L 7 AL 87/15

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 14 AL 13/15
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AL 87/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld kann nach § 161 Abs. 2 SGB 3 nicht mehr geltend gemacht werden, wenn nach seiner Entstehung vier Jahre verstrichen sind.

2. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch setzt nicht nur eine Pflichtverletzung der Behörde voraus, sondern verlangt zusätzlich, dass der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil auch durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden kann.

3. Jedenfalls dann, wenn eine tatsächliche und für die Beklagte unverfügbare Anspruchsvoraussetzung - wie vorliegend die Verfügbarkeit - nicht vorliegt, bleibt es dabei, dass die damit verbundenen gesetzlichen Folgen nicht über einen Herstellungsanspruch korrigiert werden können.
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 8. Juli 2015 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander in beiden Instanzen keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Arbeitslosengeld.

Die 1980 geborene Klägerin war vom 1. November 2008 bis 30. November 2010 sozialversicherungspflichtig beim Deutschen C. in C-Stadt beschäftigt. Danach war sie arbeitslos und bezog vom 1. Dezember 2010 bis 31. Dezember 2010 und vom 25. März 2011 bis 3. April 2011 für insgesamt 40 Tage Arbeitslosengeld mit einem Restanspruch von 320 Kalendertagen.

Am 4. April 2011 nahm sie eine Beschäftigung als wissenschaftliche Mitarbeiterin am D. Institut in D-Stadt auf. Von dort kehrte sie am 5. Dezember 2014 nach Deutschland zurück. Die Klägerin meldete sich dann am 8. Dezember 2014 bei der Beklagten arbeitslos und beantragte die Gewährung von Arbeitslosengeld.

Den Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 11. Dezember 2014 unter Bezugnahme auf § 137 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) mit der Begründung ab, der am 1. Dezember 2010 erworbene Anspruch auf Arbeitslosengeld sei erschöpft. Seither sei die Klägerin weniger als zwölf Monate versicherungspflichtig gewesen und habe daher keine neue Anwartschaftszeit erfüllt.

Gegen die Ablehnung legte die Klägerin Widerspruch ein und trug vor, eine Mitarbeiterin der Beklagten habe ihrer Mutter auf Anfrage am 1. September 2014 ausdrücklich erklärt, es bestehe ein Anspruch auf Arbeitslosengeld noch für 320 Tage und dieser Anspruch müsse bis zum Ende des Jahres 2014 persönlich bei der Arbeitsagentur in Büdingen beantragt werden. Diese telefonische Auskunft sei als Aktennotiz von der bei dem Telefonat anwesenden Sekretärin ihrer Mutter, Frau E., schriftlich fixiert und zusammen mit anderen ebenfalls relevanten Informationen an sie nach D-Stadt weitergeleitet worden. Im Vertrauen auf die erteilte Auskunft, dass eine Antragstellung bis zum Ende des Jahres möglich sei, habe sie einer Bitte der Deutschen Botschaft in Tel Aviv entsprochen und eine Veranstaltung für in D-Stadt lebende junge Wissenschaftler am 4. Dezember 2014 durchgeführt. Sie sei dann am nächsten Tag, dem 5. Dezember 2014, nach Deutschland geflogen. Da sie zu diesem Zeitpunkt bereits ihre Beschäftigung am D. Institut beendet gehabt habe, wäre sie bei korrekter Auskunft vorher bei der Agentur für Arbeit erschienen. Ihrem Widerspruch fügte sie die Ablichtung der Aktennotiz und der E-Mail von Frau E. bei.

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 2014 zurück. In dem Widerspruchsbescheid wird ausgeführt, eine Auskunft "bis zum Ende des Jahres 2014" sei zeitlich zu ungenau, um hieraus eine fehlerhafte Beratung abzuleiten. Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass der Beklagten eine unzureichende Beratung vorzuwerfen sei (wovon sie aber nicht ausgehe), käme eine Gewährung des begehrten Arbeitslosengeldes im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht in Betracht. Mithilfe des Herstellungsanspruchs könne nach ständiger Rechtsprechung ein Fehlverhalten des Leistungsträgers nur insoweit berichtigt werden, als die Korrektur mit dem Gesetzeszweck in Einklang stehe. Rein tatsächliche Gegebenheiten, wie die fehlende rechtzeitige Arbeitslosmeldung könnten nicht über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ersetzt werden (Hinweis auf BSG SozR 4100 § 105 Nr. 2).

Mit der am 22. Januar 2015 vor dem Sozialgericht Gießen erhobenen Klage hat die Klägerin unter Wiederholung und Ergänzung ihres Vorbringens aus dem Widerspruchsverfahren ihr Begehren weiter verfolgt. Es habe für sie keinen Grund gegeben, nicht rechtzeitig bei der Agentur für Arbeit vorzusprechen, da ihr Vertrag bereits am 31. Oktober 2014 geendet habe. Sie sei der Meinung, dass die Formulierung "Ende des Jahres" genau ein Datum bedeute, nämlich den 31. Dezember des Jahres. Zur weiteren Begründung hat die Klägerin auf eine eidesstattliche Versicherung ihrer Mutter vom 8. April 2015 und auf eine eidesstattliche Versicherung von Frau E. vom 3. Juli 2015 Bezug genommen.

Dem ist die Beklagte entgegengetreten unter Bezugnahme auf einen Vermerk ihrer Servicemitarbeiterin F. über ein Telefonat am 1. September 2014 mit der Mutter der Klägerin mit folgendem Inhalt:

"Frau A. (Mutter - Anscheinsvollmacht gegeben) bittet um Auskunft, ob Kd. noch einen Restanspruch auf ALG hat. Erweiterter Datenabgleich anhand SV-Nr. erfolgt. Des Weiteren hat sie alle Unterlagen wie z. B. Bewilligungsbescheid, ÄB, etc. vorliegen, daher Auskunft lt. Colibri erteilt, dass Kd. noch über einen Restanspruch von 320 KT hat."

Aus diesem Vermerk ergebe sich zweifelsfrei, dass die Mutter der Klägerin nach dem Restanspruch auf Arbeitslosengeld gefragt habe und auch hierzu eine Auskunft erteilt worden sei. Eine Frage, bis wann der Anspruch noch geltend gemacht werden könne, sei nicht gestellt worden. Im Übrigen komme ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch nicht in Betracht. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch habe nicht nur zur Voraussetzung, dass der Sozialleistungsträger eine ihm aufgrund Gesetzes oder eines Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Beratung und Auskunft verletzt habe und zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen ein ursächlicher Zusammenhang bestehe. Im Gegensatz zum Amtshaftungsanspruch, der allein auf dem ordentlichen Rechtsweg verfolgt werden könne, und eine Fehlerkorrektur allein mittels Schadensausgleich vorsehe, müsse der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil auch durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können. Schließlich dürfe die Korrektur durch den Herstellungsanspruch dem jeweiligen Gesetzeszweck nicht widersprechen. Die Arbeitslosmeldung, vor allem aber die objektive und subjektive Verfügbarkeit des Anspruchstellers, stellten aber tatsächliche Umstände dar, die die Beklagte nicht ersetzen könne.

Nach uneidlicher Vernehmung der Mutter der Klägerin, Frau G. A. sowie der Servicemitarbeiterin der Beklagten, Frau F., zum Inhalt des Telefonats vom 1. September 2014 hat das Sozialgericht Gießen mit Urteil vom 8. Juli 2015 der Klage stattgegeben und die Beklagte – unter Aufhebung des Bescheides vom 11. Dezember 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 2014 – verurteilt, der Klägerin Arbeitslosengeld ab dem 8. Dezember 2014 im gesetzlichen Umfang zu zahlen.

Die form- und fristgerecht erhobene Klage sei zulässig und auch begründet.

Die Klägerin habe Anspruch auf Arbeitslosengeld ab dem 8. Dezember 2014. Der Bescheid der Beklagten vom 11. Dezember 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 2014 sei rechtswidrig.

Zwar habe die Klägerin die Frist des § 161 Abs. 2 SGB III, innerhalb der ein Anspruch auf Arbeitslosengeld geltend gemacht werden müsse, versäumt. Danach könne ein Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht mehr geltend gemacht werden, wenn nach seiner Entstehung vier Jahre verstrichen seien. Die Klägerin habe sich erst am 8. Dezember 2014 bei der Beklagten arbeitslos gemeldet und Arbeitslosengeld beantragt. Der am 1. Dezember 2010 erworbene Anspruch auf Arbeitslosengeld hätte daher spätestens bis zum 1. Dezember 2014 geltend gemacht werden müssen.

Die Klägerin sei aber im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als habe sie den Antrag rechtzeitig gestellt.

Der von der Rechtsprechung entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch sei auf Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung desjenigen Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Sozialleistungsträger eine ihm aus dem Sozialrechtsverhältnis erwachsene Nebenpflicht ordnungsgemäß wahrgenommen hätte, dies aber pflichtwidrig unterblieben sei. In solchen Fällen könnten gewisse sozialrechtliche Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen, wie etwa eine verspätete Antragstellung, eine verspätete Beitragsentrichtung, eine verspätete Vorlage von Unterlagen als erfüllt angesehen werden, wenn die Verspätung gerade auf einem pflichtwidrigen Verhalten des Leistungsträgers beruhe.

Nach der durchgeführten Beweisaufnahme sei das Gericht davon überzeugt, dass die verspätete Arbeitslosmeldung auf einem pflichtwidrigen Handeln der Beklagten beruhe. Das Gericht halte die Darstellung der als Zeugin gehörten Mutter der Klägerin von dem Ablauf des Telefonats am 1. September 2014 für glaubhaft. Danach sei davon auszugehen, dass die Mutter der Klägerin bei dem Telefonat gefragt habe, bis wann der Antrag auf Arbeitslosengeld bei der Agentur für Arbeit gestellt werden müsse und ihr von der ebenfalls als Zeugin gehörten Mitarbeiterin F. der Beklagten die Auskunft gegeben worden sei, dass der Antrag bis Ende des Jahres gestellt werden müsse. Die Aussage stimme überein mit dem Inhalt der von Frau E. an die Klägerin geschickten E-Mail vom 1. September 2014, die auf der über das Telefonat gefertigten Aktennotiz der Zeugin beruhe. Die Zeugin habe auch nachvollziehbar erklären können, warum sie die Frage nach dem Antragsdatum gestellt hatte. Sie habe gewusst, dass es mit der Frist für den Antrag knapp werden könnte. Das Gericht sei auch davon überzeugt, dass der Zeugin kein konkretes Datum genannt worden sei, sondern sie die Auskunft erhalten habe, der Antrag müsse bis zum Ende des Jahres gestellt werden. Die Aussage der Mitarbeiterin F. der Beklagten sei nicht geeignet, Zweifel an der Darstellung der Zeugin A. zu begründen. Die Zeugin F. habe keine Erinnerung mehr an das Telefonat gehabt. Frau F. habe ausgesagt, sie führe etwa 20 bis 40 Kundengespräche am Tag und erteile leistungsrechtliche Auskünfte. Das Gericht halte es angesichts der Arbeitsbelastung der Zeugin nicht für ausgeschlossen, dass der von der Zeugin F. gefertigte Vermerk über das Telefonat unvollständig sei und die Frage nach dem Antragszeitpunkt in dem Vermerk nicht erfasst worden sei. Dass diese Frage gestellt worden sei, ergebe sich aber aus der glaubhaften Aussage der Mutter der Klägerin.

Zwar sei der Beklagten durchaus zuzugeben, dass eine Auskunft "bis zum Ende des Jahres 2014" zeitlich ungenau sei. Diese Ungenauigkeit gehe aber zu Lasten der Beklagten. Die Mutter der Klägerin habe in dem Telefonat eine konkrete Frage gestellt. Erfolge auf eine solche konkrete Frage eine ungenaue Auskunft, müsse die Beklagte eine solche Ungenauigkeit gegen sich gelten lassen. Ein Antragsteller habe Anspruch darauf, dass seine Fragen vollständig und richtig beantwortet würden. Eine Auskunft "bis Ende des Jahres" lasse im Übrigen durchaus den Schluss zu, dass der Anspruch bis zum 31. Dezember des Jahres geltend gemacht werden könne.

Schließlich teile das Gericht nicht die Auffassung der Beklagten, der sozialrechtliche Herstellungsanspruch scheitere hier daran, der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil könne nicht durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden. Das Gericht beziehe sich hierzu auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 29. September 1987 mit dem Aktenzeichen 7 RAr 23/86. Das BSG habe in dieser Entscheidung einen Beratungsfehler der Agentur für Arbeit darin gesehen, dass ein Hinweis auf die rechtlich zulässige Beendigung des Bezugs von Mutterschaftsgeld unterblieben sei, um die rechtzeitige Geltendmachung des Rechtsanspruchs auf Arbeitslosengeld zu wahren. Der hier vorliegende Sachverhalt sei vergleichbar (siehe auch Reichel in jurisPK – SGB III, 1. Auflage 2014, § 161 SGB III, Rn. 46 und Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB III, 05/12, § 161 SGB III Rn. 57). Die von der Beklagten aufgeführte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und des Hessischen Landessozialgerichts stehe dem nicht entgegen. Die Beklagte verkenne bei ihrer Argumentation, dass es hier nicht darum gehe, die Verfügbarkeit der Klägerin im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu ersetzen, sondern allein das Antragsdatum korrigiert werde. Verfügbar sei die Klägerin spätestens ab der am 8. Dezember 2014 erfolgten Arbeitslosmeldung gewesen. Es werde somit kein tatsächlicher Vorgang wiederhergestellt, sondern nur das Antragsdatum vorverlegt.

Das Urteil ist der Beklagten am 30. Juli 2015 zugestellt worden. Am 27. August 2015 hat die Beklagte hiergegen beim Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt. Die Beklagte teile schon nicht das Ergebnis der Beweiswürdigung des erstinstanzlichen Gerichts, dass die Klägerin falsch oder unzureichend beraten worden sei. Zudem widerspreche das Urteil der obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung. Das Sozialgericht Gießen sei zu Unrecht von einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ausgegangen. Dieser habe nicht nur zur Voraussetzung, dass der Sozialleistungsträger eine ihm auf Grund Gesetzes oder eines Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Beratung und Auskunft (§§ 14, 15 SGB I), verletzt habe und zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen ein ursächlicher Zusammenhang bestehe. Im Gegensatz zum Amtshaftungsanspruch müsse der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil auch durch eine schlüssige Amtshandlung beseitigt werden können (Verweis auf Urteil des Senats vom 23. September 2011, L 7 AL 174/10, Rz 31, juris). Die Arbeitslosmeldung, vor allem aber die objektive und subjektive Verfügbarkeit des Anspruchsstellers stellten aber tatsächliche Umstände dar, die der Leistungsträger nicht ersetzen könne (Hess. LSG, a.a.O., Rz 32). Die Klägerin hätte sich zur Realisierung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld spätestens am 1. Dezember 2014 bei der Beklagten persönlich arbeitslos melden müssen. Dies habe sie nicht getan. Sie sei zu diesem Zeitpunkt für die Beklagte auch nicht verfügbar gewesen, weil sie sich unstreitig bis zum 4. Dezember 2014 in D-Stadt aufgehalten habe. Dabei sei unerheblich, dass sie sich offenbar nur auf Bitte der Deutschen Botschaft so lange dort aufgehalten habe und ansonsten schon möglicherweise vor dem 1. Dezember 2014 nach Deutschland zurückgekehrt wäre. Auch das Bundessozialgericht habe bereits in einem Urteil vom 31. Januar 2006 (B 11a AL 15/05 R, juris) festgehalten, dass ein Erlöschen des Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe auf der Grundlage des vergleichbaren § 196 S. 2 Nr. 4 SGB III (in der bis 31. Dezember 2004 geltenden Fassung) nicht durch einen Herstellungsanspruch überwunden werden könne, wenn der Arbeitslose während der entsprechenden Zeit nicht verfügbar gewesen sei.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 8. Juli 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Bei korrekter Auskunft wäre Arbeitslosengeld rechtzeitig beantragt worden. Sie wäre auch verfügbar gewesen.

Mit Erklärungen vom 9. Mai 2016 (Klägerin) und 6. Mai 2016 (Beklagte) haben die Beteiligten ihr Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erteilt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vortrags der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die jeweils Gegenstand der Beratung gewesen sind, ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte eine Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung treffen, weil sich die Beteiligten damit übereinstimmend einverstanden erklärt haben (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).

Die zulässige Berufung der Beklagten hat auch in der Sache Erfolg.

Das Urteil des Sozialgerichts Gießen (SG) ist rechtswidrig, weil der angefochtene Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 11. Dezember 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 2014 nicht zu beanstanden ist.

Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld steht der Klägerin ab dem 8. Dezember 2014 nicht zu.

Einen erneuten Anspruch auf Arbeitslosengeld hat die Klägerin nicht begründet, weil sie die nach §§ 136 Abs. 1 Nr. 1, 137 Abs. 1 Nr. 3, 142, 143 SGB III idF des Gesetzes vom 20. Dezember 2011 (BGBl. I S. 2854) erforderliche Anwartschaftszeit nicht erfüllt hat.

Erforderlich ist danach, dass innerhalb einer Rahmenfrist von zwei Jahren der Antragsteller mindestens zwölf Monate in einem Versicherungsverhältnis gestanden hat. Die Rahmenfrist beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld, vorliegend mithin am 8. Dezember 2014. Innerhalb der 2-jährigen Rahmenfrist vom 8. Dezember 2012 bis 7. Dezember 2014 war die Klägerin jedoch ausschließlich in D-Stadt beschäftigt, und damit nicht versicherungspflichtig im Sinne der §§ 24 ff. SGB III i.V.m. § 3 SGB IV.

Der verbliebene Restanspruch auf Arbeitslosengeld aufgrund der vorherigen Arbeitslosigkeit ist hingegen vor der erneuten Arbeitslosmeldung erloschen.

Nach § 161 Abs. 2 SGB III kann ein Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht mehr geltend gemacht werden, wenn nach seiner Entstehung vier Jahre verstrichen sind.

Ist der Anspruch am 1. Dezember 2010 bereits aufgrund des nach § 77 SGG bestandskräftigen Bewilligungsbescheids entstanden, läuft diese Frist zum 1. Dezember 2014 kalendermäßig ab; eine Hemmung oder Unterbrechung des Fristablaufs ist ausgeschlossen (BSG, 19. Januar 2005 – B 11a/11 AL 11/04 R m.w.Nw.). Läuft die Frist kalendermäßig ab, endet sie mit Ablauf des Tages, der seiner Benennung nach dem Tag entspricht, an dem er entstanden ist (§ 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB).

Jedenfalls vor dem 8. Dezember 2014 hat die Klägerin den Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht wirksam geltend gemacht, denn sie hat sich vor diesem Zeitpunkt weder persönlich arbeitslos gemeldet noch ist sie arbeitslos gewesen, so dass der Restanspruch bereits erloschen ist, bevor die Klägerin die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllen konnte.

Beide Leistungsvoraussetzungen nach §§ 136 Abs. 1 Nr. 1, 137 Abs. 1 Nr. 1 und 2, § 138, 141 Abs. 1 S. 1 SGB III haben bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorgelegen.

Persönlich arbeitslos gemeldet hat sich die Klägerin gemäß § 141 Abs. 1 S. 1 SGB III unstreitig erst zum 8. Dezember 2014.

Auch arbeitslos im Sinne von § 138 SGB III ist die Klägerin erst ab 8. Dezember 2014 gewesen. Danach setzt Arbeitslosigkeit u.a. voraus, den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung zu stehen (Verfügbarkeit nach Nr. 3). Diese Voraussetzung konnte sie während ihres Aufenthaltes in D-Stadt bis 4. Dezember 2014 in keinem Fall erfüllen.

Entgegen der Auffassung des SG kann dieses Ergebnis auch nicht durch einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch korrigiert werden, obwohl eine unzureichende Beratung durch die Beklagte vorliegend tatsächlich nicht auszuschließen ist (so auch Jahraus, in: Mutschler/Schmidt-De Caluwe/Coseriu, SGB III Großkommentar, 5. Auflage 2013, § 161 Rn. 36 m.w.Nw.). Ob tatsächlich eine fehlerhafte Beratung vorgelegen hat, was von der Beklagten im Berufungsverfahren weiterhin bestritten wird, kann der Senat jedoch offen lassen.

Denn der sozialrechtliche Herstellungsanspruch hat nicht nur zur Voraussetzung, dass der Sozialleistungsträger eine ihm auf Grund Gesetzes oder eines Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Beratung und Auskunft (§§ 14, 15 SGB I), verletzt hat und zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Im Gegensatz zum Amtshaftungsanspruch, der allein auf dem ordentlichen Rechtsweg verfolgt werden kann und eine Fehlerkorrektur allein mittels Schadensausgleich vorsieht, muss der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil auch durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können. Schließlich darf die Korrektur durch den Herstellungsanspruch dem jeweiligen Gesetzeszweck nicht widersprechen (vgl. im Einzelnen: BSG, 31. Januar 2006 B 11a AL 15/05 R; BSG, 1. April 2004 – B 7 AL 52/03 R - sowie BSG, 3. Dezember 2009 - B 11 AL 28/08 R; Kreßel, NZS 1994, 395 ff.).

Die Arbeitslosmeldung, vor allem aber die objektive und subjektive Verfügbarkeit des Anspruchstellers stellen aber tatsächliche Umstände dar, die der Leistungsträger in gesetzeskonformer Weise nicht ersetzen kann. Das Bundessozialgericht hat zwar in der bereits zitierten Entscheidung vom 19. Januar 2005 das Vorliegen eines Beratungsfehlers in der Sache geprüft, nachdem ein Anspruch auf Arbeitslosengeld bzw. -hilfe während des Bezugs von Erziehungsgeld erloschen war. Jedenfalls dann, wenn wie auch vorliegend – der Betroffene im entscheidenden Zeitraum nicht verfügbar war, ist jedoch daran festzuhalten, dass ein Herstellungsanspruch nicht eingreifen kann. Andernfalls würde das richterrechtlich geschaffene Rechtsinstitut seine Konturen vollständig verlieren und wäre von einem Schadensersatzanspruch nicht mehr abgrenzbar: Jedenfalls dann, wenn eine tatsächliche und für die Beklagte unverfügbare Anspruchsvoraussetzung nicht vorliegt (und nicht nur von den rechtlichen Wirkungen eines tatsächlichen Vorgangs, etwa einer Arbeitslosmeldung, abgesehen werden muss), bleibt es dabei, dass die damit verbundenen gesetzlichen Folgen nicht über einen Herstellungsanspruch korrigiert werden können. Dementsprechend hat das BSG in einem nachfolgenden Urteil vom 31. Januar 2006 (B 11a AL 15/05 R) festgehalten, dass ein Erlöschen des Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe auf der Grundlage des vergleichbaren § 196 S. 2 Nr. 4 SGB III (in der bis 31. Dezember 2004 geltenden Fassung) nicht durch einen Herstellungsanspruch überwunden werden könne, wenn der Arbeitslose während der entsprechenden Zeit auf Grund einer Ausbildung nicht verfügbar war. Eine weitergehende Korrektur im Wege des Herstellungsanspruchs widerspräche dem Gesetzeszweck, weil eine Ersetzung von tatsächlichen Umständen, denen gestaltende Entscheidungen des Antragstellers zu Grunde liegen, in Abgrenzung zum Amtshaftungsanspruch ausgeschlossen sei. Insofern unterscheide sich der Sachverhalt nachhaltig von den Verhältnissen, die der vorangegangenen Entscheidung des BSG vom 19. Januar 2005 zugrunde lagen. In dieser Entscheidung sei insbesondere darauf abgestellt worden, dass sich für die dort relevante Zeit der Bezug von Erziehungsgeld und Arbeitslosenhilfe nicht ausschließen würden und die Klägerin nicht auf eine Beendigung der Arbeitslosigkeit erst nach Ablauf der Erlöschensfrist verwiesen werden könne (so schon Senat, Urteil vom 23. September 2011, L 7 AL 174/10, in juris, zu einem vergleichbaren Sachverhalt u. der Vorgängerregelung des § 147 Abs. 2 SGB III a.F.).

Auch der Einwand unzulässiger Rechtsausübung bzw. ein Verweis auf den Grundsatz von Treu und Glauben führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Der Anspruch ist auf Grund einer gesetzlich bindend vorgegebenen Verfallsfrist erloschen. Diese rechtliche Konsequenz hängt nicht von einem Verhalten der Beklagten ab – wie z. B. im Falle der Verjährung, bei der sie nach Ermessen zu entscheiden hat, ob sie eine entsprechende Einrede erhebt –; das Erlöschen folgt vielmehr unmittelbar aus der entsprechenden gesetzlichen Anordnung, die nicht zur Disposition der Beklagten steht (vgl. dazu Karmanski in Brand, SGB III, 7. Aufl. 2015, § 161 Rn. 26; a.A. wohl Jahraus, aaO, § 161 Rn. 38).

Schließlich kommt auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Frage. § 27 SGB X ist wegen des Charakters der Frist aus § 161 Abs. 2 SGB III als kalendermäßig ablaufender Verfallsfrist, die einer Hemmung und Unterbrechung nicht zugänglich ist, nicht anwendbar (vgl. nur Niewald in Gagel, SGB II/III, § 161 Rdnr. 29 mwN).

Die Kostenentscheidung beruht auf dem Ausgang des Rechtsstreits gemäß § 193 Abs. 1 S. 1 SGG.

Gründe die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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