L 6 AS 815/14 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 8 AS 220/14 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 815/14 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Besteht ein Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche, so muss § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II jedenfalls wegen des Anwendungsvorrangs von Art. 45 Abs. 2 i.V.m. Art. 18, 21 AEUV und einer primärrechtskonformen Auslegung von Art. 24 Abs. 2 EGRL 2004/38 dann unangewendet bleiben, wenn ein Arbeitsuchender eine tatsächliche Verbindung zum hiesigen Arbeitsmarkt aufweist, in dem er die Leistung aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts beansprucht.

2. Zum Begriff des Arbeitnehmers i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU.
I. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 27. Oktober 2014 wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller dessen notwendige außergerichtliche Kosten zu erstatten.

III. Dem Antragsteller wird für den Beschwerderechtszug ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. B. bewilligt.

Gründe:

I.

Der Antragsgegner wendet sich mit seiner Beschwerde gegen eine einstweilige Anordnung, mit der er verpflichtet worden ist, dem Antragsteller, einem 1965 in Kassel geborenen italienischen Staatsangehörigen, Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe ab dem 20. Oktober 2014 bis längstens 31. Dezember 2014 vorläufig zu bewilligen.

II.

Die am 27. November 2014 bei dem Hessischen Landessozialgericht eingegangene Beschwerde des Antragsgegners mit dem Antrag,

den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 27. Oktober 2014 aufzuheben und den Antrag abzulehnen,

ist zulässig, aber unbegründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Ein solcher wesentlicher Nachteil ist nur anzunehmen, wenn dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner ein materiell-rechtlicher Leistungsanspruch in der Hauptsache zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihm darüber hinaus nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Die tatsächlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Anordnungsanspruches und eines Anordnungsgrundes sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist. Dabei sind grundrechtliche Belange des Antragstellers umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen. Insbesondere bei Ansprüchen, die darauf gerichtet sind, als Ausfluss der grundrechtlich geschützten Menschenwürde das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz – GG – i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG), ist ein nur möglicherweise bestehender Anordnungsanspruch dann, wenn er eine für die soziokulturelle Teilhabe unverzichtbare Leistungshöhe erreicht und nicht absehbar ist, dass kurzfristig die notwendige Klärung über das Vorliegen des Anspruches herbeigeführt werden kann, in der Regel vorläufig zu befriedigen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage im Eilverfahren nicht vollständig klären lässt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - info also 2005, 166).

Auf der Grundlage einer Folgenabwägung war der Antragsgegner dem Grunde nach vorläufig zur Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) zu verpflichten.

Der Antragsteller ist nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II dem Grunde nach leistungsberechtigt. Insoweit verweist der Senat auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG). Die nunmehr vorgelegte Lohnabrechnung i.H.v. 150 EUR für September 2014 sowie die mit der Beschwerdeerwiderung vorgetragenen Umstände, die für eine Beschäftigung sprechen, lassen die Hilfebedürftigkeit nicht dem Grunde nach entfallen. Auch hatte das Sozialgericht den Antragsgegner nur dem Grunde nach verpflichtet.

Aufgrund am o.g. Maßstab hinreichender Umstände ist im Wege der Interessenabwägung nicht davon auszugehen, dass der Antragsteller nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen ist, da bereits aufgrund des Beschwerdevortrages nunmehr Einiges dafür spricht, dass der Antragsteller ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) hat (dazu unten 1.). Selbst bei fehlender Arbeitnehmereigenschaft sind – bei allen fortbestehenden Unsicherheiten über die Reichweite des Leistungsausschlusses – die glaubhaft gemachten Umstände jedenfalls hinreichend, von einer tatsächlichen Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt auszugehen, die wegen des Anwendungsvorrangs von Art. 45 Abs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) einem Leistungsausschluss entgegensteht (dazu 2.).

1. Nach gefestigter höchstrichterlicher und obergerichtlicher Rechtsprechung erfordert § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bei Unionsbürgern regelmäßig eine "fiktive Prüfung" des Grundes bzw. der Gründe ihrer Aufenthaltsberechtigung. Bereits das Vorhandensein der Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts aus einem anderen Grund als dem Zweck der Arbeitsuche (etwa als Arbeitnehmer) hindert die vom Wortlaut und Gesetzeszweck geforderte positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" (BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 – B 4 AS 54/12 RBSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr. 34, Rn. 23 nach juris m.w.N.; vgl. auch Urteil des erkennenden Senats vom 27. November 2013 – L 6 AS 726/12 – juris Rn. 50). Der Arbeitnehmerbegriff i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist deckungsgleich mit dem unionsrechtlichen Begriff, der der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu Grunde liegt, da das FreizügG/EU der Umsetzung der sog. Unionsbürger- oder Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG dient. Arbeitnehmer ist, wer während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistung erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Auch wenn die Merkmale des Arbeitnehmerbegriffs nach einhelliger Ansicht weit auszulegen sind, so kann als Arbeitnehmer allerdings nur angesehen werden, wer eine "tatsächliche und echte" Tätigkeit ausübt, die nicht einen so geringen Umfang hat, dass es sich um eine völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit handelt (EuGH, Urteil vom 3. Juli 1986 Rs. 66/85 – Lawrie-Blum, Slg. 1986, 2121, Rn. 17; Urteil&8201;vom 26. Februar 1992 Rs. C-3/90 – Bernini, Slg. 1992, I-1071, Rn. 14; Urteil&8201;v. 26. Februar 1992 Rs. C 357/89 – Raulin, Slg. 1992, I-1027, Rn. 10; Urteil vom 18. Juli 2007 Rs. C 213/05 – Geven, Slg. 2007, I-6347, Rn. 27; vgl. insoweit auch die von dem Antragsgegner zitierte, zum Assoziationsrecht ergangene Entscheidung vom 4. Februar 2010 – Rs. C-14/09 – Rn. 26 ff.; aus der Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. November 2006 - L 14 B 963/06 AS ER; zuletzt SG Frankfurt, Beschluss vom 13. Juni 2014 - S 32 AS 620/14 ER - juris). Allein von einer bestimmten geringen Wochen- oder Monatsarbeitszeit, einem nicht existenzsichernden Lohn oder dem Umstand, dass der Beschäftigte seine Arbeitskraft "auf Abruf" zu erbringen hat, kann noch nicht auf eine völlig untergeordnete oder unwesentliche Tätigkeit geschlossen werden (vgl. EuGH, Urteil&8201;vom 26. Februar 1992 – Rs. C-357/89 – Raulin, Slg. 1992, I-1027, Rn. 10; Urteil vom 18. Juli 2007 – Rs. C-213/05 – Geven, Slg. 2007, I-6347, Rn. 27; Dienelt, in: Renner u.a., Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, § 2 Rn. 39 f.). Erst wenn im Rahmen der anzustellenden Gesamtwürdigung mehrere Umstände bezüglich der Dauer(-haftigkeit) und des wöchentlichen oder monatlichen Umfangs, u.U. auch umfangspezifische Ausprägungen des Über-/ Unterordnungsverhältnisses oder des Entgelts eine entsprechende Atypik aufweisen, kann von einer völlig untergeordneten und unwesentlichen Tätigkeit ausgegangen werden, z.B. bei Zusammentreffen von Unregelmäßigkeit und von vornherein beschränkter Dauer (vgl. Dienelt a.a.O., Rn. 44; dies erwägend EuGH, Urteil&8201;vom 26. Februar 1992 – Rs. C-357/89 – Raulin, Slg. 1992, I-1027).

Hiernach ist festzustellen, dass der Antragsteller glaubhaft gemacht hat, im September 2014 bei der Fa. C. beschäftigt gewesen zu sein, einem ausweislich einer Internetrecherche des Berichterstatters in Branchenverzeichnissen mit "Dienstleistungen rund ums Haus" erwähnten und damit am Markt auftretenden Unternehmen. Dies spricht bereits gegen ein bloßes Gefälligkeitsverhältnis. Der Stundenlohn ist mit 10,- EUR in dieser Branche nicht so geringfügig, dass er "unwesentlich" wäre. Für die Arbeitnehmereigenschaft spricht ferner, dass der Antragsteller – freilich ohne Beweismittel – vorgetragen hat, mündlich eine Zusage zur Weiterbeschäftigung bis einschließlich Januar 2015 erhalten zu haben. Der Vortrag des Antragsgegners gibt insoweit keinen Anlass zu Zweifeln. Dahinter tritt im Rahmen einer Gesamtwürdigung zurück, dass der Kläger im September 2014 nur 150,- EUR verdient hat, mithin wöchentlich nur 3-4 Stunden beschäftigt gewesen ist. In Abwägung der verbleibenden Ungewissheit insbesondere zur Beschäftigungsdauer und dem gegenwärtigen Umfang einerseits mit der besonderen Bedeutung menschenwürdesichernder Leistungen andererseits ist bei dieser Sachlage, in der gewichtige Umstände für die Arbeitnehmereigenschaft sprechen, dem Antragssteller ein Abwarten nicht zuzumuten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im Falle einer nur zeitweiligen Erfüllung der Arbeitnehmereigenschaft auch ein nachwirkendes Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU in Betracht kommt, das ebenfalls die Anwendung des Leistungsausschlusses sperrt.

2. Selbst wenn dem Antragsteller kein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer oder nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU zukäme, so hätte er bei bestehendem Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche aufgrund der vorgenannt glaubhaft gemachten Umstände eine hinreichende tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt, die – bei allen fortbestehenden Unsicherheiten über die Reichweite des Leistungsausschlusses – nach Auffassung des Senates aufgrund der gefestigten Rechtsprechung des EuGH am Maßstab der Arbeitnehmerfreizügkeit in Verbindung mit den Regelungen über die Unionsbürgerschaft bei bestehendem Aufenthaltsrecht einem Leistungsausschluss entgegenstünde.

Zunächst ist festzustellen, dass allein ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche erkennbar ist, sollte man nicht von einem Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer ausgehen (s.o.). Aufgrund einer Abschiebung im Jahr 2004 ist das frühere Daueraufenthaltsrecht des Antragstellers erloschen. Nach seiner Wiedereinreise 2013 wurde er inhaftiert. Aus seiner Erwerbstätigkeit als Hausmeister in der JVA bis 17. April 2014 konnte der Antragsteller nach derzeitigem Sachstand – ungeachtet der Ausführungen unter 1. – ein nachwirkendes Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer allenfalls bis zum 17. Oktober 2014 herleiten (§ 2 Abs. 3 FreizügG/EU). Der Antragsteller sucht glaubhaft Arbeit und hat – wie für September 2014 glaubhaft gemacht – objektive Aussicht auf Erfolg, mit seiner Erfahrung als Hausmeister auch auf dem freien Arbeitsmarkt beschäftigt zu werden. Damit erfüllt er die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1 2. Var. FreizügG/EU a.F. bzw. nunmehr § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU.

Der Anwendung des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf beschäftigungslose Arbeitsuchende mit tatsächlicher Verbindung zum hiesigen Arbeitsmarkt steht Art. 45 Abs. 2 AEUV entgegen. Beginnend mit der Rechtssache Collins hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit "klargestellt, dass es angesichts der Einführung der Unionsbürgerschaft und angesichts der Auslegung, die das Recht der Unionsbürger auf Gleichbehandlung in der Rechtsprechung erfahren hat, nicht mehr möglich ist, vom Anwendungsbereich des [Art. 45 Abs. 2 AEUV], der eine Ausprägung des in [Art. 18 AEUV] garantierten tragenden Grundsatzes der Gleichbehandlung ist, eine finanzielle Leistung auszunehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern soll" (zuletzt EuGH, Urteil vom 25. Oktober 2012 – Rs. C-367/11 – Prete, ZESAR 2013, 182, dort Rn. 25, unter Bezugnahme auf: EuGH, Urteil vom 23. März 2004 - Rs. C-138/02 – Collins, Slg. 2004, I 2703, Rn. 63, und vom 15. September 2005 - Rs. C-258/04 – Ioannidis, Slg. 2005, I 8275, Rn. 22; vgl. im Erg. auch EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009 – Rs. C-22/08 und 23/08 Vatsouras/Koupatantze, Slg. 2009, I-4585). Der EuGH hat damit unter gleichzeitigem Rückgriff auf Arbeitnehmerfreizügigkeit, das allgemeine Diskriminierungsverbot und die Unionsbürgerschaft eine "hybride Rechtsstellung" beschäftigungsloser Arbeitsuchender zur Gleichbehandlung bei Leistungen geschaffen, die (auch) den Zugang zum Arbeitsmarkt betreffen, ohne explizit den Arbeitnehmerbegriff zu erweitern (vgl. die Schlussanträge des Generalanwalts – Rs. C-22/08 und 23/08 – Vatsouras/Koupatantze, Slg. 2009, I-4585). Das Arbeitslosengeld II fällt als Leistung, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll (vgl. die Zielsetzung der Grundsicherung nach § 1 Abs. 2 SGB II, dazu beizutragen, den Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten zu können), in den Gewährleistungsbereich von Art. 45 Abs. 2 AEUV i.V.m. Art. 18, 21 AEUV im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung. Dabei kann nach dem weiten unionsbürgerfreizügigkeitsrechtlichen Sozialhilfebegriff eine Leistung zugleich Sozialhilfe i.S.d. RL 2004/38/EG sein und gleichwohl dem hier geprüften Gewährleistungsbereich unterfallen. Mit dem Urteil vom 11. November 2014 in der Rs. Dano – Rs. C-333/13 – ist nur der Umkehrschluss obsolet geworden, wonach das Arbeitslosengeld II wegen dieser Zielsetzung nicht Sozialhilfe im Sinne der RL 2004/38/EG sein könnte (insoweit übereinstimmend der 7. Senat des Hessischen LSG, Beschluss vom 11. Dezember 2014 – L 7 AS 528/14 B ER – Rn. 41 nach juris). Lässt man die verbleibenden Unsicherheiten zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung am Maßstab von Art. 4 i.V.m. Art. 70 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit außer Betracht, so ist festzustellen, dass bereits nach dem arbeitnehmerfreizügigkeitsrechtlichen Diskriminierungsverbot aus Art. 45 Abs. 2 AEUV i.V.m. den Regelungen über die Unionsbürgerfreizügigkeit Leistungsausschlüsse nicht schrankenlos zulässig sind. Sowohl Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG als auch der diese Regelung umsetzende § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bedürfen eines Rechtfertigungsgrundes und müssen verhältnismäßig sein. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann eine unterschiedliche Behandlung im Vergleich zum Inländer wie durch einen Leistungsausschluss für Unionsbürger nur dann gerechtfertigt sein, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem Zweck steht, der mit den nationalen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgt wird (vgl. EuGH in der Rs. C-367/11, a.a.O., Rn. 32 mit umfangreichen w.N.). Es kann ein legitimes Anliegen des nationalen Gesetzgebers sein, sich vergewissern zu wollen, dass eine tatsächliche Verbindung zwischen demjenigen, der die Leistung beantragt, und dem betreffenden räumlichen Arbeitsmarkt besteht (EuGH a.a.O. Rn. 33 m.w.N.). Diese tatsächliche Verbindung kann durch Voraufenthalte mit Beschäftigung, bei einem Erstaufenthalt nach Auffassung des Gerichtshofes bereits durch eine tatsächliche Beschäftigungssuche im Aufenthaltsmitgliedstaat während eines "angemessenen Zeitraums" begründet werden. Nach Auffassung des Generalanwalts in den Schlussanträgen vom 12. März 2009 zum Vorabentscheidungsersuchen des Sozialgerichts Nürnberg seien insbesondere starre oder unbefristete Leistungsausschlüsse bei Arbeitsuchenden, deren Aufenthalt mehr als drei Monate andauert, nicht von einer primärrechtskonformen Auslegung des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG gedeckt. Vielmehr müsse eine nationale Leistungsausschlussregelung die Prüfung zulassen, ob im Einzelfall zum maßgeblichen Zeitpunkt eine tatsächliche Verbindung des Arbeitsuchenden mit dem Arbeitsmarkt des Aufenthaltsmitgliedstaats bestehe (EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts – Rs. C-22/08 und 23/08 – Vatsouras/Koupatantze, Slg. 2009, I-4585 unter VIII., Rn. 61).

Dementsprechend gehen einige Landessozialgerichte und Teile der rechtswissenschaftlichen Literatur davon aus, dass wegen Art. 45 Abs. 2 AEUV und einer hieran ausgerichteten Auslegung des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nur eingeschränkt anwendbar ist. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts führt der Verstoß gegen ein unionsrechtliches Diskriminierungsverbot dazu, dass das nationale Gericht daran gehindert ist, das diskriminierende Merkmal des nationalen Rechts anzuwenden (statt vieler: EuGH, Urteil vom 22. Juni 2011 Rs. C 399/09 – Landtová, Slg. 2011, 5573, Rn. 51 m.w.N.; zur damit verbundenen Prüf- und Verwerfungskompetenz des Instanzgerichts vgl. bereits BVerfGE 31, 145, 174 f.). Daher muss § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II jedenfalls dann unangewendet bleiben, wenn ein Arbeitsuchender bei bestehendem Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche eine tatsächliche Verbindung zum hiesigen Arbeitsmarkt aufweist, in dem er die Leistung aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts beansprucht (so Bayerisches LSG, Beschluss vom 2. Juli 2014 – L 16 AS 419/14 B ER – juris; LSG NRW, Beschluss vom 11. Dezember 2012 – L 7 AS 1658/12 B ER – juris; Frings, ZAR 2012, 317, 322 f.; Fuchs, ZESAR 2014, 103, 111; Greiser, ZESAR 2014, 18, 22 ff. m.w.N.; im Ergebnis zu Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 auch Damjanovic, Common Market Law Review 47 (2010), 847, 859 f.; a. A.: 7. Senat des Hessischen LSG, Beschluss vom 11. Dezember 2014 – L 7 AS 528/14 B ER –). Auch das Bundessozialgericht erwägt, dieser Auslegung zu folgen und hat aus diesem Grunde eine entsprechende Vorlagefrage (Nr. 3) im Vorabentscheidungsersuchen gestellt (vgl. BSG a.a.O., Rn. 44 ff.). Der Senat ist der Auffassung, dass bei dem gegenwärtigen Stand der EuGH-Rechtsprechung jedenfalls aus primärrechtlichen Gründen bei bestehender tatsächlicher Verbindung zum hiesigen Arbeitsmarkt § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unverhältnismäßig ist. Offen gelassen wird, ob es methodisch überhaupt möglich ist, den Leistungsausschluss in anderen Fällen gleichsam geltungserhaltend einschränkend auszulegen (dazu kritisch Hofmann/Kummer, ZESAR 2013, 199, 205 m.w.N.). Ferner kann im vorliegenden Fall auch offen bleiben, ob sich aus Art. 4 i.V.m. Art. 70 VO (EG) 883/2004 weitergehende Anforderungen ergeben (bejahend Beschluss des Senates vom 30. September 2013 L 6 AS 433/13 B ER).

Der Antragsteller ist in Kassel geboren, er hat in Deutschland seinen Hauptschulabschluss gemacht und hat vor seiner Ausweisung und nach seiner Wiedereinreise mehrere Jahre – wenngleich in Haft – in Deutschland gearbeitet. Insbesondere zuletzt hat er durch seine jedenfalls im Ansatz schon einmal erfolgreiche Arbeitssuche auf dem hiesigen Arbeitsmarkt seine tatsächliche Verbindung nachgewiesen.

Lediglich klarstellend wird darauf hingewiesen, dass für die vorliegende Konstellation die Entscheidung des EuGH vom 11. November 2014 in der Rs. C-333/13 – Dano – unergiebig ist, da der Gerichtshof dort festgestellt hat, dass mangels Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG auf den dortigen Fall keine Anwendung findet (Rn. 66) und die Vorlagefragen des Sozialgerichts Leipzig auch nicht das arbeitnehmerfreizügigkeitsrechtliche Diskriminierungsverbot des Art. 45 Abs. 2 AEUV betrafen. Vielmehr beschäftigt sich das Urteil allein mit einem Leistungsausschluss bei fehlendem Aufenthaltsrecht am Maßstab des Koordinierungsrechts und des allgemeinen Diskriminierungsverbots aus Art. 18 AEUV i.V.m. den Regelungen über die Unionsbürgerfreizügigkeit.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe folgt aus § 73a SGG i.V.m. §§ 114 ff. Zivilprozessordnung.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde anfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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