S 13 (19) V 51/92

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 13 (19) V 51/92
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 10 V 6/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 20.03.1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.07.1992 verurteilt, unter entsprechender Rücknahme des Bescheides vom 10.02.1954 als Schädigungsfolge einen "Persönlichkeitswandel durch Extrembelastung" anzuerkennen und Versorgungsleistungen nach einer MdE um 60 zu gewähren. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Feststellung von Schädigungsfolgen und die Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Der im Jahre 1923 geborene Kläger besuchte von 1929 bis 1937 die Volksschule und absolvierte anschließend mit Erfolg eine Tischlerlehre im Betrieb seines Vaters von 1937 bis 1940. Nach einer kurzen Gesellenzeit wurde er am zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und bei Tarnungs- und Rollfelderweiterungsarbeiten an der Kanalküste eingesetzt. Nach Angaben des Klägers wurde er dort wegen seiner oppositionellen Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus schikaniert. Es sei versucht worden, ihn so lange zu schleifen, bis daß der Tod eintrete. An einem Tage sei er von zwei Vorgesetzten vier Stunden lang "geschliffen" worden. Dadurch seien zwei Kameraden durch Herzversagen zu Tode geraten und er und ein weiterer Kamerad seien bis zur Bewußtlosigkeit drangsaliert worden. Am 30.10.1941 meldete sich der Kläger mit Schwellungen beider Unterschenkel und wurde vom diensttuenden Arzt am 31.10.1941 in ein Luftwaffen-Lazarett in H eingewiesen. Neben der Schwellung beider Unterschenkel konnte eine bläuliche Verfärbung der Hände, Füße und Unterschenkel festgestellt werden. Aus den entsprechenden ärztlichen Unterlagen ergibt sich, daß der Kläger seine Erkrankung auf den Exerzierdienst während der Zugehörigkeit zum Reichsarbeitsdienst zurückführte. Von Amts wegen wurde ein Verfahren auf Anerkennung einer Arbeitsdienstbeschädigung eingeleitet. Von seiten des Reichsarbeitsdienstes wurden die Angaben des Klägers als unglaubwürdig bezeichnet, weil entsprechende Meldungen über körperliche Mißhandlungen, Schleifen etc. nicht eingegangen seien. Mit Bescheid vom 12.10.1942 lehnte das Versorgungsamt die Anerkennung einer Arbeitsdienstbeschädigung ab, da die Beschwerden durch anlagebedingte Bein- und Fußdeformationen verursacht worden seien. Mit Bescheid vom 02.12.1942 wurde eine entsprechende Beschwerde zurückgewiesen. Wegen Venenentzündung beider Unterschenkel wurde der Kläger am 07. 05.1942 vorzeitig aus dem Reichsarbeitsdienst entlassen und am 01.04.1943 zur Wehrmacht eingezogen. Seinen Kriegsdienst verrichtete er als Sanitätssoldat an der Ostfront. Im April 1945 geriet der Kläger in russische Gefangenschaft. Nach seinen Angaben wurde er wegen der Zugehörigkeit zu einer bei der Roten Armee verhaßten Einheit zum Tode verurteilt. Später sei das Urteil auf 15 Jahre Zwangsarbeit reduziert worden. Der Kläger mußte in Steinbrüchen, an Hochöfen und unter Tage in Steinkohlebergwerken arbeiten. Im Oktober und November 1947 wurde er im Kriegsgefangenenlazarett wegen Unterernährung und Oedemen behandelt. Gemäß dem Entlassungsschein wurde der Kläger am 22.12.1947 aufgrund einer Dystrophie dienstunfähig aus der Gefangenschaft entlassen. Ausweislich eines vertrauensärztlichen Gutachtens vom 15.03.1948 wog der Kläger im Dezember 1947 105 Pfund. Bei der Untersuchung im März 1948 wog er ca. 170 Pfund. Es lag ein Eiweißmangelschaden mit Störungen im Wasserhaushalt vor. Im Dezember wurde anläßlich eines Unfalls durch Fingerverletzung erstmals ein Diabetes mellitus diagnostiziert. Im September stellte der Kläger einen Antrag auf Versorgung nach dem BVG. Er vertrat die Auffassung, der Diabetes mellitus sei auf die kriegsbedingte Dystrophie zurückzuführen. Das Versorgungsamt Bielefeld holte daraufhin ein Gutachten des Internisten Dr. S ein. Dieser stellte fest, die Zuckerkrankheit sei erst vier Jahre nach der Entlassung aus der russischen Kriegsgefangenschaft aufgetreten und es fehlten jegliche Brückensymptome. Ein Zusammenhang mit Wehrdiensteinflüssen sei daher nicht wahrscheinlich. Auf dieser Grundlage lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 10.02.1954 und Widerspruchsbescheid vom 26.04.1954 ab. Im nachfolgenden Gerichtsverfahren vor dem Sozialgericht Detmold (II. KB 2979/54) wurde ein Gutachten des Chefarztes der Medizinischen Klinik der Städtischen Krankenanstalten X-C, Prof. Dr. T eingeholt. Dieser wies darauf hin, daß eine Zuckerkrankheit so gut wie immer anlagebedingt entstehe. Dies treffe auch für Fälle zu, bei denen - wie hier - in der näheren Verwandtschaft keine Erkrankung an Diabetes bekannt sei. Mit Urteil vom 25.02.1957 wies das Sozialgericht Detmold die Klage ab. Mit Bescheid vom 08.10.1968 gewährte die LVA Westfalen dem Kläger eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, welche im Jahre 1988 in ein Altersruhegeld umgewandelt wurde. Unter dem Aktenzeichen S 16 J 32/91 führte der Kläger vor dem erkennenden Gericht einen Rechtsstreit gegen die LVA Westfalen mit dem Ziel der Anrechnung weiterer Ersatzzeiten aufgrund einer an die Kriegsgefangenschaft anschließenden Arbeitsunfähigkeit.

Im Januar 1990 stellte der Kläger einen Antrag auf Kriegsbeschädigtenrente und Überprüfung der bisherigen Entscheidungen des Beklagten. Das Versorgungsamt wertete die medizinischen Ermittlungen aus, die im Schwerbehindertenverfahren zu einem Gesamt-GdB von 100 geführt hatten. Mit Bescheid vom 20.03.1990 wurde der Antrag des Klägers abgelehnt. Nach Auswertung der aktenkundigen Unterlagen sowie auch der neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse sei ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten der insulinpflichtigen Zuckerstoffwechselstörung und den besonderen Einflüssen, insbesondere während der Kriegsgefangenschaft, nicht wahrscheinlich zu machen. Nach Beiziehung weiterer medizinischer Unterlagen wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28.07.1992 zurück.

Hiergegen richtet sich die Klage mit der der Kläger vorträgt, er sei praktisch seit seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft arbeitsunfähig krank. Erst 1951 sei er wieder zur Rentenversicherung angemeldet worden, habe aber nur sporadisch im elterlichen Betrieb mitgearbeitet. Sein Hausarzt Dr. S1 habe auch in dem Rentenverfahren bestätigt, daß er nach dem Kriege schubweise unter fieberhaften Erkrankungen gelitten und physisch und psychisch alterniert gewesen sei. Auch in psychischer Hinsicht habe er sich nie von den Folgen der Gefangenschaft erholt. Noch heute drehe sich sein ganzes Denken um die damaligen Ereignisse. Er werde mitten in der Nacht wach, weil er Alpträume habe. Als Sanitätssoldat habe er für seinen Vorgesetzten immer an Hinrichtungen teilnehmen müssen. Bei diesen habe er die Delinquenten betreut. Viele hätten vor der Erschießung noch um Benachrichtigung von Verwandten gebeten und Namen und Anschriften mitgeteilt. Er habe sich diese jedoch nicht merken können, weil er nichts habe aufschreiben dürfen. Dies habe ihn sehr belastet. Als Sanitätssoldat sei er überproportional häufig mit dem Tode konfrontiert worden. Er werde von diesen Kriegsereignissen immer noch so geplagt, daß er dauernd den Verwandten davon erzähle. Während der Gefangenschaft sei es zu Folter und dem Tod vieler Mitgefangener gekommen. Sie seien geschlagen worden und hätten nichts zu essen und nichts zu trinken bekommen. Das ganze erste Jahr habe er auch im Winter bei -40° draußen stehen bleiben müssen. Die Gefangenen hätten sich dann immer zu größeren Gruppen zusammengestellt. Diejenigen in der Mitte seien einigermaßen warm geworden, während die am äußeren Rand an der Kälte starben. Das ganze Lager habe ca. 3.000 Insassen gehabt und sei praktisch jedes Jahr neu auf gefüllt worden, weil fast alle starben. Mit anderen habe er die Leichen dann selbst zur Abraumhalde bringen und dort mit Schlacke bedecken müssen. Wie auch schon beim Reichsarbeitsdienst habe er auch während der Gefangenschaft Probleme mit dem Gehen gehabt. Deshalb habe er besondere Angst gehabt, daß es ihn im Lager auch erwischen würde. Kameraden hätten ihm jedoch geholfen und ihn über längere Zeit immer ins Bergwerk getragen, um zu verhindern, daß er totgeschlagen werde. Daß die psychischen Probleme in den früheren Untersuchungen keine Rolle gespielt hätten, sei normal. Er habe sich auf die körperlichen Symptome konzentriert. Durch die einseitige Festlegung auf die Zuckerkrankheit sei die psychische Seite nicht richtig aufgeklärt worden. Das von Amts wegen eingeholte Gutachten von Dr. S2 sei insgesamt zutreffend. Aber auch der Diabetes sei entgegen dem Gutachten des Sachverständigen Dr. C1 auf die Kriegsereignisse zurückzuführen.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 20.03.1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.07.1992 zu verurteilen, unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 10.02.1954 als Schädigungsfolge einen "Persönlichkeitswandel durch Extrembelastung" anzuerkennen und Versorgungsleistungen nach einer MdE um 60 gemäß den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen. Der Beklagte sieht nach wie vor keinen Zusammenhang mit Ereignissen des Krieges oder der Kriegsgefangenschaft. Dem Gutachten von Dr. S2 könne auch unter Berücksichtigung der ergänzenden Stellungnahme nicht gefolgt werden. Die Persönlichkeitsstörung sei nicht auf den Kriegsdienst zurückzuführen. Insbesondere müsse darauf hingewiesen werden, daß psychische Probleme während der Untersuchungen nach dem Kriege bis in das Jahr 1990 nicht festgestellt worden seien. Eine nervenärztliche Behandlung habe nicht stattgefunden. Die späteren Leistungsbeeinträchtigungen des Klägers seien im wesentlichen auf den Diabetes mellitus zurückzuführen. Ein echter Persönlichkeitswandel durch Extrembelastung sei nicht wahrscheinlich zu machen. Der Sachverständige Dr. S2 habe in seinem psychischen Befund überhaupt keine Auffälligkeiten beschrieben, die einem typischen Persönlichkeitswandel entsprechen könnten.

Eine Angstsymptomatik habe er nicht aufgedeckt. Es sei lediglich auf eine dysphorische Verstimmung hingewiesen worden mit Klagsamkeit. Ein depressives Syndrom oder eine Psychose seien nicht festgestellt worden. Es fehle an dem notwendigen zeitlichen Zusammenhang zwischen der heutigen, eher leichten psychischen Auffälligkeit und der Zeit nach Entlassung aus der Gefangenschaft 1947. Bei der Untersuchung im Jahre 1948 seien weitgehend unauffällige geistig-seelische Verhältnisse festgestellt worden. Es sei nicht wahrscheinlich, daß sich die Persönlichkeitsstruktur des Klägers wesentlich durch die Kriegseinflüsse geändert hätten. Insbesondere die querulatorische Wesensart des Klägers habe wohl schon vor dem Kriege vorgelegen. Solche Persönlichkeitsmerkmale blieben im Laufe des Lebens qualitativ weitgehend unverändert. Der Kläger habe schließlich schon im Jahre 1942 einen Antrag auf Rente gestellt. Eine psychoreaktive Störung nach Extrembelastung komme nur in Betracht, wenn als Kernsyndrom eine chronisch gewordene Angst und eine chronisch-depressive Verstimmung vorliege. Beides könne hier nicht festgestellt werden.

Das Gericht hat die Akten S 16 J 32/91 nebst Rentenakte der LVA Westfalen sowie die den Kläger betreffende Schwerbehindertenakte beigezogen. Weiterhin ist ein internistisches Gutachten von Dr. C1 und ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von Dr. S2 nebst ergänzenden Stellungnahmen eingeholt worden. Der Sachverständige Dr. S2 und der sachverständige Zeuge Dr. S1 wurden in der mündlichen Verhandlung vom 19.11.1997 vernommen. Wegen der Einzelheiten des Beweisergebnisses und des Sachverhalts im übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Streit- und der den Kläger betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten; dieser war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Kläger ist durch die Entscheidung des Beklagten beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), denn der Bescheid vom 20.03.1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.07.1992 ist rechtswidrig. Nach § 44 des Sozialgesetzbuches, Zehntes Buch (SGB X) ist ein bindend gewordener Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich ergibt, daß bei seinem Erlaß das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Entgegen dem Bescheid vom 10.02.1954 besteht Anspruch auf Versorgungsleistungen nach einer MdE um 60 v.H. Nach § 1 Abs. 1 BVG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung, wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Einer solchen Schädigung stehen Schädigungen gleich, die durch Kriegsgefangenschaft herbeigeführt worden sind (§ 1 Abs. 2 BVG). Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs (§ 1 Abs. 3 Satz 1 BVG). Zur Überzeugung der Kammer ist die bei dem Kläger vorliegende Persönlichkeitsstörung zumindest im Sinne der Verschlimmerung auf den Wehrdienst und/oder die Kriegsgefangenschaft mit ausreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich zurückzuführen. Dies folgt aus dem Gutachten von Dr. S2 vom 09.12.1995 sowie seiner ergänzenden Stellungnahme vom 27.09.1996 und den entsprechenden Ausführungen des Sachverständigen im Rahmen der mündlichen Verhandlung. Der Sachverständige hat als Schädigungsfolge einen "Persönlichkeitswandel durch Extrembelastung" festgestellt. Es handelt sich dabei um eine Persönlichkeitsstörung im Sinne einer sogenannten querulatorischen Psychopathie. Durch die Geschehnisse während des Krieges und der Kriegsgefangenschaft sei es bei dem Kläger zu einer depressiven Verstimmung, Verunsicherung, Verbitterung, Resignation und einer asthenischen Leistungsinsuffizienz verbunden mit organneurotischen Störungen gekommen. Bei dem sogenannten Persönlichkeitswandel durch Extrembelastung handele es sich, wie anhand von KZ-Opfern erforscht, nicht nur um Extrembelastungen bezüglich der Dauer von Haft bzw. Gefangenschaft, um die Folgen ungünstiger hygienischer Verhältnisse, mangelhafter Ernährung, Schwerstarbeit sowie Krankheiten und Mißhandlungen, sondern auch um die Folgen tiefgreifender seelischer Schädigungen und ständiger Todesfurcht. Entsprechende Umstände haben nach den Feststellungen des Sachverständigen auch bei dem Kläger eine psychische Veränderung herbeigeführt. Nach den glaubhaften Angaben des Klägers hatte er als Sanitätssoldat ständig den Tod vor Augen und mußte häufig an der gewaltsamen Tötung von Menschen bei Hinrichtungen teilnehmen. Während der Kriegsgefangenschaft war er später ständig vom Tode bedroht und mußte mehrere Jahre mitansehen, wie Tausende seiner Mitgefangenen den Tod fanden. Nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck der Kammer entsprechen diese unter größter Beherrschung und von Weinanfällen unterbrochenen Darstellungen des Klägers seinen tatsächlichen Erlebnissen. Diese traumatischen Erlebnisse sind auch nach Auffassung des Gerichts ohne weiteres geeignet, den Bruch und die Umwandlung einer Persönlichkeit herbeizuführen. Es handelt sich um tief in das Persönlichkeitsgefüge eingreifende und mehrere Jahre andauernde Belastungen. Diese haben zu einer reaktiven chronisch-depressiven Verstimmung, zu Mißtrauen, Rückzug und Motivationsverlust geführt. Die Einschätzung des Sachverständigen Dr. S2 steht daher in Übereinstimmung mit Ziffer 71 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (Stand 1983 und 1996). Nach Ziffer 139 Abs. 6 der Anhaltspunkte pflegten im allgemeinen zwar die Folgen einer langjährigen Gefangenschaft in wenigen Jahren folgenlos abzuklingen. Wie der Sachverständige aber dargelegt hat, ist bei dem Kläger davon nicht auszugehen, da er die Geschehnisse besonders intensiv erlebt hat und sich deshalb von ihnen nicht lösen kann.

Zutreffend weist der Beklagte zwar darauf hin, daß bei dem Kläger erst mehrere Jahrzehnte nach dem Kriegsende eine depressive Verstimmung ärztlich festgestellt wurde. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, daß der Persönlichkeitswandel nach dem Kriege noch nicht vorgelegen hat. Hierzu hat der Sachverständige zutreffend festgestellt, daß entgegen der Auffassung des Beklagten nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft nicht weitgehend unauffällige geistig-seelische Verhältnisse vorgeherrscht haben. Schon allein aus der Biographie des Klägers ergebe sich, daß er aufgrund seiner Störungen nie habe beruflich Fuß fassen können. Der querulatorische Persönlichkeitseinschlag des Klägers dürfte durch die Behandlung während des Reichsarbeitsdienstes mitinitiiert worden sein. Dort ist es schon nach den bereits damals gemachten Angaben des Kläger zu Übergriffen der Vorgesetzten durch übermäßiges Drillen und Schleifen gekommen. Der damalige Antrag auf Versorgung wurde unter Zugrundelegung der entsprechenden Angaben der Vorgesetzten aus dem Reichsarbeitsdienst abgelehnt. Seit dieser Zeit fühlt sich der Kläger immer ungerecht behandelt. Durch die späteren Kriegs- und Gefangenschaftsereignisse wurde die Persönlichkeit des Klägers weiter beeinträchtigt. Der Kläger kam als gebrochener Mann aus der Gefangenschaft. Dies hat der Sachverständige Zeuge Dr. L S1 sowohl in seiner Aussage vom 31.07.1992 im Verfahren S 16 J 32/91 wie auch in diesem Verfahren bestätigt. 1992 gab der Zeuge an, der Kläger sei psychisch sehr alterniert gewesen und habe unter Phobien gelitten. Neben einem psychischen Erschöpfungszustand seien auch immer wieder fieberhafte Erkrankungen aufgetreten. Der Zeuge kennt den Kläger schon seit seiner Jugendzeit und behandelte ihn nach dem Krieg teilweise zusammen mit seinem Vater. Nach Aussage des Zeugen war der Kläger nach Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft depressiv gestimmt und hatte auch Angstzustände. Es seien häufiger Ohnmachtssituationen aufgetreten. Der Kläger habe sich so in das Kriegserleben hineingesteigert, daß es zu diesen Anfällen gekommen sei. Soweit Konzentrationsschwäche beobachtet worden sei, sei dies aufgrund seiner psychischen Verfassung durchaus nachvollziehbar. Wie schon an dem Lebensweg des Klägers zu erkennen, sei es auch zu einem Motivationsverlust gekommen. Der Kläger habe sich vollkommen eingekapselt und sich immer sehr egozentrisch benommen. Dieser Zustand habe unmittelbar nach der Entlassung begonnen und sich bis in die heutige Zeit fortgesetzt. Dies habe sich noch dadurch verschlimmert, daß er in der folgenden Zeit dauernd Fehlschläge erlitten habe und sich somit verkannt gefühlt habe. Diese Ausführungen des sachverständigen Zeugen Dr. S1 hält das Gericht für zutreffend. Sie werden bestätigt durch weitere Aussagen in dem Verfahren S 7 (16) J 32/91. Die Schwägerin des Klägers, Frau N Q, sagte in diesem Verfahren im September 1993 aus, der Kläger sei bei Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft nicht nur körperlich schwer krank sondern auch geistig krank gewesen. Er sei wiederholt regelrecht ohne Verstand gewesen, so daß einmal sogar der Geistliche geholt werden mußte. Der Kläger habe lange Zeit überhaupt nicht reagiert und habe praktisch nie richtig arbeiten können. Der Bruder des Klägers, Herr I Q, sagte aus, der Kläger habe bei der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft den Tod vor Augen gehabt und habe weder sprechen noch sich bewegen können. Er sei nicht nur körperlich sondern auch seelisch krank gewesen. Seelisch sei er einfach nicht in der Lage gewesen, etwas zu tun. Er hatte kein Auffassungsvermögen. Auch in der schriftlichen Äußerung des Mitgefangenen D T1 vom 20.01.1982 wurde zum Ausdruck gebracht, daß der Kläger nach der Kriegsgefangenschaft praktisch nicht wiederzuerkennen war. Er sei völlig entnervt und körperlich zusammengebrochen zurückgekehrt und eine Unterhaltung mit ihm sei nicht möglich gewesen. Weiterhin hat der Kläger im Rahmen der Untersuchung durch Dr. S im Jahre 1953 angegeben, er sei sehr nervös und der Schlaf sei häufig gestört. Insgesamt sind daher genügend Anhaltspunkte dafür vorhanden, daß die Angaben des behandelnden Arztes auch über den langen Zeitraum seit Ende des Krieges hinweg zutreffen. Der Sachverständige Dr. S2 hat zu Recht darauf hingewiesen, daß das Fehlen psychiatrischer Befunde und Diagnosen wenig aussagekräftig ist. Der Kläger wurde ausschließlich von Nicht-Psychiatern behandelt. Nicht-Fachärzte begeben sich aber ungern auf das Gebiet von Psychopathologie, Psychiatrie und psychischen Befund und äußern schon gar nicht ätiopathogenetische Zusammenhänge auf psychopathologischem Gebiet. Der Hausarzt des Klägers hat ferner klargestellt, daß zunächst eine psychiatrische Behandlung nicht möglich und der Kläger sie später, wohl mangels Einsicht in die Ursachen der Erkrankung, abgelehnt hat. Er und sein Vater hätten immer versucht, den Kläger seelisch so zu stützen, daß er über die Probleme hinweggebracht wurde. Den psychischen Veränderungen des Klägers wurde daher durchaus ärztliche Aufmerksamkeit gewidmet.

Entgegen der Auffassung des Beklagten sind für das Gericht Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger bereits vor dem Kriege persönlichkeitsgestört war, nicht ersichtlich. Der Antrag des Klägers auf Versorgung im Rahmen des Reichsarbeitsdienstes läßt nicht auf schon damals bestehende querulatorische Tendenzen schließen. Wie sich aus dem Bescheid vom 12.10.1942 ohne weiteres ergibt, hat der Kläger einen entsprechenden Antrag auf Versorgung nicht gestellt. Das Verfahren ist vielmehr von Amts wegen eingeleitet worden. Dem Sachverständigen Dr. S2 kann auch darin gefolgt werden, daß der Lebensweg des Klägers mit erfolgreichem Abschluß der Volksschule und der Lehre keine Hinweise für eine bereits bestehende Persönlichkeitsstörung bietet. Anders ist es auch nicht zu verstehen, daß die im Verfahren S 7 (16) J 32/91 gehörten Zeugen und auch der Zeuge Dr. S1 den Kläger nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft als völlig verändert, psychisch alterniert erlebt haben und ihn auch in dieser Beziehung kaum wiedererkannt haben. Die Kammer folgt dem Sachverständigen Dr. S2 in seiner Einschätzung, daß eine eventuell schon vorhandene Persönlichkeitsstörung jedenfalls nicht so akzentuiert war, wie dies nach dem Kriege und bis heute offensichtlich der Fall ist. Damit ist aber zumindest eine maßgebliche Verschlimmerung dieses Leidens schädigungsbedingt.

Auch hinsichtlich der Höhe der MdE kann dem Sachverständigen Dr. S2 gefolgt werden. Nach Ziffer 26.3 der Anhaltspunkte können schwere psychische Störungen z. B. als Folgen psychischer Traumen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einer MdE von 50 bis 70 bewertet werden. Der Sachverständige hat nachvollziehbar dargelegt, daß die sozialen Anpassungsschwierigkeiten ohne weiteres vergleichbar sind z. B. mit einer schweren Zwangskrankheit die ebenfalls geeignet ist, einen beruflichen Werdegang wie beim Kläger zu erzeugen, der nie richtig beruflich Tritt fassen konnte. Mit einem mittleren Wert von 6 0 ist die MdE damit ausreichend aber auch angemessen bewertet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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