L 3 U 573/73

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 573/73
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Wird ein Verwaltungsakt, der eine Ermessensentscheidung zum Inhalt hat, von einem Ausschuß, dem nicht nur Bedienstete des Versicherungsträgers oder der Behörde angehören, erlassen, so ist ein Nachschieben von Gründen nach Beendigung des Widerspruchsverfahrens nicht mehr statthaft (Anschluß an BVerwG E 8 S. 46; 234 und OVG Hamburg MDR 1957 S. 252).
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 4. April 1973 und der Ordnungsbescheid vom 23. September 1971 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 1972 aufgehoben.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer von der Beklagten erlassenen Ordnungsstrafe wegen Verstoßes gegen die Unfallverhütungsvorschriften – UVV –. Der Kläger ist als selbständiger Landwirt im Unternehmerverzeichnis mit einem landwirtschaftlichen Betrieb mit 20 Ar Ackerland und 93 Ar Grünland eingetragen. Am 20. August 1969 stellte der Betriebsrevisor der Beklagten 8 verschiedene gegen die von ihr erlassenen UVV verstoßende Mängel fest. Der Kläger wurde verwarnt und gleichzeitig aufgefordert, diese Mängel zu beseitigen. Bei der am 23. Juli 1970 erfolgten Nachbesichtigung wurde keine Abhilfe festgestellt. Die 2. Nachbesichtigung am 31. August 1971 ergab, daß lediglich der Bodenbelag über der Scheunentenne dicht gelegt und trittsicher hergerichtet war; die übrigen am 20. August 1969 festgestellten Mängel waren nicht beseitigt. Hier erließ die Beklagte eine Ordnungsstrafe in Höhe von 45,– DM. In dem Straffestsetzungsbescheid vom 23. September 1971 hieß es unter anderem, daß die Ordnungsstrafe nach § 710 Reichsversicherungsordnung – RVO – ergangen sei. Eine Begründung zur Strafhöhe wurde nicht gegeben.

Gegen den am 27. September 1971 abgesandten Bescheid legt der Kläger am 27. Oktober 1971 Widerspruch ein. Er gab an, daß er seit 2 Jahren Landabgaberentner sei und die Beklagte ihm einige Jahre zuvor die Unfallversicherungsrente weggenommen habe; er zahle daher keinen Pfennig.

Der Widerspruch blieb erfolglos; die Beklagte wies ihn mit Bescheid vom 25. April 1972 zurück. Zur Begründung hieß es: Bei der zweiten Nachbesichtigung am 31. August 1971 seien von den 8 festgestellten Mängeln noch sieben vorhanden gewesen. Damit liege ein grob fahrlässiger Verstoß gegen die UVV vor, zumal keine Fristverlängerung zur Mängelbeseitigung beantragt worden sei. Auf den an ihn per Einschreiben am 25. April 1972 abgesandten Widerspruchsbescheid vom gleichen Tage schrieb der Kläger mit dem am 16. Mai 1972 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben vom 14. Mai 1972:

"Auf ihr Schreiben vom 25.4. teile ich Ihnen nochmals mit, daß ich alles in Ordnung gebracht habe. Ich laß mich nicht bestrafen. Man hat mir die Unfallrente weggemacht. Das ist gestraft genug mit drei steifen Fingern zu arbeiten. Und als Rentner einen noch zu bestrafen, das ist nur Schikane. Ich weiß auch, woher es kommt. Von mir aus sperrt mich ein oder hängt mich auf. Die paar Mark Rente benötige ich für mich und meine Frau. Wenn Sie nicht mehr hätten, kämen Sie auf andere Gedanken. Ich zahle keinen Pfennig.”

Auf die Anfrage der Beklagten, ob die Sache an das zuständige Sozialgericht abgegeben werden solle, teilte der Kläger mit, daß er nicht bezahlen werde, da er Rentner sei und das Geld für sich und seine Frau benötige. Hierzu hat die Beklagte die Akten dem Sozialgericht Frankfurt/Main – SG – am 20. Februar 1973 zur weiteren Entscheidung vorgelegt.

Das SG hat das Schreiben des Klägers vom 14. Mai 1972 als Klage gegen den Widerspruchsbescheid angesehen und diese mit Urteil vom 4. April 1973 abgewiesen, da die angefochtenen Bescheide wegen der vom Kläger selbst zugegebenen Verstöße gegen die UVV nicht rechtswidrig seien.

Gegen das an ihn per Einschreiben am 10. Mai 1973 abgesandte Urteil hat der Kläger am 7. Juni 1973 Berufung eingelegt. Er bringt vor: Er sei nicht in der Lage, die Strafe zu bezahlen. Er sei 67 Jahre alt und krank; er könne daher zu seiner Rente nichts hinzuverdienen.

Der zum Termin zur mündlichen Verhandlung geladene und nicht erschienene Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 4. April 1973 und den Ordnungsstrafbescheid vom 23. September 1971 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 1972 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Sie führt aus: Der Kläger beschränke sich nur auf die Schilderung seines Gesundheitszustandes und seiner angespannten wirtschaftlichen Verhältnisse, die von ihr verständnisvoll gewürdigt würden. Gleichwohl könne sie im Hinblick auf eine gleichmäßige Behandlung aller Mitglieder und Versicherter nicht auf die Entrichtung des Strafbetrages verzichten. Im übrigen sei es bei einem monatliche Einkommen des Klägers von rund 400,– DM und wegen der gesetzlich zulässigen Höchststrafe von 10.000,– DM im Hinblick auf die erlassene Ordnungsstrafe in Höhe von 45,– DM offenkundig, daß von ihr das ihr eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausgeübt worden sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Beklagten- und Streitakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte in Abwesenheit des Klägers entscheiden. Er war in der ordnungsmäßig erfolgten Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung hierauf hingewiesen worden.

Die statthafte Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt und daher zulässig.

Sie ist auch begründet.

Das sozialgerichtliche Urteil mußte aufgehoben werden. Zunächst ist festzustellen, daß das SG das Schreiben des Klägers vom 14. Mai 1972 zutreffend als zulässige Klage gegen den nach dem ordnungsmäßig durchgeführten Widerspruchsverfahren (§§ 79, Nr. 1, 84 Sozialgerichtsgesetz – SGG –) erlassenen Widerspruchsbescheid vom 25. April 1972 angesehen hat. Zwar hat der Kläger nicht ausdrücklich erklärt, eine Klage erheben zu wollen. Doch hat er deutlich zum Ausdruck gebracht, mit dem Widerspruchsbescheid nicht einverstanden zu sein und sich nicht bestrafen lassen zu wollen. Er hat auf seine schlechte Vermögenslage hingewiesen und geltend gemacht, daß diese von der Beklagten nicht berücksichtigt worden sei. Er hat damit dargetan, zumindest im Hinblick auf die Höhe der Strafe beschwert zu sein (§ 54 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 2 SGG i.V.m. § 710 Abs. 1 RVO). Mit der begehrten Aufhebung der angefochtenen Bescheide macht er geltend, daß die Beklagte diese, so wie sie ergangen sind, nicht erlassen durfte.

Die zulässige Anfechtungsklage ist auch begründet. Zwar ist festzustellen, daß die von der Beklagten im Besichtigungsbefund vom 20. August 1969 gerügten Mängel bei der ersten Nachbesichtigung am 23. Juli 1970 noch bestanden haben und bis auf einen bei der zweiten Nachbesichtigung am 31. August 1971 auch noch nicht beseitigt waren. Der Kläger, der bei der Erstfeststellung und bei der ersten Nachbesichtigung auf die Beseitigung dieser Mängel hingewiesen worden war, hat damit gegen die ihm als landwirtschaftlichen Unternehmer obliegende Verpflichtung zur Einhaltung der UVV verstoßen (vgl. Abschnitt 1 § 2 Abs. 1, Abschnitt 2 §§ 2, 3, 5, 10, 11, Abschnitt 15 § 3, Abschnitt 24 §§ 1, 25 UVV i.V.m. §§ 7 ff. RVO). Es liegt insoweit auch ein zumindest grob fahrlässiger Verstoß vor. Hierzu ist nämlich als festgestellt anzusehen, daß der Kläger bei der Erstfeststellung der Verstöße auf sein Verhalten und – wie bereits ausgeführt – die Pflicht zur Beseitigung der Mängel durch den Revisor aufmerksam gemacht worden ist, diese aber bis zur 2. Nachbesichtigung bis auf einen Mangel noch nicht behoben hatte. Hierin liegt eine besondere schwere Verletzung der erforderlichen Sorgfaltspflicht eines Unternehmers. Der Kläger hat das Bestehen der Mängel auch zugegeben, denn mit der Klageschrift vom 14. Mai 1972 hat er erklärt, "alles in Ordnung gebracht” zu haben. Gleichwohl mußten die angefochtenen Bescheide aufgehoben werden. Sie halten sich hinsichtlich der Strafhöhe nicht im Rahmen der Ermächtigung des § 710 RVO. Hiernach sind gegen Mitglieder oder Versicherte der Berufsgenossenschaft, die vorsätzlich oder grob fahrlässig gegen nach §§ 708, 709 RVO erlassene UVV verstoßen, durch den Verstand der Berufsgenossenschaft Ordnungsstrafen bis zu 10.000,– DM festzusetzen. Bei der Höhe der Strafe sind u.a. das Ausmaß der Schuld, die innere Einstellung des Täters sein Verhalten nach der Feststellung der Zuwiderhandlung seine wirtschaftliche und soziale Lage und eine eingetretene Schädigung durch Verstöße gegen die UVV zu beachten (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Auflage, Anm. 11 zu § ... RVO). Der Beklagten ist mithin bei der Festsetzung einer Ordnungsstrafe hinsichtlich ihrer Höhe Ermessen eingeräumt, so daß der Senat die angefochtenen Bescheide nur insoweit im Rahmen des § 54 Abs. 2 S. 2 SGG überprüfen konnte, ob die Beklagte die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. BSG E 15 S. 161 ff.; a.A. Bayr. LSG Breith. 1964 S. 24 f.).

Aus den angefochtenen Bescheiden ist nicht ersichtlich, ob die Beklagte hiervon, worauf der Kläger einen öffentlich-rechtlichen Anspruch hat, sachgerecht Gebrauch gemacht hat. Es fehlt jede Begründung für die Festsetzung der Strafhöhe. Es kann nicht festgestellt werden, ob sie die Schwere der Verstöße, das Ausmaß der Schuld, die innere Einstellung des Klägers, sein Verhalten nach der Feststellung der Zuwiderhandlung und insbesondere seine wirtschaftliche und soziale Lage bei der Straffestsetzung gegeneinander abgewogen hat. Die Ausübung des Ermessens muß aber bei der Entscheidung erkennbar sein, da andernfalls davon auszugehen ist, daß der Versicherungsträger von dieser ihm obliegenden gesetzlichen Verpflichtung keinen Gebrauch gemacht hat (sog. Ermessensunterschreitung). Ein mit einem solchen Ermessensfehler behafteter Verwaltungsakt unterliegt deshalb der Aufhebung (vgl. Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 2 f zu § 54 SGG LSG NRW SozEntsch Nr. 35 zu § 54 SGG; LSG Niedersachsen Breith. 1966 S. 201 f.).

In den Fällen der vorliegenden Art können die angefochtenen Bescheide auch nicht durch das Nachschieben von entsprechenden Gründen gehalten werden. Hierauf will die Beklagte im Berufungsverfahren mit dem Hinweis, sie würdige verständnisvoll die angespannten wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers und die geringe Strafhöhe mache eine pflichtgemäße Ermessensausübung im Hinblick auf den höchstzulässigen Strafrahmen bis zu 10.000,– DM und das monatliche Einkommen von rund 400,– DM offenkundig, offenbar hinaus. Zwar können nachgeschobene Gründe dann berücksichtigt werden, wenn der Gegenstand des Rechtsstreites durch das neue Vorbringen nicht verändert wird und der Kläger hinreichende Gelegenheit zur Rechtsverteidigung gehabt hat (vgl. Peters-Sautter-Wolff, a.a.O., Anm. 1 zu § 124 SGG, BSG E 3 S. 209 ff; 7 S. 257 ff.; 9 S. 232 ff.). Dies gilt auch bei Bescheiden, die in Ausübung des Ermessens des Versicherungsträgers ergehen (vgl. BSG a.a.O.; BVerwG DVBl. 1959 S. 438 OVG Koblenz DVBl. 1958 S. 835). Das setzt voraus, daß die den Bescheid erlassene Stelle überhaupt eine Ermessensentscheidung getroffen hat (a.A. offenbar LSG Niedersachsen a.a.O.). Das ist hier aber nicht der Fall. Ausweislich der angefochtenen Bescheide hat die Beklagte keine Überlegungen zur Strafhöhe angestellt und damit von dem ihr eingeräumten Recht der Ermessensausübung keinen Gebrauch gemacht.

Hiervon abgesehen, gilt der Grundsatz, daß auch bei Ermessensentscheidungen Rechtsgründe und Tatsachen zur Stützung der Entscheidung nachgeschoben werden können, nicht uneingeschränkt. Wenn ein Verwaltungsakt – wie hier – von einem Widerspruchsausschuß, also von einem Ausschuß, bei dem nicht nur Bedienstete des Versicherungsträgers mitwirken, erlassen worden ist, ist ein Nachschieben von Gründen nach Erlaß des das Verwaltungsverfahren abschließenden Widerspruchsbescheides nicht mehr statthaft (so auch Bundesverwaltungsgericht E 8 S. 234 – DVBl. 1969 S. 586; OVG Hamburg MDR 1957 S. 252), es sei denn, daß die Begründung des Verwaltungsaktes den sicheren Schluß zuläßt, daß der berufene Ausschuß sich bei einem rechtzeitigen Hinweis auch die nachgeschobene Begründung zu eigen gemacht haben würde (BVerwG a.a.O. und E 8 S. 46). Das ist hier aber nicht feststellbar. Die Festsetzung der Strafhöhe entbehrt in den angefochtenen Bescheiden, insbesondere im Widerspruchsbescheid, jeder Begründung. Der Kläger hatte mit der Widerspruchsschrift vom 20. Oktober 1971 geltend gemacht, daß er "keinen Pfennig zahle”; er sei seit 2 Jahren Landabgaberentner. Dieser Hinweis hätte der Beklagten Veranlassung geben müssen, im Widerspruchsverfahren Erwägungen zur Strafhöhe anzustellen und im Widerspruchsbescheid Gründe darzutun, aus denen sich eine überprüfbare Ermessensentscheidung ergab. Hieran mangelt es, so daß die angefochtenen Bescheide auf die Anfechtungsklage aufzuheben waren. Da dies das SG verkannt hat, konnte sein Urteil keinen Bestand haben.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 193, 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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