S 20 (2) RA 102/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 20 (2) RA 102/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 14.08.2003 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 10.02.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.08.2004 wird aufgehoben. Die Beklagte trägt die der Klägerin entstandenen außergerichtlichen Kosten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Frage, ob die Beklagte von der Klägerin einen Teil der erhaltenen Witwenrente rückwirkend wegen Einkommenserzielung zurückfordern kann.

Die Klägerin beantragte am 19.01.1995, nachdem ihr Ehemann am 02.01.1995 verstorben war, die Bewilligung von Witwenrente. Im Antrag gab sie an, nicht erwerbstätig zu sein. Mit Bescheid vom 26.04.1995 wurde ihr Witwenrente in Höhe von XXX DM, beginnend mit dem 02.01.1995 bewilligt. Am 24.08.1995 ging das Schreiben der Klägerin ein, mit dem sie ihre Berufstätigkeit seit dem 03.08.1995 mitteilte. Sie verfüge über ein Einkommen von monatlich XXX DM. Mit Bescheid vom 30.10.1995 berechnete die Beklagte die Rente neu, weil sich das Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsverhältnis geändert habe. Sie bewilligte monatlich XXX DM und forderte die Klägerin zur Rückzahlung von XXX DM auf. Im übrigen veranlasste sie nichts. Nach einem internen Prüfungsbogen scheint die Beklagte der Auffassung gewesen zu sein, eine Anrechnung des Einkommens finde nicht oder noch nicht statt. Am 16.06.1997 ging erneut ein Schreiben der Klägerin mit einer Verdienstabrechnung ein, mit der sie die Änderung in ihrem Erwerbseinkommen mitteilte. Ab 01.06.1997 betrug das Einkommen danach XXX DM. Die Beklagte forderte die Klägerin daraufhin zur Mitteilung auf, ob sie bereits am 02.08.1995 eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen habe, was diese telefonisch bestätigte. Sie sei zunächst mit 27 Stunden beschäftigt gewesen und seit Juni 1997 vollzeit beschäftigt. Außerdem holte die Beklagte eine Bescheinigung des Arbeitgebers über das Bruttoarbeitsentgelt in der Zeit seit 03.08.1995 ein und ließ diese von der Klägerin noch ergänzen. Dieser Vordruck lag, von der Klägerin ergänzt, der Beklagten am 29.09.1997 vor. Die Beklagte prüfte sodann die weitere Waisenrentenberechtigung der Söhne L und B der Klägerin und unternahm hinsichtlich der Einkommensanrechnung im übrigen nichts. Erstmals mit einem internen Vermerk vom 28.03.2003 vertrat ein Sachbearbeiter der Beklagten die Auffassung, seit dem 03.08.1995 habe eine Einkommensanrechnung erfolgen müssen. Es liege offensichtlich ein Bearbeitungsfehler seitens der Beklagten vor. Die Klägerin sei ihren Mitteilungspflichten nachgekommen. Daraufhin berechnete die Beklagte mit Bescheid vom 28.05.2003 die Rente ab 01.07.2003 unter Anrechnung des Einkommens der Klägerin neu und bewilligte lediglich XXX Euro monatlich. Mit Schreiben vom 19.06.2003 teilte sie der Klägerin mit, sie beabsichtige, die ursprüngliche Bewilligung bereits ab 01.09.1995 aufzuheben und die Überzahlung in Höhe von XXX Euro zurückzufordern. Sie gab der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Klägerin teilte daraufhin mit, sie habe nicht nur mitgeteilt dass sie Arbeitseinkommen erziele, sondern zudem jegliche Änderung der Einkommensverhältnisses offen gelegt. Alle entscheidungserheblichen Unterlagen seien bei ihrer Leistungsakte vorhanden. Dessen ungeachtet würde eine Rückforderung zu einer unbilligen Härte führen, da die in den vergangenen Jahren gewährten Renteneinkünfte verbraucht worden seien. Sie habe vor einigen Jahren ein Eigenheim mit Hilfe dieser Mittel erworben.

Mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 14.08.2003 berechnete die Beklagte die Rente ab 01.09.1995 unter Anrechnung des Erwerbseinkommens neu und stellte eine Überzahlung in Höhe von XXX Euro fest, die von der Klägerin zu erstatten sei. Aus der Anlage ergibt sich, dass die Beklagte das Einkommen der Klägerin erst ab dem 01.07.1996 angerechnet hat. Die Klägerin erhob Widerspruch und berief sich sowohl auf Vertrauensschutzgesichtspunkte, als auch auf den Ablauf der Jahresfrist. Rückforderungen hätten allenfalls bis zum Ablauf des Jahres 1998 geltend gemacht werden müssen. Daraufhin reduzierte die Beklagte mit Bescheid vom 10.02.2004 den Erstattungsbetrag im Rahmen des Ermessens auf XXX Euro und wies den Widerspruch im übrigen am 05.08.2004 zurück. Sie führte aus, die Aufhebung des Bescheides vom 26.04.1995 ab dem Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse sei zulässig, weil der Tatbestand des § 48 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X erfüllt sei. Es sei Einkommen erzielt worden, das zur Minderung des Anspruchs geführt habe. Auf Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit komme es in diesem Fall nicht an. Auch die Fristen für die Aufhebung seien gewahrt. Kenntnis über das Vorliegen aller für die Aufhebung notwendigen Tatsachen habe die Beklagte nach Eingang des Anhörungsergebnisses am 30.06.2003 gehabt. Bei der Prüfung sei festgestellt worden, dass die Beklagte ein Mitverschulden an der Höhe der entstandenen Überzahlung trage. Aufgrund der Vorlage eines so genannten "atypischen Falles" sei daher im Rahmen des auszuübenden Ermessens die Rückforderung um 2/3 reduziert worden.

Hiergegen richtet sich die am 27.08.2004 erhobene Klage. Die Klägerin beruft sich erneut darauf, ihre Mitteilungspflicht erfüllt zu haben. Sie habe auch nicht wissen können, dass ihr nach Mitteilung der Änderung die Rentenzahlung in der von der Beklagten geleisteten Höhe nicht zugestanden habe, zumal es noch Nachfragen der Beklagten gegeben habe. Sie vertritt außerdem die Auffassung, der von der Beklagten geltend gemachte Rückforderungsanspruch sei gemäß § 45 Absatz 4 Satz 2 SGB X verjährt. Dass der Beklagten die Tatsachen erst mit Beendigung des Anhörungsverfahrens bekannt geworden seien, sei insbesondere auch deshalb nicht richtig, weil im Anhörungsverfahren keine neuen Tatsachen von der Klägerin vorgebracht worden seien, die der Beklagten nicht ohnehin bekannt gewesen seien.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 14.08.2003 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 10.02.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.08.2004 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bleibt bei ihrer Beurteilung der Sach- und Rechtslage.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 14.08.2003 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 10.02.2004 in der Gestalt des Widerspruchs-bescheides vom 05.08.2004 ist rechtswidrig und beschwert die Klägerin im Sinne des § 54 Absatz 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in ihren Rechten. Zu Unrecht hat die Beklagte die Bewilligung der Witwenrente rückwirkend ab dem 01.07.1996 aufgehoben und die –im Rahmen des Ermessens reduzierte– Überzahlung zurückgefordert. Denn wegen Ablaufs der Jahresfrist stand ihr dies nicht mehr zu.

Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse rückwirkend vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an ist nur unter den Voraussetzungen des § 48 SGB X möglich. Nach dieser Vorschrift soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Veränderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit unter anderem nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (§ 48 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X). Diese Voraussetzungen liegen hier unstreitig vor. Die Klägerin hat Einkommen erzielt, das auf die Witwenrente hätte angerechnet werden müssen. In einem solchen Fall kommt es auch auf die Frage, ob eine Mitteilungspflicht verletzt wurde (was hier offensichtlich nicht der Fall war) oder auf die Kenntnis oder das Kennenmüssen des Empfängers der Rentenleistung nicht an. Die Klägerin kann sich daher nicht auf Vertrauensschutz berufen. Die Beklagte hat auch erkannt, dass Ermessen auszuüben war. In einem so genannten atypischen Fall, der grundsätzlich anzunehmen ist, wenn die Überzahlung auch auf dem Verschulden der Beklagten beruht, ist im Falle des § 48 SGB X Ermessen auszuüben. Dies hat die Beklagte getan. Ermessensfehler sind insoweit auch nicht ersichtlich. Die Aufhebung ist jedoch wegen Ablaufs der Jahresfrist rechtswidrig. Gemäß § 48 Absatz 4 SGB X ist die Vorschrift des § 45 Absatz 4 Satz 2 SGB X entsprechend anzuwenden. Danach muss die Behörde die Aufhebung des Verwaltungsaktes innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. Im vorliegenden Fall war die Jahresfrist bereits am 29.09.1998 verstrichen. Denn am 29.09.1997 lagen der Beklagten alle Unterlagen vor, die sie für eine Entscheidung gebraucht hätte. Auf die Anhörung im Jahre 2003 kommt es hingegen nicht mehr an. Kenntnis im Sinne der § 45 SGB X ist bereits bei Aktenkundigkeit der Tatsache anzunehmen. Für den Fristbeginn im Sinne des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X ist die Kenntnis der rechtlichen Bedeutung aller der die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen aber nicht erforderlich (BSG, Urt.v.11.09.91-5 RJ 25/90). Auch Erkenntnis der Rechtswidrigkeit ist nicht erforderlich (so auch Wiesner in von Wulfen, Kommentar zum SGB X, Randnummer 33f zu § 45 SGB X; Steinwedel im Kasseler Kommentar zu § 45 SGB X;bisher offengelassen vom BSG, s. Nw. Bei Wiesner u. Steinwedel). Das Anknüpfen an einen inneren, subjektiven Vorgang, ohne dass es dazu von außen nachvollziehbare Anhaltspunkte gibt, hält die Kammer nicht für sachgerecht und würde den Bürger benachteiligen, dessen Sachbearbeiter nicht rechtskundig genug ist. Es reicht aus, wenn den Behörden die Tatsachen hinreichend bekannt sind, so dass ohne Weiteres der Schluss auf einen Sachverhalt gezogen werden kann, der die Rücknahme bzw. die Aufhebung rechtfertigt (BSGE 74, 20 und 77, 295 - SozR 3-1300 § 45 Nr. 27). Die Jahresfrist beginnt nicht eher zu laufen, als der für die Entscheidung zuständigen Behörde die Tatsachen zur Bearbeitung vorliegen, aus denen sich die Aufhebbarkeit des Verwaltungsaktes ergibt (BSGE 65, 224). Diese Kenntnis muss nicht nur die für die Rechtswidrigkeit maßgeblichen Tatsachen, sondern auch die Tatsachen umfassen, aus denen sich das Verschulden ergibt(BSGE 60, 239= SozR 1300 § 45 Nr.26; 66, 204; Wiesner, Randnummer 34; Steinwedel, Randnummer 27). Aus diesem Grund beginnt die Jahresfrist in der Regel nicht vor dem Abschluss einer Anhörung zu laufen, da sich hieraus noch weitere Tatsachen für die Beurteilung des Verschuldens ergeben können (BSGE 77, 295 -SozR 3-1300 § 45 Nr. 27; Wiesner Randnummer 33, Steinwedel Randnummer 27). Dies gilt nach Auffassung der Kammer jedoch in diesem Fall nicht. Denn da ein Fall des § 48 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 vorlag, bei dem die Rückforderung verschuldensunabhängig zu erfolgen hat, konnten eventuell hierzu ergangene Angaben auch keinen Einfluss mehr auf die Entscheidung der Beklagten haben. Sämtliche Tatsachen waren bereits vor einer Anhörung hinreichend bekannt. Das gilt auch für die für die Ermessensausübung erforderlichen Tatsache. Ob auch Kenntnis der Tatsachen, die zur Grundlage der Ermessensentscheidung benötigt werden, erforderlich ist, kann daher offen bleiben ( das BSG hat dies bisher ebenfalls offen gelassen - BSG SozR 4100 § 103 Nr. 42, BSGE 65, 226, BSG SozR 3-1300 § 45 Nr. 1). Dass sich das Mitverschulden der Beklagten durch Untätigkeit aufgrund von mangelnder Erkenntnis der Rechtswidrigkeit oder eines mangelnden Überwachungssystems erst im Laufe der Zeit sozusagen entwickelt hat, kann eine andere Entscheidung nicht rechtfertigen. Denn hierbei handelt es sich um allein im Bereich der Beklagten liegende Umstände, die bereits im Zeitpunkt des Vorliegens sämtlicher Tatsachen am 29.09.97 ihren Ursprung haben. Wenn die Tatsachen zur Vertrauensabwägung und zur Ermessensausübung aber bereits so früh bekannt gewesen sind, dass die Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X schon abgelaufen ist, reicht allein der Umstand, dass die Beklagte noch einmal ermittelt hat, nicht aus, die Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X als nicht abgelaufen anzusehen (BSG, Urt.v.11.09.91-5 RJ 25/90). Dies muss auch gelten, wenn die Beklagte trotz Aktenkundigkeit sämtlicher entscheidungserheblichen Tatsachen noch ein Anhörungsverfahren durchführt. Die Beklagte behauptet nicht, dass sie ihr Ermessen erst nach Kenntnis von Tatsachen ausüben konnte, die sie erst nach Ablauf der Jahresfrist in Erfahrung bringen konnte. Nach alledem war der Bescheid antragsgemäß aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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