L 6 SF 10/16 EK U

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 SF 10/16 EK U
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 10 ÜG 5/17 BH
Datum
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Gegenstand des Entschädigungsverfahrens ist ein einheitlicher prozessualer Anspruch bezogen auf eine unangemessene Dauer des Verfahrens in seiner prozessualen Gesamtheit, beginnend mit dessen Rechtshängigkeit bis dessen Abschluss. Nicht jeder einzelne Antrag oder jedes einzelne Gesuch sind als gesondertes Gerichtsverfahren anzusehen.

2. Das Beschwerdeverfahren gegen einen Aussetzungsbeschluss nach § 114 SGG ist kein eigenständiges Gerichtsverfahren im Sinne des § 198 GVG, das für sich betrachtet einer Entschädigung wegen Überlänge zugänglich sein könnte.

3. Dauert das Gerichtsverfahren aufgrund einer rechtswidrigen, im Beschwerdeverfahren aufgehobenen Aussetzungsentscheidung unanmessen lang, ist die Zeitdauer des Stillstands der Rechtspflege durch die Aussetzung zu entschädigen.
I. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main unter dem Aktenzeichen S 8 U 161/12 geführten Verfahrens eine Entschädigung in Höhe von 2.500 Euro zuzüglich Zinsen daraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 26. August 2016 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu 1/3, die Klägerin zu 2/3 zu tragen.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt eine Entschädigung für die Dauer des erstinstanzlichen Klageverfahrens vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main (S 8 U 187/06, fortgeführt unter S 8 U 161/12). Die Klageerhebung in diesem Verfahren erfolgte am 13. Juli 2006, das erstinstanzliche Verfahren endete mit Urteil vom 20. Januar 2015. Die Berufung ist am Hessischen Landessozialgericht anhängig (Az. L 3 U 29/15).

In dem Ausgangsverfahren stritt die Klägerin mit der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (BG) um die Entschädigung eines als Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung anerkannten Wegeunfallereignisses vom 25. November 2002. An diesem Tag war die 1968 geborene Klägerin auf dem Heimweg von ihrer Arbeitsstelle auf einem Zebrastreifen von einem Pkw erfasst worden. Mit dem im Ausgangsverfahren streitgegenständlichen Bescheid von 15. November 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Juni 2006 erkannte die BG als Unfallfolgen an: "Nach operativer Versorgung und Rekonstruktion ohne Funktionseinschränkungen verheilte Jochbeinfraktur links, Jochbogenfraktur links, Orbitalbogenfraktur links, Kieferhöhlenwandfraktur links, Abriss des Nervus infraorbitalis sowie das Zurücksinken des linken Augapfels in die Orbita um 2 mm." Eine Rente wegen des Versicherungsfalls lehnte die BG ab, da die Erwerbsfähigkeit nicht in rentenberechtigendem Grad über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus gemindert sei. Mit ihrer am 13. Juli 2006 zum Sozialgericht Frankfurt am Main erhobenen Klage begehrte die Klägerin die Feststellung weiterer Unfallfolgen, Verletztengeld und eine Unfallrente. Der Verlauf des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main (S 8 U 161/12) gestaltete sich im Wesentlichen wie folgt:

Juli 2006 Klageeingang ohne Antrag und Begründung (Az. S 8 U 187/06)
August 2006 Akteneinsicht durch den Prozessbevollmächtigten der Klägerin (VdK) mit Ankündigung einer Klagebegründung
November 2006 Erinnerung an die Klagebegründung
März 2007 Eingang der Klagebegründung / Beweisanordnung für ein Sachverständigengutachten bei Dr. C.
August 2007 Eingang des Sachverständigengutachten von Dr. C. November
2007 Beklagte übersendet eine beratungsärztliche Stellungnahme / eine ergänzende Stellungnahme beim Sachverständigen wird angefordert
Januar 2008 Eingang der ergänzenden Stellungnahme von Dr. C.
März 2008 Beklagte übersendet weitere beratungsärztliche Stellungnahme / weitere ergänzende Stellungnahme wird beim Sachverständigen angefordert
Mai 2008 Eingang der weiteren ergänzenden Stellungnahme von Dr. C. / Beweisanordnung für ein Sachverständigengutachten bei Dr. D.
November 2008 Eingang des Sachverständigengutachtens von Dr. D.
Januar 2009 Beweisanordnung für ein Sachverständigengutachten bei Dr. E.
März 2009 Änderung der Beweisanordnung, neuer Sachverständiger Dr. F.
April 2009 Genehmigung der Taxikosten für die Klägerin für die Untersuchung durch den Sachverständigen
Mai 2009 Sachverständiger sendet Akten zurück, da die Klägerin nicht zur Untersuchung erschienen ist / VdK legt Mandat nieder
Juni 2009 Klägerin beantragt und nimmt Akteneinsicht bei Gericht
Juli 2009 Anhörung zum Gerichtsbescheid / Klägerin übersendet 40 Fragen an Sachverständigen Dr. C. und 42 Fragen an Sachverständigen Dr. D.
August 2009 Beklagte übersendet Stellungnahme zu den Sachverständigengutachten
September 2009 Klägerin beantragt bei dem Beklagten die Löschung des Gutachtens von Dr. G. aus dem Verwaltungsverfahren
November 2009 Beklagte übersendet Bescheid über den Löschungsantrag / Sozialgericht (SG) beschließt die Aussetzung des Verfahrens mit Beschluss vom 25. November 2009
November 2011 Landessozialgericht hebt auf die Beschwerde der Klägerin den Aussetzungsbeschluss auf mit Beschluss vom 1.November 2011 (L 3 U 274/09 B)
Januar 2012 Verzögerungsrüge / Sozialgericht setzt das Verfahren fort (neues Aktenzeichen: S 8 U 161/12) / Klägerin übersendet 42 Fragen an Dr. C. / Beklagte regt die Beiziehung Akten der DRV Bund an
Februar 2012 Klägerin widerspricht der Aktenbeiziehung / Beklagte legt die ärztliche Stellungnahme von Dr. H. vor
März 2012 Klägerin beantragt ein unfallanalytisches Gutachten
April 2012 Klägerin erinnert wiederholt an die Übersendung ihrer Fragen an die Sachverständigen
Juni 2012 Beklagte übersendet unfallanalytische Gutachten aus dem Zivilprozess
Juli 2012 Klägerin widerspricht der Verwertung der Gutachten aus dem Zivilprozess
September 2012 Beweisanordnung für ein Sachverständigengutachten bei Dr. J. und Hinweisschreiben an die Klägerin
Oktober 2012 SG fordert Aufnahmen der Kernspintomographie bei der Klägerin an
Dezember 2012 SG ergänzt Beweisfragen und übersendet die Aufnahmen an den Sachverständigen
Januar 2013 Verzögerungsrüge
Februar 2013 Eingang des Sachverständigengutachtens von Dr. J.
März 2013 Beklagte nimmt Stellung zum Sachverständigengutachten / Klägerin beantragt ein Verwertungsverbot für das Sachverständigengutachten von Dr. J., SG lehnt dies mit Beschluss ab
Juni 2013 SG holt ergänzende Stellungnahme bei Dr. J. ein / Klägerin stellt Befangenheitsantrag gegen Kammervorsitzenden / Eingang der ergänzenden Stellungnahme von Dr. J.
August 2013 SG holt ergänzende Stellungnahme bei Dr. C. ein mit den Fragen der Klägerin
Oktober 2013 Eingang der ergänzende Stellungnahme von Dr. C.
November 2013 Beklagte übersendet Stellungnahme zum Sachverständigengutachten von Dr. C.
Dezember 2013 Staatsanwaltschaft fordert Akten an wegen des auf eine Anzeige der Klägerin hin eingeleiteten Ermittlungsverfahrens gegen den Kammervorsitzenden / SG teilt mit, dass die für das 1. Quartal 2014 geplante mündliche Verhandlung nicht anberaumt wird wegen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens
März 2014 Klägerin stellt neuen Klageantrag (Verletztengeld) / Ladung zur mündlichen Verhandlung für den 17. Juni 2014
April 2014 Klägerin beantragt die Ladung der Sachverständigen zum Termin / Beklagte übersendet den Bescheid vom 24. März 2014 zum Verletztengeldanspruch der Klägerin
Juni 2014 Eingang der beim LSG angeforderten Akten beim Sozialgericht am 16. Juni 2014 / Mündlichen Verhandlung am 17. Juni 2014 vertagt, weil (angeblich) Akten nicht vorlagen / Verzögerungsrüge
August 2014 Ladung für den 4. November 2014 / Beklagte übersendet eine ärztliche Stellungnahme
November 2014 Mündliche Verhandlung am 4. November 2014: vertagt, weil die Ladung an die Beklagte nicht versandt wurde / Verzögerungsrüge / Ladung für den 20. Januar 2015 / Befangenheitsantrag gegen den Kammervorsitzenden
Januar 2015 Mündliche Verhandlung am 20. Januar 2015 mit Urteil

Die Klägerin hat am 10. Januar 2012 zum ersten Mal Verzögerungsrüge erhoben und sich am 20. Februar 2014 mit ihrem Entschädigungsbegehren – zunächst im Wege eines Prozesskostenhilfeantrags – an das Landessozialgericht gewandt. Mit Beschluss des Senats vom 20. Mai 2016 ist der Klägerin Prozesskostenhilfe bewilligt worden. Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 25. August 2016, eingegangen bei Gericht am Folgetag, hat die Klägerin Entschädigungsklage zum Landessozialgericht erhoben.

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 24. Februar 2017 hat sie den geltend gemachten Entschädigungsanspruch auf das erstinstanzliche Verfahren beschränkt und Schadensersatz in Höhe von mindestens 1.200 Euro jährlich für die Zeit von Juli 2009 bis Februar 2014 beantragt. Die Klägerin meint, dass für die Zeit der Aussetzung des erstinstanzlichen Klageverfahrens von November 2009 bis Januar 2012 eine Entschädigung zu zahlen sei. Sie vertritt die Auffassung, dass ihr kein Mitverschulden bei der Prozessführung angelastet werden könne, da sie lediglich ihre prozessualen Rechte wahrgenommen habe. Sie habe viele Jahre warten müssen, bis sie ihr Fragerecht bezüglich der Sachverständigen zumindest teilweise habe wahrnehmen können. Zudem sei für die Entschädigung die existentielle Bedeutung der streitbefangenen Unfallrente für sie zu berücksichtigen. Ihre jahrelangen Entbehrungen und die ihrer Kinder sowie deren körperlicher Verfall seien in die Bemessung der Entschädigung mit einzubeziehen. Daher sei eine Entschädigung von mindestens 6.000,00 Euro angemessen.

Die Klägerin beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, ihr eine Entschädigung in Höhe von mindestens 1.200,00 Euro jährlich für die Zeit von Juli 2009 bis Februar 2014 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hält die Entschädigungsklage für unbegründet. Er meint, nicht das Sozialgericht, sondern die Klägerin sei für die lange Verfahrensdauer verantwortlich, da sich das Verfahren durch ein in weiten Teilen unsachgemäßes und querulatorisches Prozessverhalten der Klägerin verzögert habe. Bei der Klägerin handele es sich um eine Dauer- bzw. Intensivklägerin, die allein im Zeitraum vom 13. Juli 2006 bis zum 14. Dezember 2014 102 Verfahren am Sozialgericht Frankfurt anhängig gemacht habe. Im Hinblick auf den Verfahrensstillstand während der Zeitdauer der Aussetzung des Verfahrens meint der Beklagte, dass dies nicht dem Sozialgericht angelastet werden könne, sondern – wenn überhaupt – auf eine Verzögerung des Beschwerdeverfahrens L 3 U 274/09 B zurückzuführen sei. Es handele sich bei dem Beschwerdeverfahren um ein eigenständiges Gerichtsverfahren im Sinne des § 198 Abs. 6 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Eine Entschädigung für die Verzögerung in diesem Verfahren hätte die Klägerin gesondert geltend machen müssen.

Ein gerichtlicher Vergleichsvorschlag mit Beschluss des Senats vom 10. März 2017 wurde von der Klägerin nicht angenommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Akten des Ausgangsverfahren vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main (S 8 U 161/12), der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

A. Die Klage ist zulässig.

Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, angemessen entschädigt. Nach Absatz 3 der Bestimmung erhält ein Verfahrensbeteiligter Entschädigung nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge). Die Verzögerungsrüge kann erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird; eine Wiederholung der Verzögerungsrüge ist frühestens nach sechs Monaten möglich, außer wenn ausnahmsweise eine kürzere Frist geboten ist. Die Verzögerungsrüge hat Doppelfunktion sowohl für die Zulässigkeit als auch für die Begründetheit einer Entschädigungsklage (Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, Kommentar, 2013, § 198 GVG, Rn. 247). Nach § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG kann eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach Absatz 1 frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden.

Art. 23 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) bestimmt als Übergangsvorschrift daneben u.a., dass für anhängige Verfahren, die bei seinem Inkrafttreten schon verzögert sind, § 198 Absatz 3 GVG mit der Maßgabe gilt, dass die Verzögerungsrüge unverzüglich nach Inkrafttreten erhoben werden muss. In diesem Fall wahrt die Verzögerungsrüge einen Anspruch nach § 198 GVG auch für den vorausgehenden Zeitraum. Für eine unverzügliche Erhebung reicht es aus, wenn die Rüge spätestens drei Monate nach Inkrafttreten des ÜGRG am 3. Dezember 2011, also bis zum 3. März 2012, erfolgt ist (BSG, Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 9/13 R).

Vorliegend war das Klageverfahren der Klägerin gegen die Verwaltungsberufsgenossenschaft bereits bei Inkrafttreten des ÜGRG anhängig. Die Klägerin hat am 10. Januar 2012 und damit unverzüglich nach dem Inkrafttreten am 3. Dezember 2011 Verzögerungsrüge erhoben. Zu diesem Zeitpunkt bestand auch Anlass zur Besorgnis, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird.

Die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen der Klage liegen ebenfalls vor, insbesondere ist die Entschädigungsklage als allgemeine Leistungsklage statthaft. Da das streitgegenständliche Ausgangsverfahren derzeit noch in der Berufungsinstanz anhängig ist, handelt es sich vorliegend um eine Teilklage. Die Klägerin hat ihr Klagebegehren insoweit ausdrücklich auf die Entschädigung der immateriellen Nachteile für die überlange Verfahrensdauer in der ersten Instanz beschränkt.

B. Die Klage ist teilweise begründet.

I. Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet.

1. Ob ein Verfahren als unangemessen lang zu bewerten ist, richtet sich nicht nach starren Fristen. Gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG richtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Eine generelle Festlegung, wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, ist nicht möglich (am Maßstab von Art. 19 Abs. 4 GG: BVerfG, Beschluss vom 27. September 2011, 1 BvR 232/11), zumal Zügigkeit oder Verfahrensbeschleunigung keine absoluten Werte sind, sondern stets im Zusammenhang mit den übrigen Verfahrensgrundsätzen, insbesondere dem Amtsermittlungsgrundsatz und dem damit korrespondierenden Interesse der Verfahrensbeteiligten an einer gründlichen und zutreffenden Bearbeitung durch das Gericht zu sehen sind. § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ist nach Entstehungsgeschichte und Zielsetzung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie des EGMR zu Art. 6, 13 EMRK auszulegen (BGH, Urteil vom 14. November 2013 – III ZR 376/12 – juris Rn. 29; Schenke, NVwZ 2012, 257, 258). § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benennt insoweit nur beispielhaft und ohne abschließenden Charakter Umstände, die für die Beurteilung der Angemessenheit besonders bedeutsam sind. Maßgebend bei der Beurteilung der Verfahrensdauer sind danach Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Während die rechtliche wie tatsächliche Schwierigkeit, der Umfang und die Komplexität des Falls sowie die Bedeutung des Rechtsstreits Faktoren für eine notwendige Dauer angemessener Sachbehandlung und Verfahrensförderung sind, ist insbesondere das Verhalten des Entschädigungsklägers für die Frage relevant, welche Dauer der Kläger aufgrund eigenen Verhaltens als noch angemessen hinzunehmen hat. Auf der anderen Seite kann sich der Staat nicht auf solche Umstände berufen, die in seinem Verantwortungsbereich liegen (ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, aus jüngerer Zeit z.B. Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Dezember 2010 – 1 BvR 404/10 – zitiert nach juris m.w.N. in Rn.11). Überlastungstypische Verfahrensweisen können ebensowenig gegen eine Unangemessenheit angeführt werden wie die durchschnittliche Verfahrensdauer einer überlasteten Gerichtsbarkeit (vgl. zur Sozialgerichtsbarkeit, BVerfG, Urteil vom 14. Dezember 2010 – 1 BvR 404/10 – a.a.O.). Die Beurteilung der Angemessenheit erfolgt daher im Rahmen einer Zurechnung, ob eine Verzögerung überwiegend auf das Verhalten der Beteiligten oder auf eine Untätigkeit des Gerichts zurückzuführen ist (Magnus, ZZP 125 (2012), 75, 81 m.w.N.). Ungeachtet dessen haben die Gerichte aber auch die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen und sich mit zunehmender Dauer nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens zu bemühen (BVerfG, vom 14. Dezember 2010 – 1 BvR 404/10 – a.a.O.). Insoweit beeinflusst die absolute Verfahrensdauer die Würdigung der Verfahrensförderung in einzelnen Abschnitten des Gerichtsverfahrens: Einerseits kann bei ungewöhnlich langen Laufzeiten im Einzelfall eine Vermutung für die Unangemessenheit ohne weitere Würdigung des Verhaltens der Beteiligten oder der Verfahrensförderung durch das Gericht sprechen (EGMR, Urteil vom 5. Oktober 2006 – 66491/01); andererseits kann eine (relative) Verzögerung in einem bestimmten Verfahrensstadium vertretbar sein, wenn die Gesamtverfahrensdauer nicht als unangemessen erachtet werden kann (EGMR, Urteil vom 2. Juni 2009 – 36853/05 Rn. 45 m.w.N.).

Die Prüfung der Unangemessenheit hat demnach in zwei Schritten zu erfolgen (vgl. BGH, Urteil vom 14. November 2013 – III ZR 376/12 Rn.30; Ott in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, a.a.O. § 198 GVG Rn. 97 ff.; ähnlich Breitkreuz in: Breitkreuz/Fichte, SGG, Ergänzung zu § 202 SGG, Rn. 32, beide m.w.N.): Zunächst ist das Verfahren nach Feststellung der Schwierigkeit und Bedeutung daraufhin zu untersuchen, ob in den einzelnen Verfahrensabschnitten eine angemessene Sachbehandlung im Sinne der Gewährung effektiven Rechtsschutzes stattgefunden hat, und ist im Wege der Abwägung der o.g. Faktoren festzustellen, ob der Entschädigungskläger diese Dauer aufgrund einer Zurechnung der Verfahrensdauer, insbesondere wegen des Verhaltens der Verfahrensbeteiligten, im jeweiligen Abschnitt hinzunehmen hat oder aber diese dem Staat als unzureichende Verfahrensförderung zuzurechnen ist. Im Rahmen einer umfassenden Abwägung vor dem Hintergrund der Gesamtverfahrensdauer ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob Verzögerungen kompensiert wurden oder aber eine unangemessene Gesamtverfahrensdauer ohne relative Verzögerungen eingetreten ist.

2. Vorliegend ist sowohl die Schwierigkeit des Verfahrens als auch die Bedeutung des Ausgangsverfahrens als überdurchschnittlich anzusehen.

Rechtliche Schwierigkeiten sind dann anzunehmen, wenn grundsätzliche Rechtsfragen zu beantworten sind, für die noch keine höchstrichterliche Judikatur existiert, und die das Gericht daher nicht ohne intensive Auswertung der Fachliteratur beantworten kann. Die Beantwortung auch schwieriger Rechtsfragen gehört allerdings zu den originären Aufgaben des Gerichts. Der Tatrichter muss sich also – nach Lektüre der einschlägigen Literatur – zu einer Auffassung durchringen und diese in seiner Entscheidung knapp, aber nachvollziehbar begründen. Das kann nur in seltenen Ausnahmefällen eine mehrmonatige Verzögerung rechtfertigen, wenn etwa über mehrere komplexe Rechtsfragen gleichzeitig entschieden werden muss. Tatsächlich schwierig kann ein Verfahren sein, wenn die zu klärenden Sachfragen eine komplizierte und lang andauernde Beweisaufnahme erforderlich machen (Roderfeld, Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, GVG § 198 Rn. 8 ff.).

Welche Verfahrenslänge tolerierbar ist, hängt ferner auch davon ab, welche Bedeutung dem Verfahren für die Verfahrensbeteiligten oder die Allgemeinheit zukommt. Für die Praxis der Verfahrensbearbeitung bedeutet dies, dass das Gericht nicht jedes eingehende Verfahren schematisch gleich behandeln kann, sondern Verfahren mit besonderer Bedeutung – möglicherweise auch zulasten anderer, früher eingegangener Verfahren – bevorzugt und beschleunigt bearbeiten muss. Die Tatsache, dass eine Partei die Sache für wichtig oder bedeutend hält, kann freilich für sich allein betrachtet noch kein besonderes Beschleunigungsbedürfnis auslösen. Vielmehr muss es darauf ankommen, ob vom Standpunkt eines objektiven Beobachters, der die Lebenssituation der Klagepartei kennt, eine besondere, die Verfahrensbeschleunigung erfordernde Bedeutung vorliegt (Roderfeld, Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, GVG § 198 Rn.11).

Im vorliegenden Fall handelt es um eine unfallversicherungsrechtliche Streitigkeit über die Zahlung einer Unfallrente für einen Arbeits- bzw. Wegeunfall im Sinne des § 8 SGB VII. Ein solcher Rechtsstreit stellt an den Sozialgerichten eine Standardkonstellation im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung dar, allerdings sind regelmäßig – so auch hier - rechtlich schwierige Kausalitätsfragen zu klären. Dazu kommt eine Schwierigkeit auf tatsächlicher Ebene, die eine lange und komplexe medizinische Sachverhaltsermittlung erforderlich machte. Das Sozialgericht musste sich eine Vielzahl medizinischer Unterlagen erschließen und diese würdigen. Dazu zählen u.a. die vom Sozialgericht eingeholten insgesamt drei medizinischen Sachverständigengutachten und zahlreiche ergänzenden Stellungnahmen der Sachverständigen sowie ein umfassender Beteiligtenvortrag, der auf Seiten der beklagten Berufsgenossenschaft mit mehreren umfangreichen beratungsärztlichen Stellungnahmen und auf Seiten der Klägerin mit an die Sachverständigen gerichteten Fragen und den Schriftsätzen beigefügten medizinischen Unterlagen versehen war. Schon die Anzahl der Gutachten und ärztlichen Stellungnahmen macht deutlich, dass es sich um einen medizinisch sehr anspruchsvollen Sachverhalt handelt, der eine Würdigung auf nervenärztlichem, neuropsychologischem und radiologischem Fachgebiet erforderlich machte.

Die Bedeutung des Rechtsstreits war aus Sicht eines objektiven Beobachters in Kenntnis der Lebenssituation der Klägerin ebenfalls als überdurchschnittlich anzusehen. Die Höchstpersönlichkeit und Intimität der eigenen Gesundheit sind in Rechtsstreitigkeiten zu medizinischen Fragestellungen Indizien für eine herausgehobene Bedeutung. Der Klagegegenstand in Gestalt der Feststellung von Unfallfolgen und des Rentenanspruchs infolge eines Arbeitsunfalls gibt dem vorliegenden unfallversicherungsrechtlichen Verfahren existenzielle Bedeutung. Die Feststellung von Unfallfolgen hat Auswirkungen auf die Art und den Umfang der weiteren unfallversicherungsrechtlichen Leistungen nach §§ 26 ff. SGB VII. Die von der Klägerin mit der Klage begehrte Unfallrente nach § 56 SGB VII wird grundsätzlich lebenslang gezahlt (sofern aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen keine Änderungen eintreten, § 73 SGB VII) und stellt eine Kompensation für die durch den Arbeitsunfall verursachten, aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens dar.

3. Neben diesen Faktoren ist in die Betrachtung mit einzustellen, dass aus dem Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit kein Recht auf sofortige Befassung des Gerichts mit jedem Rechtsschutzbegehren und dessen unverzügliche Erledigung folgt. Bereits aus nachvollziehbaren Gründen der öffentlichen Personalwirtschaft ist es gerichtsorganisatorisch mitunter unvermeidbar, Richtern oder Spruchkörpern einen relativ großen Bestand an Verfahren zuzuweisen. Eine gleichzeitige inhaltlich tiefgehende Bearbeitung sämtlicher Verfahren, die bei einem Gericht anhängig oder einem Spruchkörper bzw. Richter zugewiesen sind, ist insoweit schon aus tatsächlichen Gründen nicht möglich und wird auch von Art. 20 Abs. 3 GG bzw. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK nicht verlangt (BFH, Zwischenurteil vom 7. November 2013 - X K 13/12). Je nach Bedeutung und Zeitabhängigkeit des Rechtsschutzziels und abhängig von der Schwierigkeit des Rechtsstreits sowie vom Verhalten des Rechtschutzsuchenden sind ihm gewisse Wartezeiten zuzumuten. Grundsätzlich muss dabei jedem Gericht eine ausreichende Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit zur Verfügung stehen (BGH, Urteil vom 13. März 2014 - III ZR 91/13 Rn. 34). Ebenso sind Gerichte - unter Beachtung des Gebots effektiven Rechtsschutzes - berechtigt, einzelne (ältere und jüngere) Verfahren aus Gründen eines sachlichen, rechtlichen, persönlichen oder organisatorischen Zusammenhangs zu bestimmten Gruppen zusammenzufassen oder die Entscheidung einer bestimmten Sach- oder Rechtsfrage als dringlicher anzusehen als die Entscheidung anderer Fragen, auch wenn eine solche zeitliche "Bevorzugung" einzelner Verfahren jeweils zu einer längeren Dauer anderer Verfahren führt. Obwohl die maßgebliche Gesamtabwägung nach den Vorgaben des § 198 Abs. 1 S. 2 GVG in jedem Einzelfall durchzuführen ist und der Gesetzgeber von der Einführung bestimmter Grenzwerte (Fristen) für die Dauer unterschiedlicher Verfahrenstypen abgesehen hat (BT-Drucks. 17/3802 S. 18; BSG, Urteil vom 21. Februar 2013 - B 10 ÜG 1/12 KL und B 10 ÜG 2/12 KL), lässt es sich zur Gewährleistung möglichst einheitlicher Rechtsanwendung und damit aus Gründen der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit andererseits nicht vermeiden, in Entschädigungssachen zeitraumbezogene Konkretisierungen vorzunehmen. Dies jedenfalls dort, wo derartige Konkretisierungen aufgrund vorgefundener Übereinstimmungen sowohl in der Struktur zahlreicher sozialgerichtlicher Verfahren als auch ihrer Bearbeitung durch die Gerichte vertretbar sind (vgl. dazu BFH, Zwischenurteil vom 7. November 2013 - X K 13/12 Rn.64). Es ist zu diesem Zweck aufgrund der besonderen Natur sozialgerichtlicher Verfahren in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 03. September 2014 B 10 ÜG 12/13 R Rn. 53) derzeit von folgenden Grundsätzen auszugehen: Die persönliche und sachliche Ausstattung der Sozialgerichte muss einerseits so beschaffen sowie die gerichtsinterne Organisation der Geschäfte (Geschäftsverteilung, Gestaltung von Dezernatswechseln etc.) so geregelt sein, dass ein Richter oder Spruchkörper die inhaltliche Bearbeitung und Auseinandersetzung mit der Sache wegen anderweitig anhängiger ggf. älterer oder vorrangiger Verfahren im Regelfall nicht länger als zwölf Monate zurückzustellen braucht. Die systematische Verfehlung dieses Ziels ist der Hauptgrund dafür, dass die für Ausstattung der Gerichte zuständigen Gebietskörperschaften Bund und Land mit den Kosten der Entschädigungszahlungen belastet werden, wenn Gerichtsverfahren eine angemessene Dauer überschreiten. Eine Verfahrensdauer von bis zu zwölf Monaten je Instanz ist damit regelmäßig als angemessen anzusehen, selbst wenn sie nicht durch konkrete Verfahrensförderungsschritte begründet und gerechtfertigt werden kann. Diese Zeitspanne muss und wird in der Regel nicht vollständig direkt im Anschluss an die Erhebung der Klage bzw. die Einlegung der Berufung liegen, in der das Gericht normalerweise für einen Schriftsatzwechsel sorgt und Entscheidungsunterlagen beizieht. Die Vorbereitungs- und Bedenkzeit kann vielmehr auch am Ende der jeweiligen Instanz liegen und in mehrere, insgesamt zwölf Monate nicht übersteigende Abschnitte unterteilt sein. Für diese Zwölfmonatsregel spricht u.a. die Regelung des § 198 Abs. 5 S. 1 GVG; danach kann eine Klage zur Durchsetzung des Anspruchs aus Abs. 1 der Vorschrift frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden. Eine gewisse Vorbereitungs- und Bedenkzeit der Gerichte akzeptiert auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dessen Rechtsprechung maßgeblich dem Gesetz zugrunde liegt. Wie die Analyse seiner Urteile zeigt, beanstandet der Gerichtshof regelmäßig nicht die Dauer solcher Verfahren, die nicht besonders eilbedürftig sind und die je Instanz nicht länger als zwei Jahre und insgesamt nicht länger als fünf Jahre dauern (so auch BSG, Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 12/13 R Rn. 54). Nicht jede Periode gerichtlicher Untätigkeit führt nach der Rechtsprechung des EGMR zwingend zu einem Entschädigungsanspruch; vielmehr ist sie in einem gewissen Verfahrensstadium vertretbar, solange die Gesamtverfahrensdauer nicht als überlang erachtet werden kann (vgl. u.a. EGMR, Individualbeschwerde Nr. 32842/96 Nuutinen/Finnland, Rn. 110; Individualbeschwerde Nr. 7759/77 Buchholz/Deutschland, Rn. 63). Beruht die Verfahrensdauer, die die genannte Dauer von zwölf Monaten je Instanz übersteigt, auf vertretbarer aktiver Verfahrensgestaltung (z.B. Zeit für Einholung von Auskünften, Zeugenaussagen, Sachverständigengutachten, Beiziehung von Akten) oder wird sie maßgeblich durch das Verhalten des Klägers, anderer Verfahrensbeteiligter oder Dritter verlängert, so macht selbst dies die Verfahrensdauer in der Regel ebenfalls noch nicht unangemessen. Anderes gilt für Zeiten, in denen eine Sache über zwölf Monate hinaus ("am Stück" oder immer wieder für kürzere Zeiträume) ohne sachlichen Grund "auf Abruf" liegt, ohne dass das Verfahren zeitgleich inhaltlich betrieben wird oder sich auf sog. Schiebeverfügungen beschränkt. Die genannten Orientierungswerte gelten allerdings nur, wenn sich nicht aus dem Vortrag des Klägers oder aus den Akten besondere Umstände ergeben, die vor allem mit Blick auf die Kriterien von § 198 Abs. 1 S. 2 GVG im Einzelfall zu einer anderen Bewertung führen. Damit ändert die Zwölfmonatsregel nichts am Vorrang der Einzelfallbetrachtung, sondern verschiebt lediglich die sachlichen Anforderungen an die Verfahrensförderung entlang zeitlicher Grenzen.

4. Die Sachbehandlung in erster Instanz genügte nicht während der gesamten Anhängigkeit vor dem Sozialgericht diesem Maßstab. Die Gesamtdauer des erstinstanzlichen Verfahrens beträgt 104 Monate. Die Klage beschränkt den Entschädigungsanspruch jedoch für die Zeitdauer von Juli 2009 bis Februar 2014 und damit für 56 Monate. Während dieser streitgegenständlichen 56 Monate der Anhängigkeit vor dem Sozialgericht ist für 50 Monate ein dem Verfahren Fortgang gebendes Tätigwerden des Gerichts in der Akte nicht dokumentiert.

a) Offensichtlich ist dies für die Zeitdauer der Aussetzung des Verfahrens für 25 Monate von Dezember 2009 bis zum Wiedereintreffen der Akten im Sozialgericht im Januar 2012, in der naturgemäß keine Verfahrensförderung durch das Sozialgericht stattgefunden hat. Mit Beschluss des Sozialgerichts vom 25. November 2009 wurde das Verfahren nach § 114 SGG ausgesetzt mit der Begründung, dass die Entscheidung des Rechtsstreits davon abhänge, ob die Entscheidung über die Löschungsanträge der Klägerin vom 13. November 2009 bestands- bzw. rechtskräftig werde. Mit Beschluss vom 1. November 2011 hat das Landessozialgericht (L 3 U 274/09 B) auf die Beschwerde der Klägerin den Aussetzungsbeschluss aufgehoben, da die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Aussetzung nicht erfüllt seien. Bei den Löschungsanträgen der Klägerin, so der 3. Senat unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 20. Juli 2010 (B 2 U 17/09 R), handele es sich nicht um Rechtsverhältnisse, von denen die Entscheidung in der Hauptsache abhänge. Durch diese Aussetzung des Verfahrens wurde das Verfahren verzögert. Der Aussetzungsbeschluss des Sozialgerichts kann die Untätigkeit nicht rechtfertigen, da er rechtswidrig war und deshalb im Beschwerdeverfahren aufgehoben wurde.

Entgegen der Auffassung des Beklagten musste die Klägerin eine Entschädigung für diese 25-monatige Verzögerung nicht in einem gesonderten Verfahren geltend machen. Es kommt auch nicht darauf an, ob die Verzögerung bzw. der Stillstand des Verfahrens während der Aussetzung des Verfahrens dem Sozialgericht oder dem Landessozialgericht angelastet werden kann. Gegenstand des Entschädigungsverfahrens ist ein einheitlicher prozessualer Anspruch bezogen auf eine unangemessene Dauer des Verfahrens in seiner prozessualen Gesamtheit, beginnend mit dessen Rechtshängigkeit bis zu dessen Abschluss. Nicht jeder einzelne Antrag oder jedes einzelne Gesuch sind als gesondertes Gerichtsverfahren anzusehen. Lediglich für den Bereich des bereits eröffneten Insolvenzverfahrens fingiert § 198 Abs. 6 Nr. 1 Halbsatz 3 GVG, dass jeder Antrag auf Herbeiführung einer Entscheidung als Gerichtsverfahren gilt (vgl. dazu BGH, Urteil vom 13. April 2017, III ZR 277/16, der auch das Verfahren der Anhörungsrüge und Gegenvorstellung dem vorangegangenen Hauptsacheverfahren zuordnet). Eine Aufteilung in zwei Haftungsabschnitte ist nur dann geboten, wenn sich der Entschädigungsanspruch gegen unterschiedliche Schuldner richtet (vgl. Steinbeiß-Winkelmann/Ott, a.a.O. § 198 GVG Rn. 51; OLG Frankfurt, Urteil vom 8. Mai 2013, 4 EntV 18/12). Zwischenverfahren, die sich auf den Zeitraum bis zum Abschluss des Verfahrens auswirken, gehören zur relevanten Verfahrensdauer (Steinbeiß-Winkelmann/Ott, a.a.O. § 198 GVG Rn. 55). Der Beschluss über die Aussetzung des Verfahrens und die dagegen gerichtete Beschwerde sind Bestandteile des Hauptsacheverfahrens. Sie stellen auch keinen eigenständigen Verfahrensabschnitt dar (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auf. 2017, § 114 Rn. 9 m.w.N.). Anders als etwa die Verfahren zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und zur Bewilligung von Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe, die ausdrücklich in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG genannt sind, ist das Beschwerdeverfahren gegen einen Aussetzungsbeschluss nach § 114 Sozialgesetzbuch (SGG) kein eigenständiges Gerichtsverfahren im Sinne des § 198 GVG, das für sich betrachtet einer Entschädigung wegen Überlänge zugänglich sein könnte. Der 25monatige Stillstand der Rechtspflege durch die Aussetzung ist daher im vorliegenden Verfahren zu entschädigen.

b) Anders zu beurteilen sind die weiteren 25 Monate, in denen in der Akte keine Verfahrensförderung dokumentiert ist. In den fünf Monaten vor dem Aussetzungsbeschluss (Juli bis November 2009) wurden nach der Anhörung zum Gerichtsbescheid lediglich Schriftsätze der Beteiligten durch das Gericht weitergeleitet, die Akte war zur Frist bzw. zur Wiedervorlage sodann verfügt. In den acht Monaten nach dem Aussetzungsbeschluss (Januar 2012 bis August 2012) beschränkte sich die aus den Akten ersichtliche Tätigkeit des Sozialgerichts ebenso darin, Schriftsätze an die Beteiligten weiterzuleiten. In den Monaten September, November und Dezember 2012 sowie März, Juni und August 2013 förderte das Sozialgericht das Verfahren durch weitere Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen. Es wurden ein weiteres Sachverständigengutachten und zwei ergänzende Stellungnahmen eingeholt und ausgewertet sowie weitere medizinische Unterlagen angefordert. In den dazwischen liegenden sechs Monaten wurden wiederum lediglich Schriftsätze der Beteiligten und Verfahrensbeiträge der Sachverständigen weitergeleitet und die Akte mit einer Wiedervorlagefrist verfügt. Das gilt auch für die restlichen sechs Monate von September 2013 bis Februar 2014, in denen für den Senat keine dokumentiert Verfahrensförderung in der Akte ersichtlich ist.

Im Rahmen einer Gesamtabwägung, die auch das prozessuale Verhalten der Klägerin miteinbezieht, führen diese weiteren 25 Monate nicht zu einer dem Gericht anzulastenden Verzögerung. Das prozessuale Verhalten der Klägerin ist ins Verhältnis zu setzen und kann insbesondere während Phasen der Inaktivität des Gerichts im Rahmen der Verfahrensführung eine sachliche Rechtfertigung der Verzögerung begründen (BSG, Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 12/13 R, Rn.57). Sofern die Klägerin also während Phasen der Inaktivität des Sozialgerichts selbst durch das Einreichen von Schriftsätzen eine Bearbeitung des Vorganges durch das Gericht bewirkt hat, liegt keine inaktive Zeit der Verfahrensführung durch das Sozialgericht und damit keine überlange Verfahrensdauer vor. Insoweit geht der Senat davon aus, dass eingereichte Schriftsätze, die einen gewissen Umfang haben und sich inhaltlich mit Fragen des Verfahrens befassen, generell eine Überlegungs- und Bearbeitungszeit beim Gericht bewirken, die mit einem Monat zu Buche schlägt. Darunterliegende Zeitmaßstäbe erscheinen vor dem Hintergrund der vom Gesetz vorgegebenen Rechengröße von 1.200 Euro pro Jahr der Überlänge (vgl. § 198 Abs. 2 S. 3 GVG) nicht mehr als sinnvoll. Die Klägerin hat in diesem Zeitraum zahlreiche umfangreiche Schriftsätze mit schwerpunktmäßig medizinischem Inhalt eingereicht. Beispielhaft wird auf ihre Fragenkataloge an die Sachverständigen Dr. C. (40 Fragen) und Dr. D. (42 Fragen) oder die Übersendung eines medizinischen Vortrages mit 24 Folien mit Fax vom 2. März 2013 hingewiesen. Die Schriftsätze und Unterlagen musste das Gericht daraufhin untersuchen, ob sie Anträge enthielten oder es in tatsächlicher Hinsicht notwendig machten, erneut in die medizinische Sachverhaltsermittlung von Amts wegen einzusteigen oder jedenfalls eine Stellungnahme der Beklagten anzufordern. So musste das Sozialgericht etwa über einen Ablehnungsantrag der Klägerin bezüglich des Sachverständigen Dr. J. entscheiden (Beschluss vom 11. März 2013) oder bei dem Sachverständigen Dr. C. um eine ergänzende Stellungnahme nachsuchen (Beschluss vom 19. August 2013).

Zudem muss in die Gesamtabwägung einbezogen werden, dass durch zahlreiche Parallelrechtsstreite und Rechtsmittel der Klägerin häufig die Akten des hier zugrundeliegenden Klageverfahrens anderen Kammern des Sozialgerichts oder dem Landessozialgericht vorzulegen waren. Hinzu kam noch ein Wechsel in der Position des Kammervorsitzenden, der offenbar zum 1. Januar 2012 stattgefunden hatte. Dem neuen Vorsitzenden wurden die Akten erstmals am 10. Januar 2012 vorgelegt. Bereits ab dem 30. Januar 2012 befanden sich die gesamten Verfahrensakten auf Anforderung erneut beim Landessozialgericht, da die Klägerin dort eine Anhörungsrüge erhoben hatte. Nachdem die Akten zwischenzeitlich auch dem Bundessozialgericht vorlagen, gingen sie im Sozialgericht erst am 17. August 2012 wieder ein.

Zur Klarstellung weist der Senat darauf hin, dass dieses Prozessverhalten der Klägerin nicht zum Vorwurf gemacht oder pauschal als querulatorisch eingestuft wird. Gleichwohl hat die Klägerin durch ihre umfangreichen Schriftsätze nebst Anlagen, zahlreichen Ablehnungsgesuche, Löschungsansprüche sowie durch eine Vielzahl parallel geführter weitere Rechtsstreite dazu beigetragen, dass das Sozialgericht dafür zusätzliche Bearbeitungszeit aufbringen musste. Weil zusätzliche Verfahrensdauer von ihr selbst veranlasst wurde, kann sie dafür keine Entschädigung nach § 198 GVG erhalten.

5. Eine Kompensation der 25monatigen Überlänge des erstinstanzlichen Verfahrens durch eine zügige Entscheidung in zweiter Instanz ist nicht eingetreten. Das zweitinstanzliche Verfahren ist seit dem 9. Februar 2015 und damit bereits seit über 30 Monate anhängig, ohne das ein Verfahrensabschluss für den Senat absehbar ist.

II. Durch die überlange Verfahrensdauer in erster Instanz hat die Klägerin einen Nachteil nicht vermögenswerter Art erlitten. Dies folgt bereits aus § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG, wonach ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet wird, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Umstände, die diese gesetzliche Vermutung zu widerlegen geeignet erscheinen lassen, sind nicht erkennbar und auch von dem Beklagten nicht vorgebracht worden.

Eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG, insbesondere durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, ist zur Überzeugung des Senats nicht ausreichend (§ 198 Abs. 2 Satz 2 GVG). Unter Würdigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 6 und Art. 41 EMRK, nach der eine derartige Kompensation eines Nichtvermögensschadens nur ausnahmsweise in Betracht kommt, besteht vorliegend kein Anlass, von der gesetzlich als Normalfall vorgesehenen Zahlung einer Entschädigung abzusehen. Entsprechende Gründe hat auch der Beklagte nicht geltend gemacht.

Ausgehend von der im Umfang von 25 Monaten überlangen Dauer des gerichtlichen Verfahrens und dem in § 198 Abs. 2 S. 3 GVG vorgegebenen Richtwert von 1.200,00 EUR für jedes Jahr der Verzögerung beläuft sich die der Klägerin zustehende angemessene Entschädigung auf 2.500,00 Euro.

III. Eine darüber hinausgehende Entschädigung ist nicht zu zahlen. Die Klage ist insoweit unbegründet und war daher abzuweisen.

Ein höherer Betrag war auch nicht nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG anzusetzen. Diese Regelung erlaubt eine Abweichung nur bei Unbilligkeit "nach den Umständen des Einzelfalls". Dabei kann es nur um atypische Einzelfälle gehen (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 9/13 R, Rn.51, Roderfeld, a.a.O., § 198 Rn.82). Denn die Pauschalierung dient gerade dazu, unter Verzicht auf einen einzelfallbezogenen Nachweis Streitigkeiten über die Höhe der Entschädigung möglichst zu vermeiden und damit eine zügige Abwicklung des Entschädigungsverfahrens zu gewährleisten (vgl. BT-Drucksache 17/3802, Seite 20). Derartige besondere Umstände, sind weder von dem Kläger nachvollziehbar geltend gemacht noch sonst ersichtlich. Allein die Tatsache, dass die eingeklagte Unfallrente der Klägerin und ihren Kindern zur Deckung des Lebensunterhaltes für die überlange Dauer des Verfahrens nicht zur Verfügung stand, genügt dafür nicht. Dabei ist im vorliegenden Fall zu berücksichtigten, dass die Klägerin in den Genuss anderer Sozialleistungen wie z.B. der Erwerbsminderungsrente gekommen ist, die sie für ihren Lebensunterhalt einsetzen konnte. Zudem kann im Hinblick auf die Höhe und Bezugsdauer der Unfallrente zum jetzigen Zeitpunkt keine abschließende Einschätzung abgegeben werden, da der Rechtsstreit noch in der Berufungsinstanz angängig ist. Der von der Klägerin angeführte fehlende Krankenversicherungsschutz von Mai 2004 bis Mai 2010 kann nicht der überlangen Dauer des vorliegenden Unfallversicherungsrechtsstreits angelastet werden, zumal dieser erst im Juli 2006 begonnen hat. Das Sozialsystem sieht eine Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung etwa beim Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) vor, vgl. § 5 Nr. 2a SGB V. Auch kann die Klägerin den behaupteten körperlichen Verfall und die Entbehrungen für sich und ihre Kinder nicht allein oder zumindest nicht maßgeblich der Überlänge des hier zugrunde liegenden Klageverfahrens anlasten. Aufgrund ihrer seit dem Jahr 2004 geführten sehr zahlreichen Klageverfahren und einstweiligen Rechtsschutzverfahren auf den Gebieten der Arbeitslosenversicherung, der Sozialhilfe, der Grundsicherung für Arbeitsuchende, der gesetzlichen Unfallversicherung, des Schwerbehindertenrechts und der gesetzlichen Rentenversicherung ist der Klägerin ganz offensichtlich bekannt, dass unser Sozialsystem eine Vielzahl von Leistungen zur Verfügung stellt, die eine soziale Sicherung und Existenzsicherung beinhalten. Der im hier vorliegenden Ausgangsverfahren geltend gemachte Unfallrentenanspruch ist nur eine dieser Sozialleistungen, der auch in seiner Bedeutung für die Klägerin im Hinblick auf ihre finanzielle und gesundheitliche Situation nicht allein ausschlaggebend ist.

C. Da der Entschädigungsanspruch nach § 198 GVG außerhalb des Systems der sozialrechtlichen Ansprüche steht, für die Prozesszinsen nach Maßgabe des § 44 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil (SGB I) grundsätzlich nicht beansprucht werden kann (vgl. BSG, Urteile vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 9/13 R – Rn. 52, – B 10 ÜG 12/13 R –, Rn. 61 und – B 10 ÜG 2/14 R – Rn.54; Müller, SGb, 2010, 336), war der Beklagte weiter gemäß §§ 288 Abs. 1, 291 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) analog zur Zahlung von Prozesszinsen in Höhe von Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu verurteilen. Diese sind ab Rechtshängigkeit, d.h. nach § 94 SGG ab Klageerhebung am 20. Dezember 2011 zu zahlen.

D. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 155 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

E. Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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