L 3 U 145/14

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 1 U 34/14
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 145/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Straßenwärter sind als Ersthelfer besonderen Einwirkungen durch die Konfrontation mit traumatischen Ereignissen anderer Personen (z.B. deren tatsächlichem oder drohendem Tod oder deren ernsthafter Verletzung) in einem erheblich höheren Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt.
2. Für die Anerkennung einer PTBS bei Straßenwärtern als Wie-Berufskrankheit durch das wiederholte Erleben traumatischer Ereignisse bei anderen Personen fehlt es an der Voraussetzung eines generellen Ursachenzusammenhangs zwischen dieser Erkrankung und den besonderen Einwirkungen.
3. Nach aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand liegen keine gesicherten Erkenntnisse dafür vor, dass allein die wiederholte Erfahrung der Ersthelfer mit traumatischen Ereignissen bei anderen Personen generell geeignet ist, eine spätere PTBS zu verursachen. Nur wenn das Vollbild einer PTBS zu einem beliebigen früheren Zeitpunkt hinreichend zeitnah nachweisbar ist, ist die weitere Erfahrung traumatischer Ereignisse durch Ersthelfer generell geeignet, die vorbestehende PTBS im Sinne einer Retraumatisierung zu reaktivieren.
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gießen vom 1. Juli 2014 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Anerkennung einer PTBS durch das wiederholte Erleben traumatischer Ereignisse bei anderen Personen "wie eine Berufskrankheit" (Wie-Berufskrankheit) nach § 9 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII).

Der 1960 geborene Kläger ist seit 2013 Rentner. Während seines gesamten Berufslebens seit Beginn seiner Ausbildung zum Straßenwärter am 1. August 1976 war er als Straßenwärter und seit 2003 als Streckenwart tätig gewesen, zuletzt beim Amt für Straßen und Verkehrswesen in der Autobahnmeisterei A-Stadt. Diese Tätigkeit umfasste (im Sommer bei Normalschicht mit Rufbereitschaft und Wochenenddienst, im Winter im Dreischichtdienst) die Kontrolle der Verkehrssicherungspflicht, die Überprüfung von Straßenschäden und die Aufnahme von Verkehrsunfällen. Bei Verkehrsunfällen ist es Aufgabe der Straßenmeisterei am Unfallort zu bleiben, bis von Seiten des Notarztes, der Feuerwehr und der Kriminalpolizei alles geregelt ist.

Die Krankenkasse des Klägers, AOK - Die Gesundheitskasse in Hessen, meldete am 6. April 2011 einen Erstattungsanspruch bei der Beklagten an. Darin werden als Diagnosen des Klägers eine depressive Episode und Reaktion auf schwere Belastung angeführt. Der Kläger habe telefonisch mitgeteilt (E-Mail vom 1. April 2011), seine derzeitige Arbeitsunfähigkeit könne man nicht an bestimmten Unfällen oder an der Menge der Unfälle in letzter Zeit festmachen. Es sei bei ihm einfach die Summe der Erlebnisse aus über 30 Dienstjahren, die dazu geführt hätten, dass er seine Tätigkeit nicht mehr machen könne. In einem Erstberatungsgespräch bei der AOK am 11. Mai 2010 hatte der Kläger angegeben, er habe ein posttraumatisches Belastungstrauma, durch seine Arbeit habe er sehr viel mit Unfällen und verletzten Menschen und teilweise auch sehr vielen Verkehrstoten zu tun, er habe damit schon länger zu kämpfen, habe aber immer gedacht, er schaffe es noch. Es werde aber immer belastender und schwerer und im Moment schaffe er es nicht ohne professionelle Hilfe. Nach dem Befundbericht des behandelnden Arztes für Allgemeinmedizin C. nahm der Kläger wegen einer ausgeprägten depressiven Symptomatik, fehlender psychischer Belastbarkeit und Frustrationsintoleranz an einer Psychotherapie teil (Bericht vom 17. Juni 2010). Für die Entstehung der Erkrankung sei die Traumatisierung durch schwere Verkehrsunfälle verantwortlich, mit denen der Kläger auf Grund seiner Tätigkeit bei der Autobahnmeisterei konfrontiert sei (Anzeige des Arztes vom 30. Mai 2011 und Bericht vom 7. Juli 2011). Der Arbeitgeber, D. Straßen- und Verkehrsmanagement, teilte mit Schreiben vom 23. April 2013 mit, der Kläger sei wegen seiner berufsbedingten Traumatisierung seit einigen Jahren auf Kosten der Krankenkasse in psychologischer Behandlung. Da er dort die Höchstgrenze für eine tiefenpsychologisch fundierte Therapie erreicht habe und die Krankenkasse keine weiteren Therapiekosten übernehme, werde um Prüfung gebeten, ob und in welchem Umfang die Beklagte Therapiekosten übernehmen könne. Die Beklagte teilte der AOK mit Schreiben vom 18. Mai 2011 mit, da die Erkrankung des Klägers nicht auf ein konkretes Unfallereignis bezogen werden könne, komme die Anerkennung eines Arbeitsunfalles nicht in Betracht. Auch die Anerkennung als Berufskrankheit scheide aus, da die "angegebene Erkrankung (Depression)" in der Berufskrankheitenliste nicht aufgeführt sei. Für die Anerkennung als Wie-Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII fehle es an neuen medizinischen Erkenntnissen.

Mit Bescheid vom 27. Mai 2013 lehnte die Beklagte Entschädigungsansprüche des Klägers ab. Bei dem Kläger bestehe eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Eine Anerkennung dieser Erkrankung als Berufskrankheit nach § 9 Abs. 1 SGB VII komme indes nicht in Betracht, da diese Erkrankung nicht in der Anlage der Berufskrankheitenverordnung (BKV) als Berufskrankheit aufgeführt sei. Eine Anerkennung als Wie-Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII komme nicht in Betracht, da seit der letzten Ergänzung der Berufskrankheiten-Liste keine diesbezüglichen neuen medizinischen Erkenntnisse vorliegen würden.

Der Kläger erhob Widerspruch und verwies auf ein Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 14. Mai 2009 (Az. L 6 U 845/06), in dem für Entwicklungshelfer die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 SGB VII bejaht worden sind. Die Beklagte holte eine beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. E. vom 30. September 2013 ein. Der Arzt teilte mit, es gebe durchaus Veröffentlichungen zur PTBS, in denen angedeutet werde, dass wiederholte Traumatisierungen zu einer erheblichen Verschlechterung der Symptomatik führten. Im Vordergrund stehe dabei das Interesse von Traumaopferzentren, die ihre Patienten vor einer etwaigen Retraumatisierung durch Behördenuntersuchungen schützen wollten. Die Forschung beschäftige sich zurzeit nicht mit der Frage von Berufskrankheiten. Nach der von der Beklagten daraufhin eingeholten Auskunft des Spitzenverbandes Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Abteilung Versicherung und Leistungen, Referat Berufskrankheiten, vom 21. Oktober 2013 ist bislang kein im Hinblick auf die Tätigkeit vergleichbarer Erkrankungsfall gemeldet. Neue gesicherte medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB VII, dass eine bestimmte Personengruppe, insbesondere die der Straßenwärter, auf Grund der besonderen arbeitsbedingten Einwirkung bei der beruflichen Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung an o.g. Erkrankung leide, seien nicht bekannt. Der Ärztliche Sachverständigenbeirat – so die Auskunft – habe sich mit der Thematik bislang nicht befasst und entsprechende Beratungen auch nicht geplant.

Mit Widerspruchsbescheid vom 13. Februar 2014 wies die Beklagte daraufhin den Widerspruch des Klägers zurück.

Der Kläger hat am 24. Februar 2014 Klage beim Sozialgericht Gießen erhoben mit der Begründung, im Rahmen seiner langjährigen Berufstätigkeit habe er mindestens 30 schwere tödliche Unfälle miterlebt. Schleichend sei es ihm im Laufe der Jahre immer schlechter gegangen. Seine behandelnde Ärztin gehe daher davon aus, dass sich bei ihm auf Grund der jahrelangen Konfrontation mit traumatisierenden Situationen in seinem Arbeitsalltag eine PTBS mit nachfolgender anhaltender Persönlichkeitsveränderung entwickelt habe. Dazu hat der Kläger einen Arztbrief von F., Fachärztin für Psychiatrie in der Vitos Klinik Gießen-Marburg, vom 6. November 2013 vorgelegt.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 1. Juli 2014 abgewiesen. In den Gründen hat es im Wesentlichen ausgeführt, als Rechtsgrundlage komme hier nur § 9 Abs. 2 SGB VII in Betracht. Eine Wie-Berufskrankheit liege nach den Voraussetzungen der Vorschrift indes nicht vor. Die Erkrankung PTBS sei schon nicht im Vollbeweis gesichert. Die in den internationalen Diagnosesystemen dafür vorausgesetzten Kriterien würden fast alle vollständig fehlen. Zweifellos bestehe bei dem Kläger eine psychische Erkrankung, ein Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit sei jedoch unter dem Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit nicht annähernd erwiesen.

Der Kläger hat gegen den ihm am 18. Juli 2014 zugestellten Gerichtsbescheid am 11. August 2014 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt und vorgetragen, entgegen den Gründen der erstinstanzlichen Entscheidung liege bei ihm die Diagnose PTBS vor. Diese sei 2003 erstmals gestellt und seitdem von verschiedenen Ärzten und Einrichtungen immer wieder bestätigt worden und auf seine berufsbedingte Konfrontation mit schweren Verkehrsunfällen über 37 Berufsjahre zurückzuführen. Der Kläger hat einen Bericht der Fachärztin für Psychiatrie F. vom 5. August 2014 vorgelegt.

Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gießen vom 1. Juli 2014 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung ihres Bescheides vom 27. Mai 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2014 zu verurteilen, bei ihm eine PTBS als Wie-Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Wie-Berufskrankheit nicht für gegeben. Es lägen keine neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft dazu vor, dass Ersthelfer im Verhältnis zur Allgemeinbevölkerung bzw. zu vergleichbaren Berufsgruppen häufiger an PTBS erkrankten.

Der Senat hat einen Behandlungsverlaufsbericht von Frau F. vom 12. Juli 2018 eingeholt und die ärztlichen Unterlagen der Ärztin und der Deutschen Rentenversicherung Hessen (DRV) zum Verfahren beigezogen sowie einen Befundbericht des Arztes für Allgemeinmedizin C. vom 8. Oktober 2018 eingeholt und auch dessen Behandlungsunterlagen beigezogen. Unter den Behandlungsunterlagen des Arztes C. befindet sich ein Bericht des Dipl.-Psychologen G. vom 13. Januar 2011. Frau F. hat mitgeteilt, sie behandle den Kläger seit dem 11. April 2013 regelmäßig. Zu Beginn hätten Symptome der PTBS im Vordergrund gestanden, Triggerreize, die Erinnerungen an Unfallgeschehen oder Bergungssituationen wachgerufen hätten. Der Kläger habe berichtet, er sei zu Beginn seiner Berufstätigkeit ein ganz anderer Mensch gewesen. Die Belastungen der letzten Jahre durch die Erkrankung und Tod seines Vaters oder die Erkrankung seiner Lebensgefährtin habe er vor allem mittels seines Pflichtbewusstseins gemeistert und durch die Befriedigung in der Helferrolle zu funktionieren, wobei er immer noch eigene gesunde Grenzen überschreite. In den letzten vier Jahren hätten sich die depressiven Symptome gebessert und gleichzeitig damit auch die Symptome der PTBS nicht mehr im Vordergrund gestanden. Der Dipl.-Psychologe G. führt in einem Bericht vom 13. Januar 2011 zur Vorlage beim Versorgungsamt aus, er habe den Kläger behandelt wegen einer PTBS, ausgelöst durch die über Jahrzehnte hinweg andauernde fortgesetzte Konfrontation mit den schwerstverletzten Unfallopfern und ca. 30 Toten.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. H., Bezirkskrankenhaus Günzburg, vom 18. Februar 2019 u. a. zu den Fragen, ob die Personengruppe der Ersthelfer durch die Art ihrer beruflichen Tätigkeit in einem erheblich höheren Grade als die übrige Bevölkerung mit traumatischen Ereignissen, die andere Personen betreffen, wiederholt konfrontiert sei und ob es medizinische Erkenntnisse gebe, dass die wiederholte Erfahrung solcher traumatischer Ereignisse generell geeignet ist, bei diesem Personenkreis eine PTBS zu verursachen. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten in der Gerichtsakte (Band I) Bezug genommen.

Wegen weiterer Einzelheiten zum Sach- und Streitstand sowie zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakten (Band I und II) sowie auf die Verwaltungsakte verwiesen, die zum Verfahren beigezogen worden sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.

Das erstinstanzliche Urteil ist im Ergebnis zu Recht ergangen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist nicht zu beanstanden. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung einer PTBS durch das wiederholte Erleben traumatischer Ereignisse bei anderen Personen als Wie-Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII.

Nach § 9 Abs. 2 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die – wie vorliegend – nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach Abs. 1 Satz 2 erfüllt sind (sog. Öffnungsklausel für Wie-Berufskrankheiten). Die Voraussetzungen für eine Bezeichnung sind nach Abs. 1 Satz 2 erfüllt, wenn bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt sind, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft eine Krankheit hervorrufen.

Mit der Regelung des § 9 Abs. 2 SGB VII soll nicht in der Art einer "Generalklausel" erreicht werden, dass jede Krankheit, deren ursächlicher Zusammenhang mit der Berufstätigkeit im Einzelfall nachgewiesen oder wahrscheinlich ist, wie eine Berufskrankheit zu entschädigen ist. Vielmehr erfordert die Feststellung einer Wie-Berufskrankheit nach dem Wortlaut der Vorschrift neben der Kausalität im konkreten Einzelfall auch das Vorliegen derselben materiellen Voraussetzungen, die der Verordnungsgeber für die Aufnahme einer Erkrankung in die Liste zu beachten hat, damit die Feststellung eines generellen Ursachenzusammenhangs (vgl. BSG, Urteile vom 18. Juni 2013 – B 2 U 6/12 R – und vom 20. Juli 2010 – B 2 U 19/09 R – jeweils juris). Denn mit der Regelung des § 9 Abs. 2 SGB VII sollen Krankheiten zur Entschädigung gelangen, die nur deshalb nicht in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen wurden, weil die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die besondere Gefährdung bestimmter Personengruppen durch ihre Arbeit bei der letzten Fassung der Anlage 1 zur BKV noch nicht vorhanden waren oder trotz Nachprüfung noch nicht ausreichten (BSG, Urteile vom 18. Juni 2013, a. a. O., und vom 13. Februar 2013 – B 2 U 33/11 R – juris). Das Erfordernis eines generellen Ursachenzusammenhangs für die Anerkennung einer Wie-Berufskrankheit bzw. das Vorliegen wissenschaftlich gesicherter Kausalbeziehungen ist im Übrigen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BSG, Urteil vom 18. Juni 2013, a. a. O.).

Die Feststellung einer Wie-Berufskrankheit ist somit von dem Vorliegen folgender Voraussetzungen abhängig (vgl. auch Urteil des erkennenden Senats vom 20. September 2011 – L 3 U 30/05 – juris – sowie BSG, Urteil vom 20. Juli 2010, a. a. O.):

1. Es muss eine bestimmte Personengruppe bei ihrer Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt sein.

2. Diese besonderen Einwirkungen müssen nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft generell geeignet sein, Krankheiten solcher Art hervorzurufen.

3. Diese medizinischen Erkenntnisse müssen bei der letzten Ergänzung der Anlage 1 zur BKV noch nicht in ausreichendem Maße vorgelegen haben oder ungeprüft geblieben sein.

4. Der ursächliche Zusammenhang der Krankheit mit der gefährdenden Arbeit muss im konkreten Fall hinreichend wahrscheinlich sein.

Der Kläger war auf Grund seiner versicherten Tätigkeit als Straßenwärter bzw. Streckenwart bei der Autobahnmeisterei A-Stadt und seiner Zugehörigkeit zur Berufsgruppe der Ersthelfer besonderen Einwirkungen durch die Konfrontation mit traumatischen Ereignissen anderer Personen (z. B. deren tatsächlichem oder drohendem Tod oder deren ernsthafter Verletzung) in einem erheblich höheren Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt. Für diese Feststellung stützt sich der Senat auf die überzeugenden und schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. H., wonach die wiederholte Konfrontation mit traumatischen Ereignissen anderer Personen zum typischen Berufsbild von Ersthelfern gehört. Diese seelischen Einwirkungen sind auch besondere Einwirkungen im Sinne des § 9 Abs.1 Satz 2 SGB VII. Denn als Einwirkung kommt jedes auf den Menschen einwirkende Geschehen in Betracht (BSG, Urteil vom 18. Juni 2013, a. a. O.; Entwicklungshelferurteile). Ob der Kläger tatsächlich wie von ihm geltend gemacht an einer PTBS durch die Summe der über Jahre erlebten traumatischen Ereignisse bei anderen Personen leidet, ist nicht zu erörtern; die Beklagte hat in dem angefochtenen Bescheid jedenfalls das Vorliegen einer solchen (kumulativen) PTBS ohne weitere Begründung festgestellt. Für die Anerkennung einer PTBS als Wie-Berufskrankheit fehlt es aber an der Voraussetzung eines generellen Ursachenzusammenhangs zwischen dieser Erkrankung und der besonderen Einwirkung.

Ob eine Krankheit innerhalb einer bestimmten Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftritt als bei der übrigen Bevölkerung, erfordert in der Regel den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige zeitliche Überwachung der Krankheitsbilder. Mit wissenschaftlichen Methoden und Überlegungen muss zu begründen sein, dass bestimmte Einwirkungen die generelle Eignung besitzen, eine bestimmte Krankheit zu verursachen. Erst dann lässt sich anhand von gesicherten "Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft" im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB VII nachvollziehen, dass die Ursache für die Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liegt. Solche Erkenntnisse setzen regelmäßig voraus, dass die Mehrheit der medizinischen Sachverständigen, die auf dem jeweils in Betracht kommenden Fachgebiet über besondere Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, zu derselben wissenschaftlich fundierten Meinung gelangt ist. Es ist nicht erforderlich, dass diese Erkenntnisse die einhellige Meinung aller Mediziner widerspiegeln. Andererseits reichen vereinzelte Meinungen einiger Sachverständiger grundsätzlich nicht aus (BSG, Urteil vom 18. Juni 2013, a. a. O., m. w. N. aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung).

Vorliegend liegen keine gesicherten Erkenntnisse dafür vor, dass (allein) die wiederholte Konfrontation der Ersthelfer mit traumatischen Ereignissen bei anderen Personen generell geeignet ist, eine PTBS zu verursachen.

Der ärztliche Sachverständigenbeirat "Berufskrankheiten" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales, dessen Aufgabe die Sichtung und Bewertung des wissenschaftlichen Erkenntnisstands im Hinblick auf die Aktualisierung bestehender oder die Aufnahme neuer Berufskrankheiten in die BKV ist, hat sich mit der Frage einer PTBS als Berufskrankheit durch das Erleben einer Vielzahl traumatischer Ereignisse, die andere Personen betreffen, bisher nicht befasst. Ein derartiges Thema gehört nicht zu den Themen, die aktuell vom Sachverständigenbeirat geprüft werden (vgl. die entsprechende Homepage des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales – Der Ärztliche Sachverständigenbeirat "Berufskrankheiten", Recherche vom 22. Juli 2019).

Seit der letzten Ergänzung der Anlage 1 zur BKV liegen in der Literatur auch keine "neuen" wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesem Thema vor. Der Senat stützt sich für diese Feststellung auf das von ihm eingeholte Gutachten von Prof. Dr. Dr. H. Der Sachverständige hat (auftragsgemäß) nach sorgfältiger Literaturrecherche und Analyse überzeugend dargelegt, dass sich eine hinreichende Evidenz in der vorhandenen wissenschaftlichen Literatur bislang nicht dafür ergibt, dass allein die wiederholte Erfahrung traumatischer Ereignisse bei Ersthelfern im Sinne der Kumulation geeignet ist, eine spätere PTBS zu verursachen. Hierzu bedarf es nach den Ausführungen des Sachverständigen geeigneter prospektiver Studien anhand strukturierter psychopathologischer Untersuchungen, die aber fehlten. Die vorhandenen Studien sind nach Prof. Dr. Dr. H. hingegen äußerst heterogen, es bestehe keine Einigkeit über die Bedeutung kumulativer potenziell traumatisierender Ereignisse (PTE). Außerdem würden sich die vorliegenden Arbeiten so gut wie ausschließlich lediglich auf Fragebogenaktionen zum Vorhandensein von Symptomen einer PTBS beziehen, ohne jedoch durch eine konkrete Untersuchung festzustellen, ob einer derartige Störung auch entsprechend der hierzu vorliegenden Kriterien nach den psychiatrischen Klassifikationssystemen (ICD-10, DSM-5) zu diagnostizieren sei. Insbesondere zeige sich auch anhand der Literatur, dass eine derartige Symptombelastung, sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch bei Ersthelfern, nicht traumaspezifisch sei, sondern auch nach alltäglichen Lebensereignissen wie Unzufriedenheit oder Mobbing am Arbeitsplatz sowie sozialen Stressfaktoren auftrete. Nicht zuletzt fänden sich vergleichbare Symptomhäufigkeiten auch bei medizinischem Personal, das keine spezifischen traumatisierenden Situationen gemäß den ICD-10- und DSM-5-Definitionen erlebe. Zwar werde in der Literatur auch von der Möglichkeit einer PTBS mit verzögertem Beginn gesprochen, wenn das Vollbild erst nach Ablauf von sechs Monaten eintrete. Die Studienlage dazu sei jedoch uneinheitlich. In der Einzelanalyse zeige sich, dass derartig verzögerte Symptome nur nach schweren, lang andauernden traumatischen Erlebnissen (z.B. Kriegserlebnissen, Konzentrationslager, Missbrauchserlebnissen in der Kindheit) auftreten würden. Ansonsten entwickelten sich selbst nach Flutkatastrophen, Terrorattacken oder Flugzeugkatastrophen die posttraumatischen Symptome stets zeitnah. Nach den überzeugenden Ausführungen von Prof. Dr. Dr. H. zum aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand lässt die Aufarbeitung der diesbezüglichen Literatur die weitere Aussage zu, dass die wiederholte Erfahrung traumatischer Ereignisse bei anderen Personen durch Ersthelfer (generell) geeignet ist, eine vorbestehende PTBS im Sinne einer Retraumatisierung zu reaktivieren und/oder in ihrer Ausprägung zu verstärken. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass zuvor bereits zu einem beliebigen früheren Zeitpunkt das Vollbild einer PTBS vorgelegen hat, das hinreichend zeitnah in einem Zeitraum von üblicherweise 3 - 6 Monaten nachweisbar ist. Auch unter diesem Gesichtspunkt kommt hier die Anerkennung einer Wie-Berufskrankheit nicht in Betracht. Denn ein solches "Indextrauma" ist nach Prof. Dr. Dr. H. bei dem Kläger nicht gesichert, da eine PTBS-Symptomatik erstmals in den Akten 2010 dokumentiert ist und nicht in zeitlichem Zusammenhang zu einem geeigneten Trauma gemäß den psychiatrischen Klassifikationssystemen steht. Der Kläger selbst hat ausdrücklich ein solches einzelnes Trauma als Ursache seiner Erkrankung verneint. Er beruft sich ausdrücklich auf die Summe seiner Erfahrungen während der Berufstätigkeit. Die ihn behandelnden Ärzte F., Dr. J. und C. haben ihre Diagnose einer PTBS ausschließlich und ausdrücklich begründet mit der Belastung des Klägers durch die vielen Erlebnisse während der jahrzehntelangen Arbeit als Streckenwart und nicht mit einem initialen Trauma und anschließenden Retraumatisierungen. Auf Grund dieses Vorbringens des Klägers und der Berichte seines behandelnden Arztes C. hat die Beklagte im Verwaltungsverfahren auch nicht die Anerkennung eines Arbeitsunfalls durch ein konkretes Ereignis geprüft (s. Schreiben an die AOK vom 18. Mai 2011), sondern das Vorliegen einer Berufskrankheit bzw. Wie-Berufskrankheit durch die Summe belastender Erlebnisse. Auf eine solche PTBS, allein verursacht durch wiederholte Erfahrungen, beziehen sich die Feststellungen der Beklagten in dem angefochtenen Bescheid.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG), die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision auf § 160 Abs. 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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