S 14 VE 16/11

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Magdeburg (SAN)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
14
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 14 VE 16/11
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 7 VE 6/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid des Beklagten vom 09.04.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.05.2011 wird aufgehoben und der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin unter Anerkennung einer stärker behindernden psychischen Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit als Schädigungsfolge eine Beschädigtenrente nach einem GdS von 30 ab dem 01.10.2007 zu gewähren.

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Die am ... 1985 geborene Klägerin wurde im Alter von 11 Jahren Opfer eines sexuellen Missbrauchs durch einen Verwandten. Der geständige Täter ist mit Berufungsurteil vom 08.10.2007 zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden. Im Rahmen des strafgerichtlichen Verfahrens wurde die Klägerin psychiatrisch begutachtet. Dr. A., Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des ( ...)klinikums, führt in seinem Gutachten vom 31.01.2006 u.a. aus, dass die Klägerin psychiatrische Erkrankungen in der Vorgeschichte nicht benennen könne. Sie befinde sich auch nicht in psychiatrischer Behandlung. Sie habe das Klassenziel der 7. Klasse dreimal nicht erreicht und die Schulausbildung nach der 7. Klasse beendet. Bei normaler Stimmungslage, die aus Sicht der Klägerin hin und wieder auch etwas subdepressiv sein könne, habe sie nicht über eine emotionale Instabilität, evtl. Selbstschädigungstendenzen, Aggressivität oder Fremdgefährdung berichtet. Erstkontakt zu Alkohol habe im 14. Lebensjahr bestanden. Aus ihrer Sicht würden keine Probleme mit dem Alkohol bestehen. Erstmalig im Alter von 15 - 16 Jahren habe sie zweimalig Cannabis konsumiert. Zusammenfassend sei festzustellen, dass sich keine relevanten psychiatrischen Diagnosen haben finden lassen, die generelle Zweifel an der Aussagetüchtigkeit der Klägerin aufkommen lassen könnten.

Die Klägerin stellte am 18.10.2007 einen Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Im Zuge des Verwaltungsverfahrens ließ der Beklagte eine versorgungsmedizinische Stellungnahme erstellen. In der Stellungnahme vom 17.03.2010 wurde ausgeführt, dass psychische Beeinträchtigungen bei der Klägerin nicht belegt seien. Es hätten sich weder Hinweise auf mögliche Brückensymptome noch auf psychische Gesundheitsstörungen gezeigt. Die Inanspruchnahme einer fachärztlichen psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung sei zu keinem Zeitpunkt erfolgt. Der Beklagte lehnte daraufhin den Antrag mit Bescheid vom 09.04.2010 ab. Die Klägerin sei zwar Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden. Es seien allerdings keine Gesundheitsstörungen feststellbar, die auf den sexuellen Missbrauch zurückzuführen seien. Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 10.05.2010 Widerspruch. Hierzu lag dem Beklagten die Epikrise vom 01.02.2011 der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des ( ...)klinikums über den stationären Aufenthalt vom 25.12. bis 31.12.2010 vor. Die Klägerin sei dort nach einem Suizidversuch durch Tablettenintoxikation im Rahmen einer Anpassungsstörung bei partnerschaftlichem Konflikt behandelt worden. Bei der Aufnahmesituation habe sich die Klägerin reduziert auskunftsbereit und reduziert kooperativ gezeigt. Sie sei dabei verbal aggressiv gewesen mit kindlich-forderndem Verhalten. Es habe keine Krankheitseinsicht und kein Krankheitsgefühl bestanden. Im Verlauf des stationären Aufenthaltes habe sie zunehmend Perspektivängste hinsichtlich der Partnerschaft geäußert. Hier sei eine ambulante Psychotherapie empfohlen worden. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18.05.2011 als unbegründet zurück. Einen Zusammenhang zwischen der psychiatrischen Behandlung Ende 2010 mit dem mehr als 14 Jahre zurückliegenden sexuellen Missbrauch sei nicht ersichtlich. Eine Anerkennung als Schädigungsfolge sei nicht möglich.

Dagegen hat die Klägerin am 20.06.2011 Klage erhoben. Sie leide seit dem sexuellen Missbrauch unter ständigen Angstzuständen und Panikattacken. Hieraus ergebe sich ein erheblicher Rückzug aus der Öffentlichkeit und von sämtlichen gesellschaftlichen Kontakten. Sie sei beziehungsunfähig und habe auch nur gelegentlich Beziehungen zu männlichen Personen. Diese brechen jedoch nach kurzer Zeit auseinander. Gelegentlich würden dann auch Suizidgedanken auftreten.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 09.04.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.05.2011 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin unter Anerkennung einer stärker behindernden psychischen Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit als Schädigungsfolge eine Beschädigtenrente nach einem GdS von 30 ab dem 01.10.2007 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er trägt weiterhin vor, dass nach seiner Auffassung keine Gesundheitsstörungen nachweisbar seien, die auf den sexuellen Missbrauch zurückzuführen seinen.

Im Klageverfahren sind zunächst Befundberichte beigezogen worden. Die Fachärztin für Nervenheilkunde, Dr. B., hat den Arztbrief vom 03.06.2013 übersandt. Hiernach habe sich die Klägerin bei ihr am 30.05.2013 erstmals vorgestellt. Sie habe über Schlafstörungen geklagt. Es sei ein depressives Symptom bei multiplen psychosozialen Belastungen und traumatisierender Vorgeschichte festzustellen. Der Hausarzt hat in seinem Befundbericht vom 02.09.2013 ausgeführt, dass er die Klägerin erstmalig am 08.06.2009 behandelt habe. Er habe psychosomatische Funktionsstörungen und eine reaktive depressive Psychose diagnostiziert. Darüber hinaus reichte er die Epikrise über die stationäre Behandlung der Klägerin vom 24.09. bis 28.09.2010 in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des ( ...)klinikums ein. Die Klägerin sei im Alter von 11 Jahren von einem Cousin sexuell missbraucht worden. Sie habe die "Bravo" gelesen und erst dann sei ihr bewusst geworden, dass dies verkehrt gewesen sei. Sie habe Angst davor gehabt, ihre Mutter glaube ihr nicht. Sie habe angegeben, dass sie schnell ausraste. Vor 6 Jahren habe sie sich einmal geritzt. Es bestehen ein tendenzieller sozialer Rückzug und eine posttraumatische Belastungsstörung.

Es ist dann ein medizinisches Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben worden. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Nervenheilkunde Dr. C. hat in seinem Gutachten vom 01.03.2015 ausgeführt, dass die Klägerin sogleich über den Missbrauch im Alter von 11 Jahren berichtet habe. An diesem Missbrauchserlebnis sei auch ihre Beziehung kaputt gegangen. Sie sei im Alter von 16 Jahren mit ihrem Freund zusammen gekommen. Erst mit 20 habe sie den Mut aufgebracht, über das Erlebte zu sprechen. Sie habe aber schon während der gesamten Beziehung Probleme gehabt, Sexualität mit ihrem Freund zu leben. Als ihr Freund sich sodann von ihr getrennt habe, habe sie einen Suizidversuch unternommen. Bis zu ihrem 14. Lebensjahr sei ihr eigentlich nicht klar gewesen, was da passiert sei. Sie habe zu dieser Zeit mit ihrer Mutter darüber reden wollen, jedoch das Gefühl gehabt, dass diese nicht mit ihr reden wollte. Dadurch sei sie frustriert und deprimiert gewesen, habe sich zunehmend zurückgezogen und es hätten sich Schulschwierigkeiten eingestellt. Sie könne sich nicht vorstellen, jemals ein befriedigendes Sexualleben zu haben. Die Vergewaltigung sei immer noch gegenwärtig durch häufige Alpträume, sowie eine ständige Angst und dem Gefühl einer inneren Alarmbereitschaft. Sie leide unter heftigen Gefühlsschwankungen und habe Phasen, in denen es ihr kaum möglich sei, dass Bett zu verlassen. Sie habe häufige Alpträume, in denen sich der Missbrauch wiederhole, aber auch andere Alpträume, die inhaltlich keine Verbindung zum Missbrauch erkennen ließen. Die Schule habe sie zunächst ohne Abschluss beendet. Dies gelte auch für die Berufsschule. 2005/2006 habe sie dann den Hauptschulabschluss nachgeholt und schließlich den Realschulabschluss. Die Klägerin habe ein komplexes psychopathologisches Bild gezeigt. Die geschilderten Symptome rechtfertigten die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der klinische Eindruck werde durch die Testpsychologie unterstützt, die eine hohe seelische Belastung anzeige, eine hohe Ängstlichkeit und ein allgemeines Misstrauen. Die Schulschwierigkeiten der Klägerin ab der 7. Klasse seien zu einem Zeitpunkt aufgetreten, zu der ihr emotional bewusst geworden sei, in welchem Sinne sie traumatisiert worden sei. Trotz einer durchschnittlichen Intelligenz sei es ihr zunächst nicht gelungen, einen adäquaten Schulabschluss zu erreichen. Die Beziehungen der Klägerin seien instabil, häufig missbräuchlich und eine befriedigende Sexualität finde nicht statt. Das soziale Umfeld der Klägerin wirke insgesamt verarmt. Es entstehe der Eindruck, dass die Probleme der Klägerin mit Beginn der Adoleszenz aufgetreten seien. In diesem Zusammenhang waren auch Drogenkonsum, Selbstverletzungen und Suizidalität zu nennen. Neben der Traumatisierung durch den sexuellen Übergriff habe sich auch eine frühere Traumatisierung i.S. eines Bindungstraumas gezeigt. Die Klägerin sei offensichtlich ein ungewolltes Kind gewesen. Es bestehe eine gestörte Mutter-Tochter-Beziehung. Diese früh gestörte Mutter-Tochter-Beziehung mag auch einen Anteil daran haben, dass die spätere sexuelle Traumatisierung von der Klägerin nicht verarbeitet werden konnte, was schließlich zu den sexuellen Problemen geführt habe. Die Vergewaltigung stelle aber keine Gelegenheitsursache dar, sondern sei eine spezifische Ursache für ein spezifisches Krankheitsbild, für das die Vulnerabilität durch die frühe Bindungsstörung jedoch vergrößert gewesen sei. Die posttraumatische Belastungsstörung sei ein direkter Ausdruck des sexuellen Missbrauchs von 1996. Die Schilderungen der Klägerin im Zusammenschau mit den Symptombeschreibungen lassen einen weitestgehenden gleichbleibenden Gesundheitszustand mit allerdings deutlichen kurzfristigen Fluktuation seit dem 14./15. Lebensjahr vermuten. Es bestehe eine stärker beeinträchtigende Störung mit einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit sowohl im beruflichen Alltag als auch im beruflichen Umfeld. Es sei ein Grad der Schädigung von 30 festzustellen.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 09.04.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.05.2011 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem OEG.

Wer nach § 1 Abs. 1 Satz 1 des OEG im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug in Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitlichen Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Nach § 31 Abs. 1 i.V.m. § 30 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erhalten Beschädigte eine monatliche Grundrente bei einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mindestens 25. Der GdS ist nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wurde nach § 31 Abs. 17 BVG ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung und mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des GdS im Sinne des § 31 Abs. 1 maßgebend sind, sowie die für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach § 1 Abs. 3 maßgebenden Grundsätze und die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 aufzustellen und das Verfahren für deren Ermittlung und Fortentwicklung zu regeln. In Anwendung dieser Ermächtigungsnorm wurde die Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung) mit Wirkung zum 01. 01. 2009 erlassen. Nach § 1 der Versorgungsmedizin-Verordnung regelt die Verordnung die Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des GdS. Maßgeblich ist hierbei insbesondere die Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze").

Die Klägerin ist unstreitig Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S.v. § 1 Abs. 1 OEG geworden, als sie im Alter von 11 Jahren sexuell missbraucht worden ist. In Folge dieses sexuellen Missbrauchs kam es bei der Klägerin zu einer stärker behindernden Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit als Folge eines psychischen Traumas, welches mit einem GdS von 30 zu bewerten ist.

Grundsätzlich müssen in allen Zweigen des sozialen Entschädigungsrechts die anspruchsbegründenden Tatsachen nachgewiesen, dh ohne vernünftige Zweifel oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen sein, soweit nichts anderes bestimmt ist (stRspr des Bundessozialgerichts; Urteil des BSG vom 15.12.1999, Az: B 9 VS 2/98 R, Breith 2000, S. 390 f. zum SVG; Urteil des BSG vom 31.05.1989, Az: 9 RVg 3/89, BSGE 65, S. 123 f zum OEG; Urteil des BSG vom 12.12.1995, Az: 9 RV 14/95, BSGE 77, S. 151 zur Kriegsopferversorgung; Urteil des BSG vom 19.03.1986, Az: 9a RVi 2/84, BSGE 60, S. 58 f zum Impfschadensrecht). Es müssen sich - mit dem jeweils maßgeblichen Beweisgrad - zumindest drei Tatsachenkomplexe oder Glieder der Kausalkette sowie zwei dazwischen liegende Kausalzusammenhänge feststellen lassen. Der erste Komplex ist die geschützte Tätigkeit. Infolge dieser Verrichtung muss ein schädigendes Ereignis eine gesundheitliche Schädigung hervorgerufen haben. Aufgrund dieser Schädigung muss es dann zu der in GdS (MdE)-Graden zu bewertenden Schädigungsfolge gekommen sein. Das "schädigende Ereignis" wird üblicherweise als weiteres selbständiges Glied der Kausalkette zwischen geschützter Tätigkeit und Primärschaden angesehen. Auch dieses bedarf grundsätzlich des Vollbeweises. Die haftungsbegründende Kausalität betrifft die Frage, ob das schädigende Ereignis den Eintritt des Primär- oder Erstschadens wesentlich verursacht hat. Denn ein Vorgang, der keinen Körperschaden ausgelöst hat, führt nicht zur "Haftung". Erst nach dem Eintritt des Primärschadens setzt die haftungsausfüllende Kausalität ein (Urteil des Bundessozialgerichts vom 15.12.1999 a.a.O.). Für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs, jedenfalls desjenigen zwischen Schädigung und Schädigungsfolge (sog "haftungsausfüllende Kausalität") der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit (Urteil des Bundessozialgerichts vom 15.12.1999 a.a.O.). Wahrscheinlichkeit in diesem Sinn ist dann gegeben, wenn nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (Urteil des Bundessozialgerichts vom 8.8.2001, B 9 V 23/01 B, Breithaupt 2001, 967-970). Grundsätzlich gilt auch für das Rechtsgebiet der sozialen Entschädigung das allgemeine Problem, dass für Krankheiten – anders als für Verletzungen – kaum je überzeugend festgestellt werden kann, dass der nach den einschlägigen Gesetzen entschädigungspflichtige Vorgang die entscheidende medizinisch wirkende Ursache war. Veranlagung, Umwelteinflüsse, Lebensführung, andere Vorgänge im Lebenslauf des Geschädigten sind als mehr oder minder stark wirkende Mitursachen praktisch immer festzustellen, nicht aber sachgerecht zu gewichten. Das gilt insbesondere für seelische Krankheiten, die nicht auf Nervenverletzungen, sondern auf seelischen Einwirkungen beruhen. In solchen Fällen hat das Bundessozialgericht wiederholt darauf hingewiesen, dass medizinische Gutachten im Einzelfall regelmäßig nichts Überzeugendes zur Ursachenfrage aussagen können. Von einem Ursachenzusammenhang zwischen einer bestimmten Belastung und einer bestimmten Krankheit kann im sozialen Entschädigungsrecht nur dann gesprochen werden, wenn feststeht, dass Belastungen dieser Art allgemein geeignet sind, Krankheiten dieser Art hervorzurufen. Wird eine solche Meinung in der medizinischen Wissenschaft überhaupt nicht vertreten, ist der Anspruch ohne weitere Beweiserhebung abzulehnen. Wird eine solche Ansicht wenigstens von einer wissenschaftlichen Lehrmeinung vertreten, so herrscht in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit über die Ursache des Leidens. Dann kommt nur eine sogenannte "Kann-Versorgung" in Betracht. Erst wenn die herrschende Lehrmeinung in der medizinischen Wissenschaft die Belastung allgemein für geeignet hält, bestimmte Krankheiten hervorzurufen, kann ein Ursachenzusammenhang im Einzelfall ernstlich in Betracht gezogen werden. Da man den tatsächlichen Wirkungszusammenhang zwischen Belastung und Krankheit im Allgemeinen nicht kennt und andere Ursachen nie auszuschließen sind, ist die Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs schon dann anzunehmen, wenn nach dem Erfahrungswissen der Ärzte die Gefahr des Ausbruchs der betreffenden Krankheit nach den betreffenden Belastungen deutlich erhöht ist. Wenn bei entschädigungspflichtigen Vorgängen bestimmter Art und bestimmten Ausmaßes für die davon Betroffenen die Gefahr bestimmter Erkrankungen gegenüber den Nichtbetroffenen besonders deutlich erhöht wird, liegt auch schon die Wahrscheinlichkeit nahe, dass der im Einzelfall von der Gefahr betroffene Kranke dieser Gefahr tatsächlich erlegen ist. Im sozialen Entschädigungsrecht kann hierbei grundsätzlich auf die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht bzw. der zwischenzeitlich in Kraft getretenen Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizinverordnung zurückgegriffen werden (siehe zu der Frage der Kausalität bei seelischen Krankheiten, Urteil des Bundessozialgerichts vom 18.10.1995, AZ: 9/9 a RVg 4/92, zitiert nach Juris).

Die Kammer folgt diesbezüglich nach kritischer Würdigung den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. C. in seinem Gutachten vom 01.03.2015. Er führt dort überzeugend aus, dass es infolge des sexuellen Missbrauchs zu einer posttraumatischen Belastungsstörung bei der Klägerin gekommen ist. Die Klägerin weist diesbezüglich die klinischen Kernsymptome wie Albträume und das Vermeiden spezifischer Situationen auf. Darüber hinaus sind Begleitsymptome wie Leistungsknick in der Schule, Drogenkonsum in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem Missbrauch aufgetreten und spätere biografische Ereignisse wie der Suizidversuch hingen mit dem Wiedersehen des Täters zusammen. Die Diagnose ist auch testpsychologisch unterstützend nachgewiesen worden. Hierbei hat sich eine hohe seelische Belastung gezeigt mit einer hohen Ängstlichkeit und einem allgemeinen Misstrauen. Auffallend ist ebenfalls, dass die Klägerin trotz einer durchschnittlichen Intelligenz nicht in der Lage gewesen ist, zunächst einen adäquaten Schulabschluss zu erreichen. Die Klägerin hat erhebliche Probleme, stabile Beziehungen aufzubauen. Ihr soziales Umfeld ist insgesamt verarmt. Der Sachverständige hat hierzu überzeugend ausgeführt, dass diese psychischen Probleme der Klägerin überwiegend auf den sexuellen Missbrauch zurückzuführen sind. Als der Klägerin im Alter von 14/15 Jahren klar geworden ist, welchen sexuellen Charakter die Traumatisierung gehabt hat, kam es zu einem deutlichen Bruch in der Biografie. Es kam in diesem Zeitraum zu Verhaltensauffälligkeiten mit Alkoholkonsum und dem Konsum illegaler Drogen sowie einem erheblichen Leistungsabfall in der Schule. Der Sachverständige legt darüber hinaus nachvollziehbar dar, dass bei der Klägerin eine gestörte Mutter-Tochter-Beziehung gegeben ist. Diese hat zwar die Vulnerabilität der Klägerin gegenüber den Folgen des sexuellen Missbrauchs erhöht, tritt aber bei der Bewertung der Verursachungsbeiträge hinter diesen sexuellen Missbrauch zurück. Der Sachverständige hat hierzu überzeugend dargelegt, dass es sich bei dem sexuellen Missbrauch gerade nicht nur um eine "Gelegenheitsursache" gehandelt hat. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass der Betroffene durch die Rechtsordnung in dem Gesundheitszustand geschützt ist, in dem er sich bei Eintritt des schädigenden Ereignisses befunden hat (Urteil des BSG vom 22.08.1983, - 2 RU 22/81, juris). Insoweit tritt bei Abwägung dieser konkurrierenden Ursachen die gestörte Mutter-Tochter-Beziehung hinter den sexuellen Missbrauch zurück. Soweit der Beklagte darauf abstellt, dass keine Brückensymptome und auch keine psychiatrischen Auffälligkeiten dokumentiert sind, so weist der Sachverständige zutreffend darauf hin, dass insbesondere der Leistungsabfall in der Schule bei durchschnittlicher Intelligenz als auffällig anzusehen ist. Darüber hinaus waren bei der Begutachtung deutliche Dissimulierungstendenzen bei der Klägerin zu erkennen. In Anbetracht der beschriebenen psychischen Einschränkungen bei der Klägerin ist die Bewertung der Schädigungsfolgen mit einem GdS von 30 überzeugend. Da die psychischen Beeinträchtigungen bereits seit dem 14./15. Lebensjahr bestehen, besteht eine Leistungspflicht des Beklagten ab dem Monat der Antragstellung.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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