S 8 AY 114/19 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
8
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 8 AY 114/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen gemäß § 3 AsylbLG ohne Berücksichtigung einer Leistungskürzung gemäß § 1 a Abs. 4 S. 2 AsylbLG zu gewähren. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin wendet sich im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Einschränkung ihres Leistungsanspruches nach dem AsylbLG gemäß § 1 a Abs. 4 S. 2 AsylbLG.

Die Antragstellerin wurde am 00.00.1971 geboren. Sie ist irakische Staatsangehörige. Sie reiste mit ihren 2009 und 2010 geborenen Kindern am 14.10.2017 vom Irak nach Griechenland, wo ihr und ihren Kindern internationaler Schutz gewährt wurde. Am 07.08.2019 reiste sie mit ihren Kindern in die BRD ein. Am 21.08.2019 stellte sie einen Asylantrag. Mit Bescheid vom 24.09.2019 lehnte das BAMF die Asylanträge der Antragstellerin und ihrer Kinder als unzulässig ab, da ihnen bereits in Griechenland internationaler Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt worden sei. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung wurde ausgesetzt. Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin am 08.10.2019 Klage beim Verwaltungsgericht Minden.

Mit Bescheid vom 01.10.2019 sprach die Antragsgegnerin gegenüber der Antragstellerin eine Leistungseinschränkung gemäß § 1 a Abs. 4 S. 2 AsylbLG für die Dauer von sechs Monaten aus, da ihr bereits internationaler Schutz in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union gewährt worden sei. Hiergegen legte die Antragstellerin am 14.10.2019 Widerspruch ein. Sie habe Griechenland verlassen, weil sie dort nicht mehr habe leben können. Ihr Mann habe sie verlassen und sie habe kein Geld bekommen. Ihr sei alles weggenommen worden und sie habe auf der Straße leben müssen. Von einem Iraker, bei dem sie mit ihren Kindern übernachtet habe, sei sie vergewaltigt worden. Sie habe Angst, dass ihre Tochter ebenfalls vergewaltigt werde. Aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse habe sie die Straftat nicht zur Anzeige gebracht. Mit Widerspruchsbescheid vom 22.10.2019 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch als unbegründet zurück. Hiergegen hat die Antragstellerin am 13.11.2019 Klage erhoben, die unter dem Aktenzeichen S 8 AY 115/19 geführt wurde.

Ebenfalls am 13.11.2019 hat die Antragstellerin die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beantragt. Zur Begründung führt sie weiter aus: Eine Leistungskürzung, die durch eigenes Verhalten der Antragstellerin nicht mehr zu beeinflussen sei, entspreche nicht verfassungsrechtlichen Vorgaben. Insofern werde auch auf die Entscheidung des BVerfG zu den Sanktionen im SGB II verwiesen. Der Antragstellerin und ihren Kindern sei zudem der Aufenthalt in der BRD zur Durchführung des Asylverfahrens gestattet, die Vollziehung der Abschiebungsandrohung sei ausgesetzt. Sie könne insofern nicht darauf verwiesen werden, freiwillig nach Griechenland zurückzukehren. Die bloße Anwesenheit im Bundesgebiet könne nicht sanktioniert werden. Darüber hinaus sei bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden. Fraglich sei auch, ob eine Rückkehr nach Griechenland zumutbar sei; dies werde derzeit vor den deutschen Verwaltungsgerichten diskutiert. Ein individuelles Fehlverhalten könne der Antragstellerin nicht vorgeworfen werden.

Die Antragsgegnerin hat mit Bescheid vom 11.12.2019 den Bescheid vom 01.10.2019 und den Widerspruchsbescheid vom 22.10.2019 aus formalen Gründen aufgehoben. Die Antragstellerin hat daraufhin das Klageverfahren S 8 AY 115/19 für erledigt erklärt. Mit Bescheid vom 17.12.2019 hat die Antragsgegnerin erneut eine Leistungseinschränkung gemäß § 1 a Abs. 4 S. 2 AsylbLG ausgesprochen.

Die Antragstellerin beantragt,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr ungekürzte Leistungen nach § 3 AsylbLG in Verbindung mit § 3 a AsylbLG zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung führt sie aus: Unstreitig habe die Antragstellerin internationalen Schutz in Griechenland, der fortbestehe. Der Tatbestand des § 1 a Abs. 4 S. 2 AsylbLG sei daher erfüllt. Hinsichtlich der Lebensbedingungen in Griechenland werde auf die Entscheidung des LSG Bayern vom 08.07.2019, Az.: L 18 AY 21/19 B ER Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin sowie die Ausländerakte der ZAB Bielefeld und der Akte des BAMF, die bei der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.

II.

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 S. 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus.

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung derart, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG - Kommentar, 8. Auflage, § 86 b Rdnrn. 27 und 29 m. w. N.). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. zuletzt Bundes-verfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05).

Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 86 b Abs. 2 S. 4 SGG glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes (vgl. Meyer-Ladewig, a. a. O., Rdnrn. 16 b, 16 c, 40).

Hiervon ausgehend hat die Antragstellerin nach der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen gemäß § 3 AsylbLG ungekürzt ohne Berücksichtigung einer Leistungseinschränkung gemäß § 1 a Abs.4 S. 2 AsylbLG glaubhaft gemacht.

Rechtsgrundlage für die streitgegenständliche Anspruchseinschränkung ist § 1 a Abs. 4 S. 2 AsylbLG. Gemäß § 1 a Abs. 4 S. 1 (4) erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 1, 1a oder 5 AsylbLG ebenfalls nur (eingeschränkte) Leistungen gemäß § 1 a Abs. 1 AsylbLG, für die in Abweichung von der Regelzuständigkeit nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31) nach einer Verteilung durch die Europäische Union ein anderer Mitgliedstaat oder ein am Verteilmechanismus teilnehmender Drittstaat, der die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 anwendet, zuständig ist. Satz 1 gilt gemäß § 1 a Abs. 4 S. 2 AsylbLG entsprechend für Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 1 oder 1a, denen bereits von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder von einem am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstaat im Sinne von Satz 1 internationaler Schutz (Nr. 1) oder aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht gewährt worden ist (Nr. 2), wenn der internationale Schutz oder das aus anderen Gründen gewährte Aufenthaltsrecht fortbesteht. Zusätzlich erfordert § 1 a Abs. 4 S. 2 AsylbLG als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal, dass dem Betroffenen die Rückkehr in das schutzgewährende Land aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen möglich und zumutbar ist (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 19.11.2019, Az.: L 8 AY 26/19 B ER m.w.N.).

Hiervon ausgehend ist nach der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung offen, ob die Voraussetzungen für die Anspruchseinschränkung vorliegen. Zwar wurde der Antragstellerin bereits in Griechenland internationaler Schutz gewährt, der nach dem unbestrittenen Vortrag der Antragsgegnerin fortbesteht. Es kann im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes aber letztlich nicht abschließend geklärt werden, ob der Antragstellerin eine Rückkehr in das schutzgewährende Land Griechenland möglich und zumutbar ist. Insbesondere kann nicht geklärt werden, ob die Antragstellerin der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung zu erfahren. Soweit die Antragsgegnerin vorträgt, dass zunächst einmal die Vermutung gelte, dass sich das EU-Land Griechenland im Einklang mit den einschlägigen EU-Normen bewege, vermag das Gericht dem im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht zu folgen. Zwar mag grundsätzlich eine derartige Vermutung gelten, jedoch hält die Kammer diese Vermutung jedenfalls für die Zwecke des einstweiligen Rechtsschutzes für erschüttert. Hierbei berücksichtigt das Gericht insbesondere, dass zwischenzeitlich zahlreiche aktuelle verwaltungsgerichtliche Entscheidungen vorliegen, in denen eine Rückkehr nach Griechenland für unzumutbar gehalten wurde und das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt wurde (so beispielsweise VG Köln, Urteil vom 28.11.2019, Az.: 20 K 2489/18.A m.w.N.). Auch das LSG Niedersachsen-Bremen geht in einer aktuellen Entscheidung vom 19.11.2019, Az.: L 8 AY 26/19 B ER, davon aus, dass insbesondere sogenannten vulnerablen Personen, zu denen auch die Antragstellerin als Alleinerziehende gehört, eine Rückkehr nach Griechenland unzumutbar ist. Das Gericht verkennt nicht, dass die Rechtsprechung diesbezüglich nicht einheitlich ist und beispielsweise das Bayerische Landessozialgericht in der von der Antragsgegnerin zitierten Entscheidung vom 08.07.2019, Az.: L 18 AY 21/19 B ER, keine Hinderungsgründe an einer Rückkehr des dortigen Antragstellers nach Griechenland gesehen hat. Vor dem Hintergrund der Vielzahl an verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen, die von einem Abschiebungsverbot nach Griechenland ausgehen und unter Berücksichtigung des konkreten Einzelfalles, insbesondere der Tatsache, dass die Antragstellerin alleinerziehend ist und ausweislich der Ausländerakte auch verschiedene gesundheitliche Beeinträchtigungen in der Person der Antragstellerin und auch eines ihrer Kinder vorliegen, ist für das Gericht im vorliegenden Verfahren nicht offensichtlich, dass der Antragstellerin eine Rückkehr nach Griechenland zumutbar ist. Soweit in dem Bescheid des BAMF über die Ablehnung des Asylantrages festgestellt wird, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen, so entfaltet der Bescheid diesbezüglich noch keine Tatbestandswirkung, denn der Bescheid ist aufgrund der von der Antragsgegnerin hiergegen erhobenen Klage noch nicht bestandskräftig (vgl. hierzu LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 19.11.2019, Az.: L 8 AY 26/19 B ER m.w.N.). Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung wurde bereits in dem Bescheid des BAMF selber ausgesetzt. Letztlich muss die Klärung der Frage, ob der Antragstellerin die Rückkehr nach Griechenland zumutbar ist, im Hauptsacheverfahren erfolgen.

Die daraufhin gebotene Interessenabwägung geht zugunsten der Antragstellerin aus. Entsprechend den oben dargestellten Grundsätzen führt die Abwägung der Folgen, die eintreten würden, wenn die Eilentscheidung nicht erginge, Widerspruch und Klage aber später Erfolg hätten, wesentlich schwerwiegender als die Folgen, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erginge, die Klage aber erfolglos bliebe. Erginge die Eilentscheidung nicht, bestünde die Gefahr einer erheblichen Unterdeckung existenzsichernder Leistungen für die Antragstellerin. Dem gegenüber steht auf der Seite der Antragsgegnerin die Gefahr, der Antragstellerin Leistungen zu gewähren, auf die sie keinen Anspruch hat und so Überzahlungen zu tätigen. Diese kann die Antragsgegnerin jedoch im Falle des Obsiegens in der Hauptsache zurückfordern und ggf. auch im Wege der Aufrechnung geltend machen, so dass das Gericht hier die mögliche existentielle Bedrängnis der Antragstellerin höher gewichtet als die Gefahr der Überzahlungen durch die Antragsgegnerin. Das Vorliegen eines Anordnungsgrundes folgt aus dem existenzsichernden Charakter der streitigen Leistungen.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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