S 8 AY 74/20 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
8
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 8 AY 74/20 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 AY 1/21 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im vorliegenden Verfahren darum, ob der Antragsteller die Gewährung von Leistungen gemäß § 2 AsylbLG beanspruchen kann.

Der am 00.00.1988 geborene Antragsteller ist afghanischer Staatsbürger. Am 31.12.2017 reiste er mit weiteren Familienangehörigen in die BRD ein. Am 02.01.2018 äußerte er erstmals ein Asylgesuch. Mit Bescheid des BAMF vom 27.03.2018 wurde der Asylantrag als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Italien angeordnet, da Italien für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. Hiergegen erhob der Antragsteller Klage. Ein Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes wurde vom VG Düsseldorf durch Beschluss vom 19.07.2018 abgelehnt. Am 31.08.2018 teilte die Evangelische Kirchengemeinde H mit, dass der Antragsteller sich im Kirchenasyl befinde und im Gebäude der Evangelischen Kirchengemeinde in der L-straße 00 untergebracht sei. Am 04.09.2018 teilte das BAMF mit, dass die Evangelische Kirchengemeinde H um Vorlage eines Härtefalldossiers bis zum 01.10.2018 gebeten worden sei. Am 01.10.2018 teilte das BAMF mit, dass es nach eingehender Prüfung zu der Auffassung gelangt sei, dass im Falle des Antragstellers keine besonderen individuellen Härten vorlägen, die gegen eine Überstellung nach Italien sprächen. Mit Schreiben vom 04.10.2018 teilte die Evangelische Kirchengemeinde H mit, dass sich der Antragsteller weiterhin im Kirchenasyl befinde. Die für den 15.10.2018 geplante Rückführung des Antragstellers nach Italien fand nicht statt. Mit Urteil vom 15.02.2019 hob das Verwaltungsgericht Düsseldorf den Bescheid des BAMF wegen des Ablaufs der Überstellungsfrist vom 27.03.2018 auf. Am 17.04.2019 verließ der Antragsteller das Kirchenasyl. Ihm wurde eine bis zum 16.10.2019 gültige Aufenthaltsgestattung erteilt. Die Aufenthaltsgestattung wurde bis zum 13.04.2020 verlängert. Am 03.09.2020 wurde dem Antragsteller eine bis zum 02.03.2021 gültige Aufenthaltsgestattung erteilt. Mit Bescheid vom 08.07.2019 lehnte das BAMF den Asylantrag des Antragstellers, den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie den Antrag auf Zuerkennung subsidiären Schutzes ab. Der Antragsteller erhob hiergegen Klage.

Am 26.05.2019 beantragte der Antragsteller die Gewährung von Leistungen gemäß § 2 AsylbLG bei der Antragsgegnerin. Mit Bescheid vom 17.08.2020 lehnte die Antragsgegnerin die Leistungsgewährung ab. Hiergegen legte der Antragsteller am 27.08.2020 Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 15.09.2020 als unbegründet zurückgewiesen wurde. Die hiergegen am 01.10.2020 erhobene Klage wird unter dem Aktenzeichen S 8 AY 75/20 geführt.

Ebenfalls am 01.10.2020 hat der Antragsteller die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beantragt. Zur Begründung führt er aus: Er gehöre zum leistungsberechtigten Personenkreis gemäß § 2 AsylbLG, da er sich ohne wesentliche Unterbrechung seit 18 Monaten im Bundesgebiet aufhalte. Es liege auch kein rechtsmissbräuchliches Verhalten vor. Die Inanspruchnahme des Kirchenasyls stelle kein rechtsmissbräuchliches Verhalten dar, da das Kirchenasyl sowohl von den Verwaltungsbehörden als auch von der Bundesregierung respektiert werde. Das Kirchenasyl stelle insbesondere in den Fällen des "offenen" Kirchenasyls weder ein rechtliches noch ein tatsächliches Abschiebehindernis dar. Im vorliegenden Fall sei der Antragsgegnerin der Aufenthaltsort des Antragstellers jederzeit bekannt gewesen. Auch wenn dem Antragsteller für die Zeit ab dem 09.09.2018 bis zum 16.04.2019 keine Bescheinigung über die Duldung mehr ausgestellt worden sei, so habe die Duldung aber für diesen Zeitraum fortbestanden. Soweit der Antragsteller sich im Zeitraum vom 14.04.2020 bis 02.09.2020 nicht im Besitz einer gültigen Aufenthaltsgestattung befunden habe, sei diese nicht gemäß § 67 AsylG erloschen. Das Asylverfahren sei weiterhin anhängig.

Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller Leistungen gemäß § 2 AsylbLG im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung führt sie aus: Der Antragsteller habe entgegen seiner Auffassung seinen Aufenthalt in der BRD rechtsmissbräuchlich verlängert. Mit der Ablehnung seines Asylantrages als unzulässig sei die Aufenthaltsgestattung des Antragstellers erloschen. Für die Zeit vom 09.08.2018 bis 08.09.2018 sei ihm eine Duldung nach § 60 a AufenthG erteilt worden. Für die Zeit vom 09.09.2018 bis 16.04.2019 habe der Antragsteller sich ohne Aufenthaltstitel in der BRD aufgehalten. Ein Aufenthaltsrecht ergebe sich nicht aus dem Kirchenasyl. Zwar sei der Staat durch das Kirchenasyl nicht am Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen gehindert, er verzichte jedoch regelmäßig auf eine zwangsweise Durchsetzung der Ausreisepflicht. Durch die Inanspruchnahme des Kirchenasyls habe sich der Antragsteller faktisch dem staatlichen Zugriff entzogen. Er habe seine Aufenthaltsdauer insofern rechtsmissbräuchlich verlängert, da er sich den Respekt des Staates vor der Kirche und dem Kirchenasyl zunutze gemacht habe, um aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu vermeiden. Unklar sei auch der tatsächliche Aufenthalt des Antragstellers während der Zeit des Kirchenasyls. Zudem habe sich der Antragsteller in der Zeit vom 14.04.2020 bis 02.09.2020 nicht im Besitz einer gültigen Aufenthaltsgestattung befunden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte und der Ausländerakte der Antragsgegnerin Bezug genommen, die bei der Entscheidung vorgelegen haben.

II. Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 S. 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus.

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung derart, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG - Kommentar, 8. Auflage, § 86 b Rdnrn. 27 und 29 m. w. N.). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. zuletzt Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05).

Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 86 b Abs. 2 S. 4 SGG glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes (vgl. Meyer-Ladewig, a. a. O., Rdnrn. 16 b, 16 c, 40).

Hiervon ausgehend hat der Antragsteller bereits einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.

Der Antragsteller hat nach der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung keinen Anspruch auf Gewährung von Leistungen gemäß § 2 AsylbLG glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin gewährt dem Antragsteller zutreffend fortlaufend Grundleistungen gemäß § 3 AsylbLG.

Abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 AsylbLG ist gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

In objektiver Hinsicht setzt der Rechtsmissbrauch ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Der Ausländer soll danach von Analog-Leistungen ausgeschlossen sein, wenn die von § 2 AsylbLG vorgesehene Vergünstigung andernfalls auf gesetzwidrige oder sittenwidrige Weise erworben wäre. Der Ausländer darf sich also nicht auf einen Umstand berufen, den er selbst treuwidrig herbeigeführt hat. Dabei genügt angesichts des Sanktionscharakters des § 2 AsylbLG nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wiegen so schwer, dass auch der Pflichtverletzung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen muss. Daher führt nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), zum Ausschluss von Analog-Leistungen. Die Gesetzesbegründung führt insoweit beispielhaft die Vernichtung des Passes und Angabe einer falschen Identität (BT-Drucks 15/420, S 121) als typische Fallgestaltungen eines Rechtsmissbrauchs an. Zwischen dem Verhalten des Ausländers und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes bedarf es nach dem Gesetzeswortlaut zwar einer kausalen Verknüpfung. Allerdings zeigen bereits Gesetzeswortlaut ("Beeinflussung", nicht Verlängerung) und Gesetzesbegründung, die u.a. in ihrer beispielhaften Aufzählung die Vernichtung eines Passes nennt, dass eine typisierende, also generell-abstrakte Betrachtungsweise hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen dem vorwerfbaren Verhalten und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes ausreicht, also kein Kausalzusammenhang im eigentlichen Sinn erforderlich ist. Dies bedeutet, dass jedes von der Rechtsordnung missbilligte Verhalten, das - typisierend - der vom Gesetzgeber missbilligten Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes dienen kann, ausreichend ist, um die kausale Verbindung zu bejahen (vgl. zum Vorstehenden BSG, Urteil vom 17.06.2008, Az.: B 8/9b AY 1/07 R m.w.N.). Ob die Inanspruchnahme von Kirchenasyl ein rechtsmissbräuchliches Verhalten darstellt, ist zur Zeit in der Rechtsprechung umstritten (vgl. hierzu Bayerisches LSG, Urteil vom 28.05.2020, Az.: L 19 AY 38/18, LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27.04.2020, Az.: L 8 AY 20/19 B ER, LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 13.09.2020, Az.: L 9 AY 9/20 B ER, Hessisches LSG, Beschluss vom 04.06.2020, Az.: L 4 AY 5/20 B ER).

Im vorliegenden Fall hat der Antragsteller dadurch, dass er sich am 31.08.2018 ins Kirchenasyl der Evangelischen Kirchengemeinde H begeben hat, seine Aufenthaltsdauer rechtsmissbräuchlich verlängert. Der Antragsteller war durch den Bescheid des BAMF vom 27.03.2018 vollziehbar ausreisepflichtig; der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung war durch Beschluss des VG Düsseldorf vom 19.07.2018 abgelehnt worden. Durch die Inanspruchnahme des Kirchenasyls hat der Antragsteller durch eigenes Verhalten die für den 15.10.2018 geplante Überstellung nach Italien verhindert. Indem der Antragsteller sich in das Kirchenasyl begeben hat, hat er sich dem Zugriff der zuständigen Behörden zur Durchsetzung aufenthaltsbeendender Maßnahmen trotz bestehender Ausreisepflicht entzogen. Aufgrund seines Verbleibs im Kirchenasyl lief die sechsmonatige Überstellungsfrist für die Überstellung nach Italien zur Durchführung des Asylverfahrens ab, wodurch der Bescheid des BAMF vom 27.03.2018 aufgehoben wurde und nunmehr das Asylverfahren im nationalen Verfahren durchgeführt wird. Hätte der Antragsteller sich nicht ins Kirchenasyl begeben, hätte dessen im Einklang mit der Rechtsordnung stehende Überstellung nach Italien am 15.10.2018 stattfinden können, wo entsprechend der Dublin III-VO das Asylverfahren des Antragstellers hätte durchgeführt werden müssen. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass ein tatsächliches oder rechtliches Abschiebehindernis im Falle des Kirchenasyls nicht besteht, sondern die zuständigen Behörden aus Respekt vor den Kirchen auf die Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen verzichten. Denn durch die Inanspruchnahme von Kirchenasyl wird kein Aufenthaltsrecht des Antragstellers begründet; vielmehr macht er sich den staatlichen Respekt vor dem Kirchenasyl zunutze, um die Durchsetzung ausländerrechtlicher Maßnahmen im eigenen Interesse und entgegen der Rechtsordnung zu vermeiden. Dem Antragsteller war auch bewusst, dass er sich durch den Aufenthalt im Kirchenasyl einer Überstellung nach Italien entzog. Der Antragsteller hat sich gerade zur Erreichung dieses Ziels in das Kirchenasyl begeben und hat es auch erst wieder verlassen, als eine Überstellung nach Italien nicht mehr möglich war. Individuelle Gründe, aus denen dem Antragsteller eine Rückkehr nach Italien nicht zumutbar gewesen sein könnte, sind nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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