der Stadt Suhl führt zu keiner abweichenden Beurteilung. Der ausländerrechtlichen Wohnsitzauflage kommt Tatbestandswirkung zu (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 2. Dezember 2014 – B 14 AS 8/13 R –, juris Rn. 12; Aubel, a.a.O., Rn. 49; Groth, a.a.O., Rn. 57). Das Gericht hat daher nicht zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Aufhebung der Wohnsitzauflage – hier die geltend gemachten gesundheitlichen und sozialen Härtefallgründe – nach § 12 a Abs. 5 AufenthG vorliegen (vgl. Groth, a.a.O.). Insofern ist auch die Auffassung der Antragstellerin, die Wohnsitzauflage sei aufzuheben, weil die Zustimmung des Antragsgegners als erteilt gelte, unbeachtlich.
Der Antragstellerin sind die begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts schließlich nicht im Wege einer Folgenabwägung zu gewähren. Eine Versagung der Leistungen würde die Antragstellerin lediglich veranlassen, der Wohnsitzauflage nachzukommen. Dies dürfte auch unter Berücksichtigung der von der Antragstellerin vorgetragenen gesundheitlichen und sozialen Beeinträchtigungen kein schwerer und unzumutbarer, anders nicht abwendbarer Nachteil bzw. keine Grundrechtsverletzung sein. Denn ausweislich der vorliegenden ärztlichen Unterlagen leidet die Antragstellerin aktuell nicht an einer schwerwiegenden Erkrankung, die es ihr unmöglich macht, ihrer Wohnsitzauflage nachzukommen. Eine Behandlung der psychischen und physischen Leiden der Antragstellerin ist auch in Thüringen möglich. Der Wunsch der Antragstellerin, in der Nähe ihrer Schwester zu bleiben, ist verständlich und nachvollziehbar. Die Versagung dieses Wunsches dürfte indes nicht zu einem schweren und unzumutbaren Nachteil für die Antragstellerin führen, zumal den ausländerrechtlichen Verwaltungsentscheidungen Tatbestandswirkung zukommt (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 12).
Der Antragsgegner wird zu prüfen haben, ob der Antrag der Antragstellerin vom 9. November 2020 auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I i.V.m. § 2 Abs. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch an das Jobcenter Suhl weiterzuleiten ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.
Die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe folgt aus § 73 a SGG i.V.m. §§ 114, 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Gründe:
Die Beschwerde des Antragsgegners hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 11. Dezember 2020 – mit dem der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet worden ist, der Antragstellerin für die Zeit vom 24. November 2020 bis zum 30. April 2021 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren – ist rechtswidrig und daher aufzuheben.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt somit voraus, dass ein materieller Anspruch besteht, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (sog. Anordnungsanspruch) und dass der Erlass einer gerichtlichen Entscheidung besonders eilbedürftig ist (sog. Anordnungsgrund). Der geltend gemachte (Anordnungs-)Anspruch und die Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung – ZPO). Für die Glaubhaftmachung genügt es, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund überwiegend wahrscheinlich sind. Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu ermitteln. Können ohne die Gewährung von Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung bzw. – wenn diese wegen notwendiger Ermittlungen im Eilrechtsschutzverfahren nicht durchführbar ist – eine Folgenabwägung erforderlich, die die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend einstellt (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 23. März 2020 – 2 BvR 2051/19 –, juris, m.w.N.). Auch bei Vornahmesachen ist einstweiliger Rechtsschutz jedenfalls dann zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (BVerfG, Beschluss vom 22. November 2002 – 1 BvR 1586/02 –, juris, m.w.N.). Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsgegner ist für den gemäß §§ 7 Abs. 1, 19 ff. SGB II geltend gemachten Leistungsanspruch nach § 36 Abs. 2 SGB II örtlich nicht zuständig.
Nach § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II ist für die Leistungen nach dem SGB II der Träger zuständig, in dessen Gebiet die leistungsberechtigte Person nach § 12 a Abs.1 bis 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) ihren Wohnsitz zu nehmen hat. Nach § 12 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist ein Asylberechtigter, Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter verpflichtet, für den Zeitraum von drei Jahren ab Anerkennung oder Erteilung der Aufenthaltserlaubnis in dem Land seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu nehmen, in das er zur Durchführung des Asylverfahrens zugewiesen worden ist. Aus der Fiktionsbescheinigung vom 6. August 2020 ergibt sich, dass die Antragstellerin ihren Wohnsitz in Thüringen zu nehmen hat. Eine konkret-individuelle Wohnsitzauflage bezogen auf einen bestimmten Wohnort (vgl. § 12 Abs. 2 und 3 AufenthG) ist vorliegend indes nicht ergangen. Dies ist der Antragstellerin allein günstig. Damit erstreckt sich das Gebiet, in dem die Antragstellerin ihren Wohnsitz zu nehmen hat, auf das gesamte Land Thüringen. Nur dort kann unter Berücksichtigung des insoweit begrenzten Freizügigkeitsrechts die Zuständigkeit eines Jobcenters begründet werden. Eine Zuständigkeit des Antragsgegners kommt danach unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt in Betracht.
Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts begründet § 12 a AufenthG eine von § 36 Abs. 1 SGB II abweichende örtliche Zuständigkeit des Leistungsträgers nicht nur bei der Erteilung einer konkret-individuellen Wohnsitzauflage nach § 12 a Abs. 2 oder 3 AufenthG, sondern auch bei Vorliegen der allgemeinen gesetzlichen Wohnsitzauflage des § 12 a Abs. 1 AufenthG. Die Auffassung des Sozialgerichts würde dazu führen, dass die Adressaten einer Wohnsitzauflage nach § 12 a Abs. 1 AufenthG ohne Konsequenzen ihren Wohnsitz unter Aufrechterhaltung des SGB II-Anspruches faktisch eigenmächtig frei wählen könnten. Dies widerspricht erkennbar Sinn und Zweck der §§ 36 SGB II, 12 a AufenthG (so auch Landessozial-gericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26. Juni 2017 – L 31 AS 618/17 B ER –, juris Rn. 15; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 21. September 2020 – L 10 AS 373/9 18 – BeckRS 2020, 2348 Rn. 45; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 5. März 2018 – L 15 AS 32/18 B ER –, juris Rn. 7; Böttiger, in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 36 Rn. 49c; Hlava, in Gagel, SGB II / SGB III, 79. EL September 2020, § 36 SGB II Rn. 35; vgl. ferner LSG Hamburg, Beschluss vom 8. Mai 2017 – L 4 AS 114/17 B ER –, juris Rn. 2). § 12 a AufenthG soll der Steuerung der Wohnsitzaufnahme von Schutzbedürftigen dienen. Mit der Wohnsitzregelung wird das Ziel einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik sowie die Vermeidung von integrationshemmender Segregation verfolgt (BT-Drucks. 18/8615, S. 42 f.). Im Ergebnis sollen die Lasten des Flüchtlingsstroms gleichmäßig auf alle Bundesländer verteilt werden (LSG Berlin-Brandenburg a. a. O.; LSG Mecklenburg-Vorpommern, a.a.O.; LSG Niedersachsen-Bremen, a. a. O.). Durch die Regelung des § 36 Abs. 2 SGB II soll § 12 a AufenthG leistungsrechtlich dadurch flankiert werden, dass die Personen, die einer Wohnsitzauflage unterliegen, nur dort, wo die Wohnsitznahme zulässig ist, SGB II-Leistungen beantragen und entgegennehmen können sollen (BT-Drucks. 18/8615, S. 33 f.). Auch dies verdeutlicht, dass der Leistungsberechtigte nicht entgegen einer bestehenden Wohnsitzauflage Leistungen nach dem SGB II an jedem beliebigen Wohnort in Deutschland in Anspruch nehmen kann.
Die vom Sozialgericht vertretene Auffassung, die positive Zuständigkeitsregelung des § 36 Abs. 2 SGB II solle nach der Vorstellung des Gesetzgebers nicht greifen, wenn nicht eine konkret-individuelle Wohnsitzauflage nach § 12 a Abs. 2 und 3 AufenthG vorliege (ebenso LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17. März 2017 – L 7 AS 228/17 B ER, juris Rn. 18, Beschluss vom 20. Januar 2017 – L 19 AS 2381/16 B ER –, juris Rn. 18, Beschluss vom 12. Dezember 2016 – L 7 AS 2184/16 B ER, L 7 AS 2185/16 B –, juris Rn. 12; Aubel, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 36 [Stand: 01.03.2020] Rn. 61; Hengelhaupt, in Hauck/Noftz, SGB II, 11/20, § 36 Rn. 297; Groth, in GK-SGB II, § 36 [Stand: April 2017] Rn. 56), ist vor die-sem Hintergrund nicht nachvollziehbar. Gegen die hier vertretene Auffassung wird vorgebracht, Aufgabe der Gesetzesauslegung sei es nicht, die "integrations- und sozialpolitisch einzig sinnvolle Auslegung" der § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II i.V.m. § 12 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu finden. Teleologischen Erwägungen komme nur Bedeutung zu, soweit sie sich aus Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte begründen ließen. Wortlaut und Systematik sprächen aber dagegen, dass § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II i.V.m. § 12 a Abs. 1 AufenthG die Zuständigkeit von Jobcentern außerhalb des zugewiesenen Landes insgesamt ausschließe. § 12 a AufenthG weise die ausländische Person nicht einem Jobcenter, sondern dem gesamten Staatsgebiet des Landes zu. Nach dem eindeutigen Wortlaut bestimme § 36 Ab. 2 Satz 1 SGB II jedoch nicht eine Vielzahl von Jobcentern. Vielmehr heiße es in dort lediglich "der Träger". Ein etwaiger entgegenstehender Wille habe im Gesetz keinen Ausdruck gefunden (Aubel, a.a.O., Rn. 57 f.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. Januar 2017 – L 19 AS 2381/16 B ER –, juris Rn. 18).
Gerade der Verweis auf den Wortlaut der gesetzlichen Regelung kann der hier vertretenen Auffassung nicht entgegengehalten werden. Denn der Wortlaut des § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II ist bestenfalls unklar (vgl. von Koppenfels-Spies, NZS 2017, 474 – Anm. zu LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17. März 2017 – L 7 AS 228/17 B ER –), wenn er nicht sogar eindeutig für die hier vertretene Auffassung spricht; denn § 36 Abs. 2 Satz 1, SGB II nimmt auf § 12 a AufenthG insgesamt Bezug, ohne nach konkret-individueller und allgemeiner Wohnsitzauflage zu unterscheiden. Ist bereits der Wortlaut (bestenfalls) unklar, verfängt auch das Argument nicht, ein etwaiger entgegenstehender Wille haben keinen Niederschlag im Gesetz gefunden. Zudem besteht in systematischer Hinsicht keine Diskrepanz zwischen der ein ganzes Bundesland betreffenden Wohnsitzauflage und dem in § 36 Abs. 2 SGB II geregelten örtlichen Zuständigkeitsbereich eines einzigen Jobcenters. Vielmehr dürfte es dem Gesetzgeber mit einer großzügigen, nur ein Bundesland und nicht nur einen bestimmten Wohnort betreffenden Auflage um die Erhaltung eines Restes an Freizügigkeit gegangen sein. Hinzu kommt, dass sich die Erteilung einer – wesentlich rigideren – Wohnsitzauflage nach § 12 a Abs. 2 und 3 AufenthG stets am Verhältnismäßigkeitsmaßstab messen lassen muss (LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O., Rn. 16; LSG Mecklenburg-Vorpommern, a.a.O., Rn. 46). Schließlich zeigt der Blick auf § 36 Abs. 2 Satz 2 SGB II – wonach bei Erteilung einer negativen Wohnsitzauflage nach § 12 a Abs. 4 AufenthG an diesem Ort auch keine Zuständigkeit des Jobcenters begründet werden kann – den eindeutigen Zusammenhang zwischen Wohnsitzauflage und zuständigem Jobcenter (vgl. LSG Berlin-Brandenburg a. a. O., Rn. 17; LSG Mecklenburg-Vorpommern, a.a.O., Rn. 46).
Sofern das Sozialgericht sich darauf stützt (ebenso Aubel, a.a.O., Rn. 60), die Annahme – solange der tatsächliche oder gewöhnliche Aufenthalt nicht in dem nach § 12 a Abs. 1 AufenthG zugewiesenen Land genommen werde, seien Leistungen abzulehnen – führe zu einer Rechtsfolge, die von den normalen Rechtsfolgen fehlender örtlicher Zuständigkeit abweiche, überzeugt dies nicht. Denn eine Weiterleitung des Antrags gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) an den zuständigen Leistungsträger hat auch dann zu erfolgen, wenn die ausländische Person der Wohnsitzauflage nach § 12 a Abs. 1 AufenthG nicht nachgekommen ist – und zwar entweder an den Leistungsträger, der örtlich zuständig ist, nachdem die ausländische Person ihren Wohnsitz in dem zugewiesenen Bundesland genommen hat, oder ggf. an den Leistungsträger, der vor Verlassen des zugewiesenen Bundeslandes ursprünglich zuständig war. Der ausländischen Person werden zwar insofern gewisse Mitwirkungspflichten gemäß §§ 60 ff. SGB I auferlegt (vgl. Fasselt, in Ehmann/Karmanski/Kuhn-Zuber, Gesamtkommentar SRB, 2. Aufl. 2018, § 36 SGB II Rn. 5), bevor eine Weiterleitung des Antrags möglich ist. So muss sie der Wohnsitzauflage nachkommen und ihren Wohnsitz in dem zugewiesenen Bundesland nehmen. Dies ist indes zumutbar und nach der gesetzgeberischen Konzeption auch gewollt. Im Übrigen wird teilweise die Ansicht vertreten, sowohl bei einem vorübergehenden als auch bei einem längeren Aufenthalt in einem anderen als dem zugewiesenen Bundesland sei – um die nichtbeabsichtigte Folge eines Leistungsausschlusses mangels bestimmbaren Leistungsträgers zu vermeiden – weiterhin der Träger örtlich zuständig, der vor dem Verlassen des Landes nach § 36 Abs. 1 AufenthG zuständig war (Hlava, a.a.O., Rn. 35; Hengelhaupt, a.a.O., Rn. 301).
Insofern verfängt auch das systematische Argument, § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II sei eine rein verfahrensrechtliche Norm ohne anspruchsregelnde Funktion (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17. März 2017 – L 7 AS 228/17 B ER –, juris Rn. 15, Beschluss vom 20. Januar 2017 – L 19 AS 2381/16 B ER –, juris Rn. 20; Aubel, a.a.O., Rn. 52; Hengelhaupt, a.a.O., Rn. 302), nicht. Denn über § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II kommt es – wie dargelegt – bei Fehlen einer konkret-individuellen Wohnsitzauflage grundsätzlich nur bei Verletzung der Mitwirkungspflichten zu einem materiell-rechtlichen Leistungsausschluss. Entscheidend ist jedoch, dass Personen, die einer Wohnsitzauflage unterliegen, diesem Leistungsausschluss nicht machtlos ausgeliefert sind. Sie haben es selbst in der Hand, der Wohnsitzauflage nachzukommen – wozu sie im Übrigen verpflichtet sind –, und können so den Leistungsausschluss verhindern.
Ferner verdeutlicht der Blick auf die Entstehungsgeschichte (BT-Drucks. 18/8615, S. 33 f., S. 42) den Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung. So sollen § 36 Abs. 2 SGB II i.V.m.§ 12 a AufenthG – wie dargelegt – sicherstellen, dass Personen, die einer Wohnsitzauflage unterliegen, nur dort, wo die Wohnsitznahme zulässig ist, Leistungen nach dem SG II beantragen und entgegennehmen können sollen. Dies zeigt, dass das teleologische Argument vor allem durch die historische Auslegung gestützt wird; dementsprechend kann es von ihr nicht losgelöst betrachtet und ihr schon gar nicht als gegensätzlich gegenübergestellt werden.
Das von der Antragstellerin in Hinblick auf die Wohnsitzauflage bereits eingeleitete Aufhebungsverfahren bei der Ausländerbehörde der Stadt Suhl führt zu keiner abweichenden Beurteilung. Der ausländerrechtlichen Wohnsitzauflage kommt Tatbestandswirkung zu (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 2. Dezember 2014 – B 14 AS 8/13 R –, juris Rn. 12; Aubel, a.a.O., Rn. 49; Groth, a.a.O., Rn. 57). Das Gericht hat daher nicht zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Aufhebung der Wohnsitzauflage – hier die geltend gemachten gesundheitlichen und sozialen Härtefallgründe – nach § 12 a Abs. 5 AufenthG vorliegen (vgl. Groth, a.a.O.). Insofern ist auch die Auffassung der Antragstellerin, die Wohnsitzauflage sei aufzuheben, weil die Zustimmung des Antragsgegners als erteilt gelte, unbeachtlich.
Der Antragstellerin sind die begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts schließlich nicht im Wege einer Folgenabwägung zu gewähren. Eine Versagung der Leistungen würde die Antragstellerin lediglich veranlassen, der Wohnsitzauflage nachzukommen. Dies dürfte auch unter Berücksichtigung der von der Antragstellerin vorgetragenen gesundheitlichen und sozialen Beeinträchtigungen kein schwerer und unzumutbarer, anders nicht abwendbarer Nachteil bzw. keine Grundrechtsverletzung sein. Denn ausweislich der vorliegenden ärztlichen Unterlagen leidet die Antragstellerin aktuell nicht an einer schwerwiegenden Erkrankung, die es ihr unmöglich macht, ihrer Wohnsitzauflage nachzukommen. Eine Behandlung der psychischen und physischen Leiden der Antragstellerin ist auch in Thüringen möglich. Der Wunsch der Antragstellerin, in der Nähe ihrer Schwester zu bleiben, ist verständlich und nachvollziehbar. Die Versagung dieses Wunsches dürfte indes nicht zu einem schweren und unzumutbaren Nachteil für die Antragstellerin führen, zumal den ausländerrechtlichen Verwaltungsentscheidungen Tatbestandswirkung zukommt (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 12).
Der Antragsgegner wird zu prüfen haben, ob der Antrag der Antragstellerin vom 9. November 2020 auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I i.V.m. § 2 Abs. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch an das Jobcenter Suhl weiterzuleiten ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.
Die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe folgt aus § 73 a SGG i.V.m. §§ 114, 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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