Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 16 AS 1466/19 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 25/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Über die vorläufige Gewährung von Leistungen nach dem SGB II im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes ist auf der Grundlage einer Folgenabwägung zu entscheiden, wenn der allein streitige Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nur ein Elternteil eines minderjährigen Kindes betrifft.
Die Beschwerde des Antragsgegners wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um die vorläufige Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für die Zeit vom 2. Dezember 2019 bis 31. März 2020.
Die 1990 geborene Antragstellerin, eine rumänische Staatsangehörige, ist Mutter von drei Kindern. Mit diesen und deren Vater lebt sie zusammen in A-Stadt. Mit Bescheid vom 19. November 2019 und Änderungsbescheid vom 23. November 2019 bewilligte der Antragsgegner den übrigen vier Haushaltsangehörigen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Monate Dezember 2019 bis März 2020. Dagegen sei die Antragstellerin von der Leistungsgewährung ausgeschlossen, weil ihr in Deutschland lediglich ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche zustehe. Dagegen erhob die Antragstellerin fristgerecht Widerspruch, über den – soweit ersichtlich – noch nicht entschieden wurde.
Mit Eilantrag vom 2. Dezember 2019 hat die Antragstellerin die vorläufige Leistungsgewährung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gerichtlich geltend gemacht. Das Sozialgericht Frankfurt am Main hat dem Antrag stattgegeben und den Antragsgegner "im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin als Angehöriger der Bedarfsgemeinschaft mit ihrem Lebenspartner, Herrn C. C., sowie den gemeinsamen Kindern D., E. und F. Leistungen zur Sicherung Lebensunterhaltes nach dem SGB II in dem gesetzlich vorgesehenen Umfang und vorläufig für die Zeit vom 2. Dezember 2019 bis 31. März 2020 zu gewähren" (Beschluss vom 12. Dezember 2019). Die Antragstellerin habe das Bestehen eines Leistungsanspruchs nach dem SGB II als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft mit ihrem Lebenspartner und den gemeinsamen Kindern glaubhaft gemacht. Neben dem Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche komme ein solches aus dem in § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU normierten Günstigkeitsprinzip i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG in Betracht, sofern angenommen werde, dass die vorgenannte Vorschrift analog auch für Sorgeberechtigte gilt, die ihr diesbezügliches Recht gegenüber minderjährigen Unionsbürgern ausüben. Dies könne aus dem in Art. 18 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankerten Diskriminierungsverbot folgen, weil das Aufenthaltsrecht gemäß § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG - jedenfalls auch – nach deutschen minderjährigen Kindern und minderjährigen Unionsbürgern differenziert. Nachdem das BVerfG durch den von der Antragstellerin zu Recht zitierten Beschluss vom 4. Oktober 2019 (Az. 1 BvR 1710/18) ausdrücklich herausgestellt habe, dass die vorgenannte Rechtsauffassung in der Rechtsprechung der Landessozialgerichte und der Literatur umstritten ist, habe das Gericht im vorliegenden Fall im Rahmen einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sei dem Interesse der Antragstellerin an der Sicherung ihres Lebensunterhalts gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Vermeidung rechtswidriger Leistungserbringung der Vorzug zu geben. Denn hier gehe es sowohl um die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums gegenüber der Antragstellerin als auch um die Wahrnehmung der elterlichen Sorge gegenüber den sorgeberechtigten Kindern, die unter dem besonderen grundrechtlichen Schutz des Art. 6 Abs. 1 und 2 Grundgesetz (GG) stünden. Dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II stehe daher ein aus § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG analog herzuleitendes Aufenthaltsrecht entgegen.
Gegen den ihm am 17. Dezember 2019 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts hat der Antragsgegner fristgerecht Beschwerde zum Hessischen Landessozialgericht erhoben.
Er beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 12. Dezember 2019 aufzuheben und den Antrag abzulehnen.
Die Antragstellerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vortrags der Beteiligten im Beschwerdeverfahren wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf die beigezogenen Verwaltungsakten des Antragsgegners, die bei der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig, aber unbegründet.
Ihr fehlt es nicht am Rechtsschutzbedürfnis, obwohl es im Beschwerdeverfahren nur um einen abgeschlossenen Zeitraum in der Vergangenheit geht und die streitgegenständlichen Leistungen bereits vollständig an die Antragstellerin ausgezahlt worden sind. Denn eine Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung würde es dem Beschwerdeführer erlauben, die erbrachten Leistungen zurückfordern zu können, ohne den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abwarten zu müssen (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 13. Auflage 2020, § 86b Rn. 47 m.w.N., auch zur Gegenansicht). Auch sonst ist für einen in erster Instanz unterlegenen Leistungsträger kein einfacherer Weg der Rechtsverteidigung ersichtlich (eingehend dazu Hess. LSG, Beschluss vom 12. Oktober 2018 - L 9 AS 462/18 B ER).
Das Sozialgericht hat dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht stattgegeben, weil dieser zulässig und begründet ist.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein Rechtsverhältnis gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist sowohl ein Anordnungsanspruch (d.h. die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines materiellen Leistungsanspruchs) als auch ein Anordnungsgrund (d.h. die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile), deren tatsächliche Voraussetzungen glaubhaft zu machen sind (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Zivilprozessordnung - ZPO -).
Materielle Rechtsgrundlage für den Anordnungsanspruch der Antragstellerin auf Gewährung von Arbeitslosengeld II ist § 7 SGB II i.V.m. § 19 Abs. 1 SGB II. Zu Recht gehen die Beteiligten und das Sozialgericht übereinstimmend davon aus, dass die Anspruchsvoraussetzungen grundsätzlich erfüllt sind und die gesetzlichen Bedarfe der Antragstellerin nicht durch zu berücksichtigendes Einkommen und Vermögen gedeckt sind. Das hält auch der Senat für glaubhaft. Auf dieser Grundlage hat der Antragsgegner inzwischen in Umsetzung des erstinstanzlichen Beschlusses Leistungen erbracht. Problematisch ist ausschließlich, ob die Antragstellerin als erwerbsfähige Leistungsberechtigte gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von der Leistungsgewährung ausgenommen ist.
Von der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs ist das Sozialgericht im Ergebnis zutreffend auf der Grundlage einer Folgenabwägung ausgegangen (ebenso bereits Hess. LSG, Beschluss vom 12. Oktober 2018 - L 9 AS 462/18 B ER). Eine solche Vorgehensweise ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angezeigt, wenn ein Gericht sonst nicht in der Lage wäre, effektiven Rechtsschutz i.S.v. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu gewähren. Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat danach die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Indessen dürfen sich die Gerichte, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, nur dann an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren, wenn sie die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen können. Eine solche abschließende Prüfung kommt allerdings nur in Betracht, wenn eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren möglich ist. Ist das nicht der Fall, ist eine Folgenabwägung durchzuführen (siehe zum Ganzen BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 8. Juli 2020 – 1 BvR 932/20 m.w.N.).
Vorliegend ist der Anspruch auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG betroffen, dessen Beeinträchtigung nachträglich bei einem erfolgreichen Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht mehr ausgeglichen werden kann, weil der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden kann, in dem er besteht (vgl. BVerfGE 125, 175, 225). Gleichwohl ist der Senat in der Vergangenheit in mehreren Entscheidungen davon ausgegangen, die Rechtslage bereits im Eilverfahren endgültig und abschließend beurteilen zu können (zuletzt Beschluss vom 20. April 2020 - L 7 AS 114/20 B ER). An dieser Rechtsprechung hält er nicht fest, soweit der zu beurteilende Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nur ein Elternteil eines minderjährigen Kindes betrifft. Denn in solchen Fällen ist der Schutzbereich von Art. 6 GG eröffnet (vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 8. Juli 2020 – 1 BvR 932/20), der für jedermann ein vorbehaltlos gewährtes Grundrecht enthält. Es handelt sich um ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in das ungestörte Zusammenleben in Ehe und Familie. Daraus lässt sich aber kein allgemeiner Anspruch ableiten, mit seiner Familie (auf Kosten der Allgemeinheit) gerade in Deutschland zu leben. Vielmehr können ausländische Staatsangehörige grundsätzlich darauf verwiesen werden, das Grundrecht durch ein Zusammenleben im Herkunftsland zu verwirklichen (vgl. v. Coelln in Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 24 mit Hinweis auf BVerfGE 76, 1, 46 ff.; 80, 81, 92). Diese einer ganzen Familie drohende Konsequenz des Leistungsausschlusses eines einzelnen Familienmitglieds erscheint dem Senat jedoch unter bestimmten Umständen unverhältnismäßig. In welchen Fällen – insbesondere wegen der in Deutschland bestehenden Bindungen (dazu BVerfG a.a.O.) – von einer Unzumutbarkeit der Ausreise aus Deutschland auszugehen ist, wirft neben der rechtlichen Bewertung zahlreiche Tatfragen auf. Denn eine solche Abwägungsentscheidung kann nur auf Grundlage einer umfassenden Sachverhaltskenntnis erfolgen. Die dafür erforderlichen, gemäß § 103 SGG von Amts wegen vorzunehmenden Ermittlungen sprengen indes den Rahmen des gerichtlichen Eilverfahrens und müssen daher dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Dabei wird etwa zu berücksichtigen sein, inwieweit die Kinder in Schulen oder Kinderbetreuungseinrichtungen eingegliedert sind und welche Sprachkenntnisse sie aufweisen (einerseits deutsch, andererseits Sprache des Herkunftslandes), inwieweit sich der Aufenthalt der Familie in Deutschland bereits verfestigt hat, welche beruflichen Nachteile sich für den Partner des Antragstellers durch eine Ausreise in das Herkunftsland ergeben würden usw.
Bei der demnach in derartigen Fällen entscheidungserheblich anzustellenden Folgenabwägung überwiegen die Interessen der Antragstellerin am rechtzeitigen Erhalt existenzsichernder Leistungen gegenüber dem Interesse des Antragsgegners an der Vermeidung einer Überzahlung, die möglicherweise nach einem Obsiegen im Hauptsacheverfahren nicht mit Erfolg zurückgefordert werden könnte (Senatsbeschluss vom 22. Juni 2011 – L 7 AS 700/10 B ER, info also 2012, 174 ff.). Dieser rein wirtschaftliche Aspekt muss hinter der drohenden endgültigen Grundrechtsverletzung (vgl. erneut BVerfGE 125, 175, 225) zurückstehen.
Vor diesem Hintergrund ist das Sozialgericht auch zutreffend von der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrunds ausgegangen. Es ist nicht ersichtlich, dass der Antragstellerin anderweitig bereite Mittel zur Verfügung stehen würden, um ihr Existenzminimum bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu sichern.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um die vorläufige Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für die Zeit vom 2. Dezember 2019 bis 31. März 2020.
Die 1990 geborene Antragstellerin, eine rumänische Staatsangehörige, ist Mutter von drei Kindern. Mit diesen und deren Vater lebt sie zusammen in A-Stadt. Mit Bescheid vom 19. November 2019 und Änderungsbescheid vom 23. November 2019 bewilligte der Antragsgegner den übrigen vier Haushaltsangehörigen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Monate Dezember 2019 bis März 2020. Dagegen sei die Antragstellerin von der Leistungsgewährung ausgeschlossen, weil ihr in Deutschland lediglich ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche zustehe. Dagegen erhob die Antragstellerin fristgerecht Widerspruch, über den – soweit ersichtlich – noch nicht entschieden wurde.
Mit Eilantrag vom 2. Dezember 2019 hat die Antragstellerin die vorläufige Leistungsgewährung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gerichtlich geltend gemacht. Das Sozialgericht Frankfurt am Main hat dem Antrag stattgegeben und den Antragsgegner "im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin als Angehöriger der Bedarfsgemeinschaft mit ihrem Lebenspartner, Herrn C. C., sowie den gemeinsamen Kindern D., E. und F. Leistungen zur Sicherung Lebensunterhaltes nach dem SGB II in dem gesetzlich vorgesehenen Umfang und vorläufig für die Zeit vom 2. Dezember 2019 bis 31. März 2020 zu gewähren" (Beschluss vom 12. Dezember 2019). Die Antragstellerin habe das Bestehen eines Leistungsanspruchs nach dem SGB II als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft mit ihrem Lebenspartner und den gemeinsamen Kindern glaubhaft gemacht. Neben dem Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche komme ein solches aus dem in § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU normierten Günstigkeitsprinzip i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG in Betracht, sofern angenommen werde, dass die vorgenannte Vorschrift analog auch für Sorgeberechtigte gilt, die ihr diesbezügliches Recht gegenüber minderjährigen Unionsbürgern ausüben. Dies könne aus dem in Art. 18 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankerten Diskriminierungsverbot folgen, weil das Aufenthaltsrecht gemäß § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG - jedenfalls auch – nach deutschen minderjährigen Kindern und minderjährigen Unionsbürgern differenziert. Nachdem das BVerfG durch den von der Antragstellerin zu Recht zitierten Beschluss vom 4. Oktober 2019 (Az. 1 BvR 1710/18) ausdrücklich herausgestellt habe, dass die vorgenannte Rechtsauffassung in der Rechtsprechung der Landessozialgerichte und der Literatur umstritten ist, habe das Gericht im vorliegenden Fall im Rahmen einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sei dem Interesse der Antragstellerin an der Sicherung ihres Lebensunterhalts gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Vermeidung rechtswidriger Leistungserbringung der Vorzug zu geben. Denn hier gehe es sowohl um die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums gegenüber der Antragstellerin als auch um die Wahrnehmung der elterlichen Sorge gegenüber den sorgeberechtigten Kindern, die unter dem besonderen grundrechtlichen Schutz des Art. 6 Abs. 1 und 2 Grundgesetz (GG) stünden. Dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II stehe daher ein aus § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG analog herzuleitendes Aufenthaltsrecht entgegen.
Gegen den ihm am 17. Dezember 2019 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts hat der Antragsgegner fristgerecht Beschwerde zum Hessischen Landessozialgericht erhoben.
Er beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 12. Dezember 2019 aufzuheben und den Antrag abzulehnen.
Die Antragstellerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vortrags der Beteiligten im Beschwerdeverfahren wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf die beigezogenen Verwaltungsakten des Antragsgegners, die bei der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig, aber unbegründet.
Ihr fehlt es nicht am Rechtsschutzbedürfnis, obwohl es im Beschwerdeverfahren nur um einen abgeschlossenen Zeitraum in der Vergangenheit geht und die streitgegenständlichen Leistungen bereits vollständig an die Antragstellerin ausgezahlt worden sind. Denn eine Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung würde es dem Beschwerdeführer erlauben, die erbrachten Leistungen zurückfordern zu können, ohne den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abwarten zu müssen (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 13. Auflage 2020, § 86b Rn. 47 m.w.N., auch zur Gegenansicht). Auch sonst ist für einen in erster Instanz unterlegenen Leistungsträger kein einfacherer Weg der Rechtsverteidigung ersichtlich (eingehend dazu Hess. LSG, Beschluss vom 12. Oktober 2018 - L 9 AS 462/18 B ER).
Das Sozialgericht hat dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht stattgegeben, weil dieser zulässig und begründet ist.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein Rechtsverhältnis gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist sowohl ein Anordnungsanspruch (d.h. die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines materiellen Leistungsanspruchs) als auch ein Anordnungsgrund (d.h. die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile), deren tatsächliche Voraussetzungen glaubhaft zu machen sind (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Zivilprozessordnung - ZPO -).
Materielle Rechtsgrundlage für den Anordnungsanspruch der Antragstellerin auf Gewährung von Arbeitslosengeld II ist § 7 SGB II i.V.m. § 19 Abs. 1 SGB II. Zu Recht gehen die Beteiligten und das Sozialgericht übereinstimmend davon aus, dass die Anspruchsvoraussetzungen grundsätzlich erfüllt sind und die gesetzlichen Bedarfe der Antragstellerin nicht durch zu berücksichtigendes Einkommen und Vermögen gedeckt sind. Das hält auch der Senat für glaubhaft. Auf dieser Grundlage hat der Antragsgegner inzwischen in Umsetzung des erstinstanzlichen Beschlusses Leistungen erbracht. Problematisch ist ausschließlich, ob die Antragstellerin als erwerbsfähige Leistungsberechtigte gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von der Leistungsgewährung ausgenommen ist.
Von der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs ist das Sozialgericht im Ergebnis zutreffend auf der Grundlage einer Folgenabwägung ausgegangen (ebenso bereits Hess. LSG, Beschluss vom 12. Oktober 2018 - L 9 AS 462/18 B ER). Eine solche Vorgehensweise ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angezeigt, wenn ein Gericht sonst nicht in der Lage wäre, effektiven Rechtsschutz i.S.v. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu gewähren. Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat danach die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Indessen dürfen sich die Gerichte, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, nur dann an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren, wenn sie die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen können. Eine solche abschließende Prüfung kommt allerdings nur in Betracht, wenn eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren möglich ist. Ist das nicht der Fall, ist eine Folgenabwägung durchzuführen (siehe zum Ganzen BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 8. Juli 2020 – 1 BvR 932/20 m.w.N.).
Vorliegend ist der Anspruch auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG betroffen, dessen Beeinträchtigung nachträglich bei einem erfolgreichen Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht mehr ausgeglichen werden kann, weil der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden kann, in dem er besteht (vgl. BVerfGE 125, 175, 225). Gleichwohl ist der Senat in der Vergangenheit in mehreren Entscheidungen davon ausgegangen, die Rechtslage bereits im Eilverfahren endgültig und abschließend beurteilen zu können (zuletzt Beschluss vom 20. April 2020 - L 7 AS 114/20 B ER). An dieser Rechtsprechung hält er nicht fest, soweit der zu beurteilende Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nur ein Elternteil eines minderjährigen Kindes betrifft. Denn in solchen Fällen ist der Schutzbereich von Art. 6 GG eröffnet (vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 8. Juli 2020 – 1 BvR 932/20), der für jedermann ein vorbehaltlos gewährtes Grundrecht enthält. Es handelt sich um ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in das ungestörte Zusammenleben in Ehe und Familie. Daraus lässt sich aber kein allgemeiner Anspruch ableiten, mit seiner Familie (auf Kosten der Allgemeinheit) gerade in Deutschland zu leben. Vielmehr können ausländische Staatsangehörige grundsätzlich darauf verwiesen werden, das Grundrecht durch ein Zusammenleben im Herkunftsland zu verwirklichen (vgl. v. Coelln in Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 24 mit Hinweis auf BVerfGE 76, 1, 46 ff.; 80, 81, 92). Diese einer ganzen Familie drohende Konsequenz des Leistungsausschlusses eines einzelnen Familienmitglieds erscheint dem Senat jedoch unter bestimmten Umständen unverhältnismäßig. In welchen Fällen – insbesondere wegen der in Deutschland bestehenden Bindungen (dazu BVerfG a.a.O.) – von einer Unzumutbarkeit der Ausreise aus Deutschland auszugehen ist, wirft neben der rechtlichen Bewertung zahlreiche Tatfragen auf. Denn eine solche Abwägungsentscheidung kann nur auf Grundlage einer umfassenden Sachverhaltskenntnis erfolgen. Die dafür erforderlichen, gemäß § 103 SGG von Amts wegen vorzunehmenden Ermittlungen sprengen indes den Rahmen des gerichtlichen Eilverfahrens und müssen daher dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Dabei wird etwa zu berücksichtigen sein, inwieweit die Kinder in Schulen oder Kinderbetreuungseinrichtungen eingegliedert sind und welche Sprachkenntnisse sie aufweisen (einerseits deutsch, andererseits Sprache des Herkunftslandes), inwieweit sich der Aufenthalt der Familie in Deutschland bereits verfestigt hat, welche beruflichen Nachteile sich für den Partner des Antragstellers durch eine Ausreise in das Herkunftsland ergeben würden usw.
Bei der demnach in derartigen Fällen entscheidungserheblich anzustellenden Folgenabwägung überwiegen die Interessen der Antragstellerin am rechtzeitigen Erhalt existenzsichernder Leistungen gegenüber dem Interesse des Antragsgegners an der Vermeidung einer Überzahlung, die möglicherweise nach einem Obsiegen im Hauptsacheverfahren nicht mit Erfolg zurückgefordert werden könnte (Senatsbeschluss vom 22. Juni 2011 – L 7 AS 700/10 B ER, info also 2012, 174 ff.). Dieser rein wirtschaftliche Aspekt muss hinter der drohenden endgültigen Grundrechtsverletzung (vgl. erneut BVerfGE 125, 175, 225) zurückstehen.
Vor diesem Hintergrund ist das Sozialgericht auch zutreffend von der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrunds ausgegangen. Es ist nicht ersichtlich, dass der Antragstellerin anderweitig bereite Mittel zur Verfügung stehen würden, um ihr Existenzminimum bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu sichern.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
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