L 4 V 416/76

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 V 416/76
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufungen der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 20. Januar 1976 werden zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin zu 1) ist die Witwe, der Kläger zu 2) die Waise des am 9. September 1915 geborenen und am 8. August 1970 durch Selbsttötung (Erschießen mit einem Gewehr) aus dem Leben geschiedenen Beschädigten W. B ... Bei diesem waren auf Grund eines Teilanerkenntnisses des Beklagten vom 7. Februar 1946 im Klageverfahren VersV 4734/54 vor dem Sozialgericht Darmstadt in Abänderung bzw. Ergänzung früherer Bescheide die Gesundheitsstörungen: "1. Weichteilnarben im Gesicht, nervöse Beschwerden nach Gehirnerschütterung und Verlust des zentralen Sehens rechts, 2. Verlust linker Oberarm, geringe Bewegungseinschränkung linkes Schultergelenk, Muskelschwund und Nervenschmerzen im linken Schultergürtel, Narben linker Unterschenkel, 3. rheumatische Beschwerden in den Gelenken der rechten Körperseite” als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 80 v.H. anerkannt. Mit einem im September 1958 gestellten Neufeststellungsantrag begehrte der Beschädigte zusätzlich Anerkennung von LWS-Beschwerden als weitere Schädigungsfolge. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 29. Februar 1960 abgelehnt. Die nach durchgeführtem Widerspruchsverfahren hiergegen erhobene Klage war mit Urteil des Sozialgerichts Gießen (S-8/V-1633/60) vom 12. Juni 1960 abgewiesen worden. Im sich anschließenden Berufungsverfahren vor dem Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt (L-8/V-153/62) erklärte sich der Beklagte in der mündlichen Verhandlung des 8. Senates am 15. Dezember 1964 bereit, eine Neuprüfung der Schädigungsfolgen vorzunehmen und hierbei insbesondere zu prüfen, ob die Trigeminusneuralgie als Schädigungsfolge anzuerkennen sei. Daraufhin hatte der Beschädigte seine Berufung zurückgenommen.

In dem nervenfachärztlichen Gutachten vom 7. Juli 1965 kam Dr. H., Versorgungsärztliche Untersuchungsstelle (VUSt) F., zu dem Ergebnis, daß in den anerkannten Schädigungsfolgen insofern eine wesentliche Änderung eingetreten sei, als der Zustand des linken Armes sich dahingehend verschlechtert habe, daß die narbenbedingten Bewegungsbehinderungen zugenommen hätten und ein Amputations-Neurom vorliege. Demgegenüber ließen sich die schmerzhaften Sensationen im Bereich des 2. Trigeminusastes rechts nicht mit der erlittenen Gesichtsverletzung in einen ursächlichen Zusammenhang bringen. Auch seien die Schädigungsfolgen nicht geeignet, ein besonderes berufliches Betroffensein in dem Beruf als Forstmeister zu verursachen. Aus den Personalakten ergebe sich, daß der Beschädigte vorwiegend wegen mangelnder fachlicher Leistungen und schwieriger Verhaltensweisen bisher am beruflichen Aufstieg (Ernennung zum Dienststellenleiter eines selbständigen Forstamtes) ausgeschlossen worden sei. Jedoch werde nach der letzten dienstlichen Beurteilung vom 28. Januar 1964 nunmehr eine günstigere Beurteilung abgegeben und vorgeschlagen, ihm durch Übertragung eines Forstamtes Gelegenheit zu geben, sich als Revier-Verwalter zu bewähren.

Mit Neufeststellungsbescheid des Beklagten vom 13. November 1965 waren nunmehr die Gesundheitsstörungen "1. Reizlose Narben vom rechten Jochbein zur rechten Schläfenseite. Reizlose Narbe oberhalb der rechten Augenbraue, in der Mitte der Stirn bis zum Haaransatz und reizlose Narbe an der linken Wange mit kleinen Metallsplitterchen in der Kopfschwarte der rechten Schädelhälfte und in den Gesichtsweichteilen links. Prellungsverletzung des rechten Auges mit Lochbildung der Netzhautmitte und Ausfall des zentralen sowie teilweise des oberen Gesichtsfeldes. 2. Absetzung des linken Oberarmes am Übergang vom mittleren zum unteren Drittel. Deutliche Bewegungsbehinderung im linken Schultergelenk infolge Gelenkfehlstellung und hindernder Narbe im Bereich der vorderen Achselfalte. Verbildung des linken Schlüsselbeins und posttraumatische Veränderungen am linken Rabenschnabel und oberen Schulterblattrand. Muskelschwund und Nervenschmerzen im linken Schultergürtelbereich. Amputations-Neurom. Narben am linken Bein. 3. Rheumatische Beschwerden in den Gelenken der rechten Körperseite” als Schädigungsfolgen nach dem BVG mit einer MdE von 90 v.H. anerkannt. Mit weiterem Bescheid vom 11. November 1965 war u.a. die begehrte Anerkennung der Trigeminusneuralgie, der Augenbeschwerden und der Kopfschmerzen als weitere Schädigungsfolgen abgelehnt worden. Die diesbezügliche Klage (S-8/V-637/66) hatte das Sozialgericht Gießen mit Urteil vom 7. Januar 1969 abgewiesen. Die hiergegen erhobene Berufung haben die Kläger als Rechtsnachfolger des am 8. August 1970 aus dem Leben geschiedenen Beschädigten im Oktober 1971 zurückgenommen.

Am 6. August 1970 hatte sich der Beschädigte wegen seiner heftigen Schmerzen einer eingehenden 4 1/2 Stunden andauernden Untersuchung durch Prof. Dr. E., dem Direktor der Neurologischen Universitätsklinik G., unterzogen. Prof. Dr. E. hatte hierbei die Diagnose einer Hypaesthesia dolorosa nach unvollständiger Trigeminusausschaltung des II. und III. Trigeminusastes gestellt. Aus seinem an Dr. D. N., gerichteten Arztbrief vom 10. August 1970 ergibt sich, daß Prof. Dr. E. dem Beschädigten klarzumachen versucht hat, daß alles darauf ankomme, den Schmerzmittelabusus abzustellen. Eine stationäre Beobachtung und Behandlung habe nur im Rahmen einer psychiatrischen und psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung einen Sinn. Er habe deshalb dem Beschädigten empfohlen, sich stationär im psychiatrischen Krankenhaus bei Herrn Prof. D. aufnehmen zu lassen.

Am 8. August 1970 hat sich der Beschädigte gegen 3.00 Uhr nachts in seiner Wohnung mit einem Gewehr selbst erschossen. Am vorhergehenden Abend des 7. August 1970 hatte er im Rahmen eines Telefongespräches mit Frau M. M., N., in erregtem Zustand erklärt, daß ihm Prof. E. gesagt habe, er solle in die psychiatrische Abteilung gehen. Für die ihn behandelnden Ärzte sei er nur ein Versuchskaninchen gewesen, und die Ärzte ließen ihn jetzt mit seiner Krankheit alleine.

Im September 1970 beantragte die Klägerin zu 1) Gewährung von Bestattungsgeld und im Oktober 1970 Hinterbliebenenrente. Auf Antrage teilte Prof. Dr. E. in seinem an Dr. H., Versorgungsärztliche Untersuchungsstelle F., gerichteten Arztbrief vom 25. Januar 1971 mit, er zweifele nicht daran, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Trigeminusneuralgie und der schweren Contusio, die auch zu einer Contusio des rechtes Auges und einer Verletzung an der rechten Orbita und Felsenbeinspitze geführt habe, bestehe. Aber auch wenn man eine Anerkennung der Trigeminusneuralgie als Kriegsverletzungsfolge ablehne, so bleibe dennoch ein sicherer ursächlicher Zusammenhang zwischen Kriegsverletzungsfolge und Tod, denn der Schmerzmittelabusus sei ja Folge der schweren Plexusverletzung links gewesen, die schließlich zur Amputation des linken Armes 1948 geführt habe. Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. kam in seiner versorgungsärztlichen Äußerung vom 7. Januar 1972 zu dem Ergebnis, dieser Ansicht Prof. Dr. E. könne nicht zugestimmt werden. Auf Grund seines ausführlichen nervenärztlichen Gutachtens vom 7. Juli 1965 sei bei der weiteren Beurteilung davon auszugehen, daß die Trigeminusneuralgie keine Schädigungsfolge gewesen sei. Aus den vorliegenden Unterlagen ergebe sich eindeutig, daß der Beschädigte wegen der schädigungsunabhängigen Trigeminusneuralgie und der damit verbundenen sehr heftigen Schmerzen geglaubt habe, diese nicht mehr ertragen zu können, zumal verschiedene therapeutische Maßnahmen zu keinem Erfolg geführt hätten und er sich einer angeratenen psychiatrischen Behandlung nicht habe unterziehen wollen. Es sei daher davon auszugehen, daß bei dem Beschädigten zum Zeitpunkt der Suizidhandlung die freie Willensbestimmung wesentlich beeinträchtigt gewesen sei und zwar durch den Zustand subjektiver Hoffnungslosigkeit als Folge der Trigeminusneuralgie mit ihren mannigfachen Auswirkungen. Die anerkannten Schädigungsfolgen seien für diesen Geschehensablauf nicht erkennbar von wesentlicher ursächlicher Bedeutung gewesen, so daß die Voraussetzungen der Verwaltungsvorschrift Nr. 11 zu § 1 BVG nicht als erfüllt anzusehen seien. Der Tod (Suizid) stehe mit den anerkannten Schädigungsfolgen nicht in einem ursächlichen Zusammenhang im Sinne der Kausalitätsnorm des BVG.

Mit Bescheid vom 15. März 1972 bewilligte der Beklagte daraufhin nur das halbe Bestattungsgeld, weil die Todesursache mit den anerkannten Schädigungsfolgen nicht in ursächlichem Zusammenhang gestanden habe. Den gegen diesen Bescheid erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16. Oktober 1972 zurück. Hiergegen richtete sich die beim Sozialgericht Gießen am 1. November 1972 erhobene Klage (S-8/V-235/72).

Am 12. April 1972 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Witwenrente ab. Dem Widerspruch half er mit Widerspruchsbescheid vom 17. Oktober 1972 nicht ab. Hiergegen richtete sich die beim Sozialgericht Gießen ebenfalls am 1. November 1972 erhobene Klage (S-8/V-234/72).

Mit weiterem dem Kläger zu 2) erteilten Bescheides vom 13. April 1972 lehnte der Beklagte die Gewährung von Waisenrente ab; den Widerspruch wies er mit Widerspruchsbescheid vom 18. Oktober 1972 zurück. Hiergegen richtete sich die gleichfalls am 1. November 1972 beim Sozialgericht Gießen erhobene Klage (S-8/V-233/72).

Das Sozialgericht Gießen hatte mit Beschluss vom 18. Juni 1974 den Rechtsstreit S-8/V-235/72 (Bestattungsgeld) und den Rechtsstreit S-8/V-233/72 (Waisenrente) sowie den Rechtsstreit S-8/V-234/72 (Witwenrente) zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung unter dem Aktenzeichen S-8/V-234/72 verbunden. Mit Urteil vom 20. Januar 1976 wies das Sozialgericht die Klage ab. Ein ursächlicher Zusammenhang der Selbsttötung des Beschädigten mit den Schädigungsfolgen könne nicht wahrscheinlich gemacht werden. Aus dem zeitnahen Befundbericht des inzwischen verstorbenen Prof. Dr. E. vom 10. August 1970 sei eindeutig zu entnehmen, daß organbedingte Schmerzzustände schädigungsbedingter Art nicht hätten festgestellt werden können. Die spätere Darstellung Prof. Dr. E. vom 25. Januar 1971, nach welcher schädigungsbedingte Gründe zu den schmerzhaften Trigeminusneuralgien geführt hätten, überzeuge demgegenüber nicht.

Gegen das den Klägern am 23. April 1976 zugestellte Urteil richtet sich die am 17. Mai 1976 bei dem Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingegangene Berufung. Die Kläger sind weiterhin der Auffassung, daß der Suizid des Beschädigten auf die Schädigungsfolgen zurückzuführen ist.

Die Kläger beantragen,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 20. Januar 1976 und die Bescheide vom 12. und 13. April 1972 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 17. und 18. Oktober 1972 aufzuheben und den Bescheid vom 15. März 1972 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Oktober 1972 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin zu 1) das volle Bestattungsgeld und Witwenrente und dem Kläger zu 2) Waisenrente ab 1. September 1970 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Richters am Verwaltungsgericht Dr. G. sowie durch Vernehmung der Frau M. als Zeugen. Dr. G. hat bekundet, daß er die Familie B. seit Herbst 1960 kenne, weil er dem ältesten Sohn J. Nachhilfeunterricht gegeben habe. Er habe sich auch des öfteren mit dem Beschädigten unterhalten. Wenn das Gespräch etwa 1/2 Stunde gedauert habe, habe der Beschädigte so starke Schmerzen im Gesicht gehabt, daß er das Gespräch habe abbrechen und sich hinlegen müssen. Der Beschädigte habe ihm gegenüber erklärt, er habe diese Gesichtsschmerzen ständig und ihm gelinge es nur, diese Schmerzen etwa für 1/2 Stunde zu unterdrücken. Außerdem habe er noch Schmerzen am Amputationsstumpf, die aber für seinen Gesamtzustand keine Rolle spielten. Der Beschädigte habe die Auffassung vertreten, daß seine Schmerzen ausschließlich Folgen seiner Kriegsbeschädigung seien und zwar ausgelöst von Splittern und Narben im Gesicht. Die Zeugin M. M., die Witwe des den Beschädigten von 1956 bis Januar 1970 behandelnden prakt. Arztes Dr. M. hat dargelegt, sie habe am 7. August 1970 zufällig bei der Familie B. angerufen. Der Beschädigte sei sehr erregt darüber gewesen, daß ihm Prof. E. gesagt habe, er solle in die psychiatrische Abteilung gehen. Sie habe versucht, ihn zu beruhigen, was ihr aber nicht gelungen sei. Wegen des weiteren Inhalts der Aussage der Zeugen Dr. G. und M. wird auf die Niederschrift vom 12. Oktober 1978 (Bl. 136–141 der Gerichtsakte) Bezug genommen.

Nach Beiziehung der Behandlungsunterlagen des Zentrums für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde am Klinikum der J.-Universität, der Behandlungsunterlagen der Neurochirurgischen Universitätsklinik G., des Zentrums für Psychiatrie am Klinikum der J.-Universität F. sowie den Behandlungsunterlagen des behandelnden Arztes Dr. D. N. sowie nach Einholung von Befundberichten bei dem Arzt für Neuraltherapie Dr. W., H., bei dem prakt. Arzt Dr. K., F., bei dem Arzt und Zahnarzt Prof. Dr. Dr. T. F. und bei dem Facharzt für innere Krankheiten Dr. N., F., hat der Senat weiter Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens nach Aktenlage bei dem Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik H. Prof. Dr. J ... In dem nervenfachärztlichen Gutachten vom 6. März 1980 kommen Prof. Dr. J. und Prof. Dr. Dr. S. zu dem Ergebnis, als Folge der Schädigung im Jahre 1945 sei nicht nur eine Hirnerschütterung, sondern eine Hirnkontusion anzunehmen, weil bei dem Beschädigten mindestens bis 1956, also 11 Jahre nach dem Trauma und vielleicht sogar noch bis 1962 ein hirnorganisches Psychosyndrom zu erkennen gewesen sei und dieses Phänomen ursächlich auf keinen Fall auf eine Hirnerschütterung zurückgeführt werden könne. Dieses postkontusionelle hirnorganische Psychosyndrom sei allerdings spätestens Anfang der sechziger Jahre oder schon Ende der fünfziger Jahre abgeklungen. Es sei eine geläufige klinische Erfahrung, daß das chronische hirnorganische Psychosyndrom nach Hirnkontusionen im Verlaufe von Jahren durchaus rückbildungsfähig sei. Zu diesem Zeitpunkt sei ein Abklingen der hirnorganisch begründbaren psychischen und vegetativen Störungen festzustellen gewesen. Ungefähr zur selben Zeit, Anfang der sechziger Jahre, hätten die schweren Schmerzen in der rechten Gesichtsseite eingesetzt und der damit zusammenhängende Medikamentenmißbrauch, der seinerseits allmählich wieder zu einem hirnorganischen Psychosyndrom geführt habe. Auf Grund der vorliegenden Befunde sei davon auszugehen, daß bei dem Beschädigten keine idiopathische, sondern eine symptomatische Trigeminusneuralgie vorgelegen habe, die jedoch in keinem ursächlichen Zusammenhang mit den Verwundungen gestanden habe, sondern die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf die Beseitigung eines Zahnes im rechten Oberkiefer im Herbst 1961 ursächlich zurückzuführen sei. Es könne kein Zweifel daran bestehen, daß der Beschädigte sich in unmittelbarem, ursächlichem Zusammenhang mit der jahrelang ohne jeden Erfolg behandelten Trigeminusneuralgie suizidiert habe. Das kränkende Erlebnis einer dauernden beruflichen Benachteiligung habe sich in fataler Weise mit den Trigeminusneuralgien verbunden und dem daraus resultierenden Schmerzmittelabusus. Die chronischen Schmerzzustände hätten ihrerseits eine abnorme reaktive Entwicklung der Persönlichkeit in Gang gesetzt. Demgegenüber komme den Schädigungsfolgen für den Tod keine gleichwertige oder überwiegende Bedeutung neben den anderen Erkrankungen zu.

Gegenüber diesem Gutachten tragen die Kläger vor, die Gutachter führten zutreffend aus, daß die Hirnverletzung zu einem organischen Psychosyndrom mit Hirnleistungsschwäche geführt habe. Merkwürdigerweise komme das Gutachten dann aber ohne verständige Begründung zu der Annahme, daß etwa im Jahre 1962 dieses Syndrom in den Hintergrund getreten sei bzw. sich abgeschwächt habe. Richtiger dürfte es sein, daß die mit dieser Zeitangabe in den Vordergrund gerückten neuralgieformen Kausalgien im Gesicht die Erscheinungen des Psychosyndroms nur etwas verdeckt hätten.

Wegen des Sachverhalts im übrigen wird auf den weiteren Inhalt der Gerichts-, Beschädigten- und Hinterbliebenenakten sowie auf den Inhalt der beigezogenen Personalakten, die vorgelegen haben und mit Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegten Berufungen sind zulässig, weil der ursächliche Zusammenhang des Todes mit einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes streitig ist (§ 150 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz –SGG–).

Die Berufungen sind jedoch nicht begründet. Die Klägerin zu 1) hat weder Anspruch auf Witwenrente noch Anspruch auf Gewährung des vollen Bestattungsgeldes; der Kläger zu 2) hat keinen Anspruch auf Waisenrente.

Nach §§ 1 Abs. 5, 38 BVG haben die Witwe und die Waisen Anspruch auf Hinterbliebenenrente, wenn der Beschädigte an den Folgen einer Schädigung gestorben ist. Im Falle einer Selbsttötung steht Witwenrente bzw. Waisenrente dann zu, wenn der Ehemann bzw. Vater der Antragsberechtigten sich in einem die freie Willensbestimmung wesentlich beeinträchtigenden oder ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit das Leben genommen hat und, wenn dieser Zustand mit Wahrscheinlichkeit durch Einwirkungen seines militärischen Dienstes verursacht worden ist (so Urteil des Bundessozialgerichts –BSG– vom 3. Dezember 1964, Az.: 8 RV-229/62, auszugsweise abgedruckt in Sozialgerichtsbarkeit 1965, S. 60 Nr. 26, Urteil des LSG Darmstadt vom 10.7.1974, L-5/V-513/73; vgl. ferner Verwaltungsvorschrift Nr. 11 und 10 zu § 1 BVG). Nach der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsnorm ist eine Bedingung für den eingetretenen Erfolg dann ursächlich, wenn sie als wesentliche Bedingung mitgewirkt hat. Eine wesentliche Bedingung bzw. wesentliche Mitursache im Sinne des Versorgungsrechts liegt vor, wenn dieser Bedingung neben sonstigen Bedingungen eine zumindest gleichwertige Bedeutung für den eingetretenen Erfolg zukommt. Umgekehrt ausgedrückt bedeutet dies, versorgungsfremde Umstände dürfen nicht überwiegend oder vollständig für den Verlust der freien Willensbestimmung und dem in diesem Zustand begangenen Suizid verantwortlich zu machen sein. Hierbei ist die Frage, ob eine Bedingung im Sinne der im Versorgungsrecht geltenden Kausallehre neben anderen Bedingungen die wesentliche Bedingung gewesen ist, nicht danach zu beurteilen, ob die Bedingung erfahrungsgemäß, im allgemeinen unter gleichen Umständen bei anderen Personen den gleichen Erfolg herbeigeführt hätte, sondern nur nach den besonderen Umständen und der besonderen Einzelpersönlichkeit, denn es kommt nicht darauf an, ob die versorgungsrechtlich erheblichen Ereignisse sich im Rahmen durchschnittlicher gewöhnlicher Anforderungen gehalten haben, sondern auf die besonders individuelle Belastung und Belastbarkeit des Betroffenen (so BSG, Urteil vom 3. Dezember 1964, 8 RV-229/62, unter Hinweis auf BSG 11, 50 ff.).

Ausgehend von dieser dargelegten Rechtsauffassung steht auf Grund der durchgeführten Beweiserhebungen zur Überzeugung des Senates fest, daß der Suizid des Beschädigten überwiegend auf die schwere, schädigungsunabhängig entstandene symptomatische Trigeminusneuralgie und eine abnorme reaktive Entwicklung der Persönlichkeit des Beschädigten zurückzuführen ist, die ihrerseits durch schwerste chronische – schädigungsunabhängige –Schmerzzustände entstanden ist.

Die im Berufungsverfahren gehörten Zeugen M. M. und Dr. G. haben übereinstimmend bekundet, daß im absoluten Vordergrund der Schmerzzustände des Beschädigten die Gesichtsschmerzen gestanden haben. Der Zeuge G. hat ausgesagt, daß der Beschädigte noch Schmerzen am Amputationsstumpf gehabt habe, die aber für seinen Gesamtzustand keine Rolle gespielt hätten. Die Zeugin M. hat erklärt, der Beschädigte habe bei ihrem Ehemann wegen seiner Schmerzen in Behandlung gestanden; neben Schmerzen im Gesicht, an der Stirn und im Trigeminusgebiet, die im Vordergrund gestanden hätten, habe er auch Schmerzen an seinem Amputationsstumpf gehabt. Diese Angaben der Zeugen werden in vollem Umfange bestätigt durch die beigezogenen Behandlungsunterlagen des Beschädigten aus den Jahren 1960–1970. Ausdrücklich weist Prof. Dr. Dr. T., F., in seinem Befundbericht vom 20. Dezember 1978 darauf hin, daß bei den Behandlungen vom Juli 1969 – Juli 1970 die Schmerzen im Trigeminusbereich so außerordentlich stark im Vordergrund gestanden hätten, daß die Folgen des Verlustes des linken Oberarmes unerheblich gewesen seien.

Der Senat hat seiner Urteilsfindung das auf Grund der vorhandenen und beigezogenen Akten und Behandlungsunterlagen erstellte Gutachten der Prof. Dr. J. und Dr. Dr. S., Psychiatrische Klinik am Klinikum der Universität H., vom 25. März 1980 zugrunde gelegt. Dieses ausführliche Gutachten ist unter Verwertung des gesamten Akteninhaltes erstattet und hinreichend wissenschaftlich begründet. An der Unparteilichkeit und Sachkunde dieser Gutachter bestehen keine Zweifel. Das Gutachten, welches im Einklang steht mit den fundierten Äußerungen Dr. H., ist auch in seinem Ergebnis überzeugend.

Hiernach war als festgestellt zu erachten, daß zwischen der symptomatischen Trigeminusneuralgie und den bei der Handgranatenverletzung im Jahre 1945 entstandenen Gesichtsverletzungen kein ursächlicher Zusammenhang besteht. Zwischen der Trigeminusneuralgie und der Kriegsbeschädigung klafft eine zeitliche Lücke von über 15 Jahren, während der sich keinerlei Brückensymptome nachweisen lassen. Eine Auslösung der Schmerzen durch Granatsplitter erst in den Jahren 1960 kommt nicht in Betracht, da bei den verschiedenen Röntgenaufnahmen Metallsplitter lediglich im rechten Schädelbereich extrakraniell sowie in der linken Wangenregion, nicht jedoch im rechten Oberkiefer-Wangenbereich, wo die Schmerzen lokalisiert waren, nachgewiesen sind. Überzeugend haben die Sachverständigen dargelegt, daß die Tatsachen, daß die Schmerzen nach entsprechender Operationen nicht nachgelassen hatten, nicht gegen das Vorliegen einer Trigeminusneuralgie sprechen, denn die von Prof. E. im Oktober 1983 und auch bei der Untersuchung am 6. August 1970 diagnostizierte Hypaesthesia dolorosa des 2. Trigeminusastes rechts ist eine gefürchtete, nicht seltene Folge von chirurgischen Eingriffen am Trigeminusnerven. Es war daher in Übereinstimmung mit Prof. Dr. J. und Prof. Dr. Dr. S. davon auszugehen, daß mit überwiegenden Wahrscheinlichkeit die auslösende Ursache der Trigeminusneuralgie in der Beseitigung eines Nerven im rechten Oberkiefer im Herbst 1961 bzw. einem schmerzhaften Zahn oder Kieferprozeß, der diese Zahnextraktion angezeigt erschienen ließ, zu sehen ist. Die späteren Traumatisierungen des Trigeminusnerven durch zahlreiche operative Eingriffe waren weitere Ursachen, die das Krankheitsbild unterhielten und verstärkt haben.

Die Ansicht Prof. Dr. E. in seinem Arztbrief vom 25. Januar 1971. wonach ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Hirnkontusion und der Trigeminusneuralgie anzunehmen sei, konnte der Senat der Urteilsfindung nicht zugrunde legen. Die Sachverständigen Prof. Dr. J. und Prof. Dr. Dr. S. weisen zu Recht darauf hin, daß selbst dann, wenn man eine sehr hypothetische Schädigung der Trigeminuskerngebiete im Hirnstamm unterstellen würde, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Hirnkontusion und der Trigeminusneuralgie nicht angenommen werden kann, weil dann die Schmerzen sich unmittelbar an das Hirntrauma hätten anschließen müssen. Auch die weitere Annahme Prof. Dr. E. eine Verletzung an der rechten Orbita und der Felsenbeinspitze habe zu der Neuralgie geführt, scheitert bereit; an dem zu großen zeitlichen Abstand.

Der Senat ist daher der Überzeugung, daß der Beschädigte sich in unmittelbarem ursächlichem Zusammenhang mit der jahrelang ohne jeden Erfolg behandelnden – schädigungsunabhängigen – Trigeminusneuralgie selbst getötet hat. Der Beschädigte ist, wie die Sachverständigen zutreffend dargelegt haben, nach zahlreichen fehlgeschlagenen Behandlungsversuchen, die seine Schmerzen nur noch verschlimmert haben, nach jahrelangen schwersten Schmerzen, die ihn in die Schmerzmittelabhängigkeit getrieben haben, in eine zunehmend eingeengte Situation geraten, aus der er schließlich keinen Ausweg mehr gesehen hat, als alle therapeutischen Bemühungen als gescheitert anzusehen gewesen waren. Dieser, die freie Willensbestimmung wesentlich beeinträchtigende Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit war offenbar erreicht, als der Beschädigte erkennen mußte, daß selbst international anerkannte Kapazitäten wie Prof. Dr. E. ihm nicht mehr helfen konnten und er sich schließlich in die Psychiatrie abgeschoben sah. Die schwersten schädigungsunabhängigen Schmerzzustände und das Erlebnis des hilflosen Ausgeliefertseins an diese Schmerzen zusammen mit der Erfahrung des Versagens sämtlicher therapeutischer Bemühungen waren die überwiegende Ursache für die Selbsttötung des Beschädigten. Der Senat verkennt hierbei nicht, daß im Falle des Beschädigten andere Motive und Hintergründe zusätzlich vorgelegen haben (abnorme reaktive Entwicklung der Persönlichkeit), denen aber für den Suizid nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Die Sachverständigen Professoren Dr. J. und Dr. Dr. S. legen überzeugend dar, daß die neurotische Entwicklung der wahrscheinlich primär schon abnormen Persönlichkeit des Beschädigten in keinem relevanten oder wahrscheinlichen Zusammenhang mit seinen Kriegsbeschädigungen steht. Seine beruflichen Schwierigkeiten sind anfangs überwiegend aus seiner Persönlichkeit heraus zu verstehen, währen später die nichtschädigungsbedingten Trigeminusschmerzen mit ihren psychischen Folgen komplizierend hinzutraten. Die Beschwerde der Armplexusschädigung, die spätere Armamputation, das postkontusionelle hirnorganische Psychosyndrom oder das Zentralskotom des rechten Auges haben den Beschädigten zwar sicherlich beruflich behindert, diese Behinderungen fielen aber gegenüber den Schwierigkeiten, die ihm aus seiner Persönlichkeit erwuchsen und die durch die schädigungsunabhängige Trigeminusneuralgie verstärkt wurden, wenig ins Gewicht.

Der Senat folgt auch den Ausführungen Prof. Dr. Dr. S. und Prof. Dr. J., wonach – bei einer unterstellten Hirnkontusion – das hirnorganische Psychosyndrom spätestens um 1960 abgeklungen war. Dies ergibt sich aus dem versorgungsärztlichen Gutachten des Facharztes für Nervenkrankheiten Dr. M. vom 29. Juni 1959, wonach bei dieser Untersuchung nur noch von Kopfschmerzen berichtet wird, aber im Unterschied zu früheren Begutachtungen keine Zeichen einer traumatischen Hirnleistungsschwächen mehr festgestellt wurden. Prof. Dr. Dr. S. und Prof. Dr. J. weisen ausdrücklich darauf hin, daß es eine geläufige klinische Erfahrung ist, daß das chronische hirnorganische Psychosyndrom nach Hirnkontusionen im Verlaufe von Jahren durchaus rückbildungsfähig ist. Erst nach dem Abklingen der hirnorganisch begründbaren psychischen und vegetativen Störungen zeichneten sich bei dem Beschädigten zunehmend Auffälligkeiten ab, die, wie von den Gutachtern überzeugend dargelegt wurde, man als Ausdruck psycho-reaktiver Störungen und einer abnormen Persönlichkeitsentwicklung verstehen muß. Anfang der sechziger Jahre setzten dann die schweren Schmerzen in der rechten Gesichtsseite ein und ein damit zusammenhängender Medikamentenabusus, der seinerseits allmählich wieder zu einem hirnorganischen, jedoch schädigungsunabhängigen Psychosyndrom führte.

Angesichts dieser Sach- und Rechtslage war als festgestellt zu erachten, daß der Suizid des Beschädigten überwiegend durch schädigungsunabhängige Umstände verursacht wurde. Ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente gemäß § 38 Abs. 1 BVG steht den Klägern daher nicht zu.

Aus dem gleichen Grunde hat die Klägerin zu 1) auch keinen Anspruch auf Gewährung des vollen Bestattungsgeldes, weil dies nach § 36 Abs. 1 BVG nur dann gewährt werden kann, wenn der Tod des Beschädigten die Folge einer Schädigung ist. Da dies nach den Feststellungen des Senates nicht wahrscheinlich gemacht werden kann, hat der Beklagte zu Recht lediglich das halbe Bestattungsgeld gemäß § 36 BVG gewährt.

Die Berufungen konnten daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Für die Zulassung der Revision bestand kein Anlaß, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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