L 9 AS 546/20 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 27 AS 538/20 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 546/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 13. November 2020 aufgehoben. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Die Beteiligten haben einander für beide Instanzen keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

Die am 18. November 2020 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Beschwerde des Antragsgegners mit dem sinngemäßen Antrag,

den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 13. November 2020 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen,

ist zulässig und begründet.

Die Beschwerde ist nach § 172 Abs.1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Ein Beschwerdeausschluss ergibt sich weder aus § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG noch aus §§ 198 ff. SGG i. V. m. den Vorschriften des Achten Buchs der Zivilprozessordnung (ZPO).

Über die Frage der Zulässigkeit des Rechtsweges hat der Senat nicht abschließend zu befinden. Denn nach § 202 Satz 1 SGG i. V. m. § 17a Abs. 5 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) prüft das Gericht, das über ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung in der Hauptsache entscheidet, nicht, ob der beschrittene Rechtsweg zulässig ist. Eine Entscheidung in der Hauptsache im Sinne des § 17a Abs. 5 GVG liegt jedenfalls dann vor, wenn - wie hier - das erstinstanzliche Gericht eine Entscheidung in einer Sachfrage getroffen hat (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 7. Dezember 2017 - L 8 SO 206/17 B ER -). § 17a Abs. 5 GVG ist im Beschwerdeverfahren entsprechend anwendbar (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 7. Dezember 2017 - L 8 SO 206/17 B ER -; Keller in: Meyer-Ladewig u. a., SGG, 11. Aufl., § 51 Rn. 71 m. w. N.; BVerwG, Beschluss vom 15. November 2000 - 3 B 10/00 - Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 286 m. w. N.; Hessischer VGH, Beschluss vom 24. August 2006 - 7 TJ 1763/06 - m. w. N.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Januar 2020 - 9 S 2797/19 - m. w. N.). Die Bindungswirkung des § 17a Abs. 5 GVG besteht unabhängig davon, ob ein Beteiligter die Zulässigkeit des Rechtswegs vor dem Sozialgericht in Frage gestellt hat. Sie gilt auch dann, wenn das Sozialgericht - wie hier - den Rechtsweg nur inzident bejaht hat (vgl. BSG, Urteil vom 23. März 2011 - B 6 KA 11/10 R - BSGE 108, 35 m. w. N.).

Ungeachtet der Frage der Prüfungskompetenz des Rechtsmittelgerichts dürfte hier der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit (§ 51 Abs. 1 SGG) gegeben sein. Die Antragstellerin wendet sich mit ihrer Einrede der Verjährung gegen die Berechtigung des Antragsgegners, die Erstattungsforderung geltend zu machen. Dabei handelt es sich nicht um Einwendungen gegen die Art und Weise der von dem Antragsgegner beabsichtigten Zwangsvollstreckung, für die der Verwaltungsrechtsweg eröffnet wäre, soweit - wie hier - nach §§ 40 Abs. 8 Halbsatz 2 SGB II, 66 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) in Verbindung mit dem einschlägigen Verwaltungsvollstreckungsgesetz (VwVG) des Landes (hier: § 12 Hessisches VwVG) kommunale Behörden für die Vollstreckung zuständig sind (vgl. BSG, Beschluss vom 25. September 2013 - B 8 SF 1/13 R - SozR 4-1500 § 51 Nr. 11; BVerwG, Beschluss vom 29. August 2016 - 5 B 74/15 -; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11. Juli 2013 L 7 AS 695/13 B -; B. Schmidt in: Meyer-Ladewig u. a., SGG, 13. Aufl. 2020, § 200 Rn. 2). Die Antragstellerin wendet sich vielmehr gegen die Berechtigung des Antragsgegners, die Erstattungsforderung geltend zu machen. Diese steht in einem rechtlichen Zusammenhang mit der Verwaltungstätigkeit nach dem SGB II. Bei dem Gegenstand des Rechtsstreits handelt es sich somit um eine Angelegenheit der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 4a SGG, so dass der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eröffnet sein dürfte (vgl. BSG, Urteil vom 2. März 1973 - 12/3 RK 2/71 - BSGE 35, 236; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Mai 2020 - L 3 AS 1168/20 ER-B - m. w. N.; Keller in: Meyer-Ladewig u. a., SGG, 13. Aufl. 2020, § 51 Rn. 39 "Vollstreckung").

Die danach zulässige Beschwerde ist aber nicht begründet.

Einstweiliger Rechtsschutz durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG kommt nur in Betracht, soweit ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG nicht vorliegt. Zutreffend ist das Sozialgericht davon ausgegangen, dass einstweiliger Rechtsschutz vorliegend nach § 86b Abs. 2 SGG zu gewähren ist. Denn gegen die bloße Ankündigung der zwangsweisen Einziehung der Forderungen ist kein Widerspruch gegeben. Dieser kommt mangels Regelungswirkung nicht die Qualität eines Verwaltungsakts zu. Vielmehr hat die Vollstreckungsankündigung lediglich den Sinn, den Schuldner noch einmal auf die Situation hinzuweisen und ihm letztmalig die Gelegenheit zu geben, zur Abwendung der Vollstreckung freiwillig die Rückstände zu begleichen (vgl. BSG, Urteil vom 25. Juni 2015 - B 14 AS 38/14 R - BSGE 119, 170 m. w. N.). Ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG liegt daher nicht vor.

Zweifel bestehen bereits an der Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Zwar wird ein auf die Unterlassung bzw. Einstellung der Vollstreckung gerichteter Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Sinne des § 86b Abs. 2 SGG als statthaft angesehen, da es möglich sein müsse, gegen für unberechtigt gehaltene Vollstreckungsankündigungen unmittelbar vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Mai 2020 - L 3 AS 1168/20 ER-B - m. w. N.). Vorliegend hatte der Antragsgegner von der Antragstellerin mit Vollstreckungsankündigung / Zahlungsaufforderung vom 21. August 2020 die Zahlung rückständiger Beträge in Höhe von 1.638,80 Euro (1.569,00 Euro Überzahlung lt. Bescheid vom 5. November 2013, Mahngebühren 25,00 Euro, Vollstreckungskosten und Auslagen 44,80 Euro) gefordert. Mit Schreiben vom 5. Oktober 2020 hat der Antragsgegner die Hauptforderung auf 1.021,51 Euro reduziert, auf die Erhebung von Mahngebühren in Höhe von 25,00 Euro verzichtet und die Antragstellerin erneut zur Zahlung bis zum 5. November 2020 aufgefordert. Mit Schreiben vom 6. November 2020 hat die Kreiskasse des Antragsgegners auf Anfrage des Sozialgerichts darauf hingewiesen, dass der Antragsgegner den Vollstreckungsauftrag bereits am 27. August 2020 zurückgezogen habe. Der Antragsgegner hat allerdings am selben Tage mitgeteilt, dass er von weiteren Vollstreckungsmaßnahmen nicht absehen werde. Im gegenwärtigen Zeitpunkt sind aber Vollstreckungsmaßnahmen weder konkret angekündigt noch eingeleitet, so dass das Begehren der Antragstellerin auf Gewährung vorbeugenden vorläufigen Rechtsschutzes gerichtet ist.

Vorbeugender Rechtsschutz kann in zulässiger Weise nur in Anspruch genommen werden, wenn hierfür ein besonderes oder qualifiziertes Rechtsschutzbedürfnis besteht. Ein qualifiziertes Rechtsschutzbedürfnis für vorbeugenden Rechtsschutz besteht nur, wenn die Verweisung auf nachträglichen Rechtsschutz - einschließlich des vorläufigen Rechtsschutzes - unzumutbar ist. Dies gilt in besonderem Maße für das Begehren nach vorläufigem vorbeugenden Rechtsschutz (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom 25. Juli 2019 - L 4 KR 117/19 B ER -; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. Juni 2006 L 1 B 16/06 AS ER -). Ob ein derartiges qualifiziertes Rechtsschutzbedürfnis hier in Anbetracht der Mitteilung des Antragsgegners vom 6. November 2020, dass er von weiteren Vollstreckungsmaßnahmen nicht absehen werde, anzunehmen ist, kann aber dahinstehen, da der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung jedenfalls unbegründet ist.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn dies zur Abwehr wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies setzt voraus, dass das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht werden (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.

Rechtsgrundlage für eine - vorliegend von dem Antragsgegner in Aussicht gestellte - Vollstreckungsmaßnahme ist nicht - wie das Sozialgericht angenommen hat - § 40 Abs. 8 Halbsatz 1 SGB II i. V. m. §§ 1 bis 5 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes des Bundes (VwZG), die nur für die Vollstreckung von Ansprüchen der in gemeinsamen Einrichtungen zusammenwirkenden Träger anwendbar sind, sondern § 40 Abs. 8 Halbsatz 2 SGB II i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach finden die landesrechtlichen Vorschriften über das Verwaltungsvollstreckungsverfahren, vorliegend also die Regelungen des Hessischen VwVG, Anwendung.

Die Vollstreckungsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 i. V. m. § 2 Hess. VwVG sind gegeben.

Nach §§ 1 Abs. 1, 2 Nr. 1 Hessisches VwVG können u. a. unanfechtbar gewordene Verwaltungsakte, mit denen eine Geldleistung gefordert wird, vollstreckt werden. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Erstattungsbescheid des Antragsgegners vom 5. November 2013 ist, da er nicht innerhalb der Widerspruchsfrist des § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG angefochten wurde, nach § 77 SGG bestandkräftig geworden. Die Vollstreckungsvoraussetzungen sind damit gegeben.

Gründe für die Einstellung der Vollstreckung liegen nicht vor.

Nach § 3 Abs. 1 Hessisches VwVG ist die Vollstreckung einzustellen, sobald
1. die Voraussetzungen des § 2 weggefallen sind oder
2. der Verwaltungsakt, der vollstreckt wird,
a) befolgt oder
b) aufgehoben worden ist oder
3. die Verpflichtung, wegen der vollstreckt wird, nach Erlass des Verwaltungsakts
a) erloschen oder
b) gestundet worden ist.
Die Verpflichtung, wegen der vollstreckt wird, ist nicht nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a) Hessisches VwVG erloschen. Zwar kann der Erstattungsanspruch des Leistungsträgers durch Verjährung erlöschen (BFH, Beschluss vom 11. September 1989 - VII B 129/89 -).

Die von der Antragstellerin erhobene Einrede der Verjährung greift aber nicht durch, da sich die Verjährungsfrist vorliegend nicht aus § 50 Abs. 4 SGB X, sondern aus § 52 Abs. 2 SGB X ergibt.

Nach § 52 Abs. 1 Satz 1 SGB X hemmt ein Verwaltungsakt, der zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers erlassen wird, die Verjährung dieses Anspruchs. Ist ein Verwaltungsakt im Sinne des § 52 Abs. 1 unanfechtbar geworden, beträgt die Verjährungsfrist 30 Jahre (§ 52 Abs. 2 SGB X). Hemmende Wirkung im Sinne des § 52 Abs. 1 Satz 1 SGB X kommt dabei jedem Verwaltungsakt zu, der zur Festsetzung oder Durchsetzung eines Anspruchs ergeht. Dazu zählen der Verwaltungsakt, mit dem der Verpflichtete erstmals zur Leistungserbringung aufgefordert wird oder der im Vollstreckungsverfahren der Durchsetzung des Anspruchs dient. Auch Festsetzungs- und Leistungsbescheide, mit denen die Leistung festgestellt bzw. festgesetzt wird, erfolgen zur Durchsetzung des Anspruchs und haben damit verjährungshemmende Wirkung, z. B. Verwaltungsakte zur Geltendmachung von Erstattungsansprüchen wegen zu Unrecht erbrachter Leistungen (§ 50 SGB X), von Erstattungsansprüchen wegen der die zustehenden Leistungen übersteigenden Vorschüssen (§ 42 Abs. 2 Satz 3 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - SGB I -) oder vorläufigen Leistungen (§ 43 Abs. 2 Satz 1 SGB I, § 328 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - SGB III -), außerdem Verwaltungsakte, mit denen Leistungen aufgerechnet (§ 51 SGB I) oder verrechnet (§ 52 SGB I) werden. Auf die Art und Weise der Geltendmachung kommt es nicht an (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14. Juli 2010 - 12 B 651/10 -; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11. Dezember 2019 - L 3 AS 3321/19 -; Segebrecht in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., Stand: 1. Dezember 2017, § 52 Rn. 18.; Engelmann in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 52 Rn. 10).

Der Erstattungsbescheid des Antragsgegners vom 5. November 2013 ist unter Berücksichtigung der genannten Grundsätze als Verwaltungsakt zur Feststellung des Anspruchs eines öffentlich-rechtlich Rechtsträgers im Sinne des § 52 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu qualifizieren. Der Antragsgegner hat den Erstattungsanspruch konkret festgestellt und den geforderten Betrag genau beziffert, wobei er die Forderung mittlerweile auf die der Antragstellerin gewährten überzahlten Leistungen beschränkt hat. Nach Unanfechtbarkeit des Erstattungsbescheides des Antragsgegners vom 5. November 2013 beträgt die Verjährungsfrist daher 30 Jahre (§ 52 Abs. 2 SGB X).

Etwas anderes folgt nicht aus § 50 Abs. 4 SGB X. Nach Satz 1 dieser Vorschrift verjährt der Erstattungsanspruch in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Verwaltungsakt nach Absatz 3 unanfechtbar geworden ist. Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß (§ 50 Abs. 4 Satz 2 SGB X). § 52 bleibt unberührt (§ 50 Abs. 4 Satz 3 SGB X). Eine unmittelbare Anwendung des § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X scheidet vorliegend aus, da sich die Vorschrift nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut nur auf Verwaltungsakte nach § 50 Abs. 3 SGB X bezieht. Die Verjährungsvorschrift des § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X ist in der vorliegenden Konstellation aber auch nicht entsprechend anwendbar. Eine solche entsprechende Geltung ist zwar für Vorschüsse (§ 42 Abs. 2 Satz 3 SGB I) normiert, nicht aber für Erstattungsansprüche nach § 328 Abs. 3 Satz 2 SGB III. Für eine entsprechende Anwendung bedürfte es daher einer zu schließenden planwidrigen Regelungslücke. Diese wird für die Frage, wann der materiell-rechtliche Erstattungsanspruch im Sinne des § 328 Abs. 3 Satz 2 SGB III verjährt, bevor dieser durch einen Verwaltungsakt formell festgesetzt wurde, in Rechtsprechung und Literatur bejaht. Insoweit wird angenommen, dass der Erstattungsanspruch in entsprechender Anwendung des § 50 Abs. 4 SGB X in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres verjährt, in dem der endgültige Bescheid unanfechtbar geworden ist (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. Juli 2020 - L 14 AS 553/20 B ER -; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 6. Juni 2019 - L 4 AS 272/17 -; Thüringer LSG, Urteil vom 22. März 2018 - L 9 AS 323/16 -; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 4. April 2017 - L 2 AS 1921/16 -.; Kallert in: Gagel, SGB III, Stand: September 2029, § 328 Rn. 90; Schaumberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 2. Aufl. 2019, § 328 Rn. 129). Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass die in § 45 SGB I bestimmte Verjährungsfrist von vier Jahren Ausdruck eines allgemeinen Prinzips sei, das der Harmonisierung der Vorschriften über die Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche diene (vgl. BSG, Urteil vom 11. September 2019 - B 6 KA 13/18 R - m. w. N.). Die vierjährige Verjährungsfrist sei nicht nur in § 45 SGB I für "Ansprüche auf Sozialleistungen", sondern etwa auch in den §§ 25 und 27 Sozialgesetzbuch Viertes Buch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV) sowie in § 113 SGB X enthalten. Auch die Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGB X sehe für nachzuzahlende Forderungen, soweit Sondervorschriften (vgl. etwa § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II) nichts anderes bestimmten, eine Begrenzung auf vier Jahre vor. Die Verjährungsfrist von vier Jahren stelle nach allem ein allgemeines Rechtsprinzip im Sozialrecht dar (vgl. BSG, Urteil vom 11. September 2019 s. o.). Dass die Verjährung von auf § 328 Abs. 3 SGB III beruhenden Erstattungsansprüchen gesetzlich nicht geregelt sei, stelle sich danach als planwidrig dar. Der Rückgriff auf eine entsprechende Anwendung des § 50 Abs. 4 SGB X als sachnächste Verjährungsregelung sei in diesem Fall geboten (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. Juli 2020 - s. o., m. w. N.).

Eine entsprechende Anwendung des § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X auch auf - wie hier - bereits durch Verwaltungsakt innerhalb der vierjährigen Verjährungsfrist nach Unanfechtbarkeit des endgültigen Bescheides festgestellte Erstattungsansprüche nach § 328 Abs. 3 SGB III scheidet aber aus. Denn in diesem Fall besteht mit § 52 Abs. 2 SGB X eine ausdrückliche gesetzliche Regelung über die Verjährung, so dass schon keine im Wege einer Analogie zu schließende Regelungslücke besteht. Außerdem würde die vorrangige (entsprechende) Anwendung des § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X eine Durchbrechung des ansonsten bestehenden Grundsatzes bedeuten, dass bestandskräftige Verwaltungsakte, die zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers erlassen wurden, nach dem Willen des Gesetzgebers nach § 52 Abs. 2 SGB X wie auch § 53 Abs. 2 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) regelmäßig der 30-jährigen Verjährungsfrist unterliegen (wie hier: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. Juli 2020 - s. o., m. w. N., das zudem auf den unterschiedlichen Charakter der Erstattungsregelungen nach § 328 Abs. 3 Satz 2 SGB III einerseits und § 50 Abs. 3 SGB X andererseits und daraus folgend die Notwendigkeit der differenzierten Beurteilung der Frage der Verjährung verweist; SG Reutlingen, Urteil vom 2. September 2020 - S 4 AS 1417/19 -). Scheidet die entsprechende Anwendung des § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X in dieser Fallgestaltung aus, bedarf es keiner Entscheidung, ob § 50 Abs. 4 SGB X als vorrangige Sonderregelung für die Feststellung eines Erstattungsanspruchs durch Verwaltungsakt der Regelung des § 52 Abs. 2 SGB X vorgeht und nur zusätzliche Verwaltungsakte zur Durchsetzung des durch Verwaltungsakt festgestellten Erstattungsanspruchs § 52 Abs. 2 SGB X unterfallen (bejahend: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. Dezember 2018 - L 34 AS 2224/18 B ER -; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27. September 2018 - L 1 AL 88/17 -; Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 50 Rn. 126 m. w. N.; Becker in: Hauck/Noftz, SGB X, Stand: August 2016, § 50 Rn. 95; verneinend: SG Reutlingen, Urteil vom 2. September 2020 - S 4 AS 1417/19 -; zum Ganzen vgl. auch Geiger, info also 2019, 201 und 2020, 29).

Es liegt auch keine Verwirkung vor. Das Rechtsinstitut der Verwirkung ist als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -) auch im Sozialrecht anerkannt. Die Verwirkung setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (vgl. Urteil des Senats vom 31. Januar 2020 L 9 AS 130/18 -; BSG, Urteil vom 31. März 2017 - B 12 R 6/14 R - SozR 4-2500 § 255 Nr. 2; BSG, Urteil vom 13. November 2012 - B 1 KR 24/11 R - BSGE 112, 141 m. w. N.). Vorliegend fehlt es schon an einem Verwirkungsverhalten. Für die Annahme eines Verwirkungsverhaltens muss ein konkretes Verhalten des Gläubigers vorliegen, welches beim Schuldner die berechtigte Erwartung erweckt, dass eine Forderung nicht besteht oder nicht (mehr) geltend gemacht wird. Ein bloßes Unterlassen der weiteren Durchsetzung der Erstattungsforderung durch den Antragsgegner erfüllt nach den aufgezeigten Maßstäben die Anforderungen an ein Vertrauen begründendes Verwirkungsverhalten (noch) nicht. Der Antragsgegner hat zu keiner Zeit (wenigstens konkludent) zum Ausdruck gebracht, von der Geltendmachung der Erstattungsforderung absehen zu wollen. Aufgrund des bloßen Untätigbleibens des Antragsgegners konnte die Antragstellerin nicht darauf vertrauen, nicht (mehr) herangezogen zu werden. Nach dem Vortrag der Antragstellerin ist auch weder ein Vertrauenstatbestand noch ein Vertrauensverhalten erkennbar.

Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss für die Abwendung wesentlicher Nachteile nötig sein; d. h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats, vgl. Beschlüsse vom 22. September 2005 - L 9 AS 47/05 ER -, vom 7. Juni 2006 - L 9 AS 85/06 ER -, vom 30. August 2006 - L 9 AS 115/06 ER - vom 11. Februar 2016 - L 9 AS 71/16 B ER und vom 26. Mai 2017 - L 9 AS 197/17 B ER -, zuletzt Beschluss vom 13. Februar 2020 - L 9 AS 530/19 B ER -; Conradis in: LPK-SGB II, 6. Aufl. 2017, Anhang Verfahren Rn. 137). Eine derartige Notlage hat die Antragstellerin nicht dargelegt. Der Antragsgegner hat zwar mit Schriftsatz vom 6. November 2020 mitgeteilt, dass er von weiteren Vollstreckungsmaßnahmen nicht absehen werde. Ihren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begründet die Antragstellerin aber allein mit der von ihr angenommenen Rechtswidrigkeit der angekündigten Vollstreckungsmaßnahme. Daraus ergibt sich aber keine besondere Eilbedürftigkeit. Eine nur durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung abwendbaren Notlage ist nicht erkennbar.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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