L 7 SB 36/14

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
7
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 32 SB 367/10
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 7 SB 36/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin das Merkzeichen "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) bzw. ab dem 1. Januar 2013 die Ermäßigung von der Rundfunkbeitragspflicht zuzuerkennen ist.

Auf einen Erstfeststellungantrag der Klägerin vom 31. Januar 1997 stellte der Beklagte wegen einer Epilepsie, eine Herzleistungsminderung, einer Wirbelsäulenbeeinträchtigung, eines Diabetes mellitus, einer Gicht sowie einer seelischen Gesundheitsstörung einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie die Merkzeichen "G" (Erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) fest.

Auf einen Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 30. September 1998 zur Erlangung des Merkzeichens "RF" nahm der Beklagte nach medizinischen Ermittlungen, die statt einer Epilepsie ein psychogenes Anfallsleiden bestätigt hatten, eine Herabsetzung des GdB auf 50 sowie die Entziehung der anerkannten Merkzeichen vor. Die Voraussetzungen des der Klägerin begehrten Merkzeichens "RF" seien nicht gegeben. Der dagegen gerichtete Widerspruch der Klägerin wurde vom Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 2000 zurückgewiesen. Die anschließende Klage vor dem Sozialgericht Halle (S 1 SB 63/00) war teilweise erfolgreich. Unter Aufhebung der Bescheide wurde zu Gunsten der Klägerin ein Gesamt-GdB von 60 festgestellt. Auf einen weiteren Neufeststellungsantrag vom 20. August 2001, den die Klägerin mit einer aufgetretenen Schwerhörigkeit/Taubheit begründet hatte, hob der Beklagte mit Bescheid vom 30. November 2001 die entgegenstehenden Bescheide auf, stellte einen Gesamt-GdB von 80 sowie die Merkzeichen "G" und "B" fest. Mit weiterem Bescheid vom 6. Dezember 2001 hob der Beklagte diesen Bescheid wieder auf und stellte mit Wirkung ab dem 20. August 2001 einen GdB von 90 fest.

Am 21 Januar 2002 beantragte die Klägerin erneut die Feststellung des Merkzeichens "RF" und begründete dies mit einem Herzinfarkt sowie einer Gesichtsfeldeinschränkung. Nach medizinischen Ermittlungen des Beklagten wurde dieser Antrag abgelehnt (Bescheid vom 6. Juni 2003). Ein weiter Neufeststellungsantrages vom 25. April 2005, der wiederum auf das Merkzeichen "RF" gerichtet war, wurde vom Beklagten abgelehnt (Bescheid vom 22. November 2005). Ein erneuter Neufeststellungsantrag vom 27. Januar 2006 blieb ebenfalls erfolglos (Bescheid vom 15. Juni 2006). Der dagegen gerichtete Widerspruch der Klägerin wurde vom Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 4. Dezember 2006 zurückgewiesen.

Am 16. November 2009 beantragte die Klägerin abermals die Feststellung des Merkzeichens "RF" und gab zur Begründung an: Sie habe starke Schmerzen und könne nur noch wenige Schritte gehen. Seit Jahren nehme sie an öffentlichen Veranstaltungen sowie an Familienfeierlichkeiten nicht mehr teil. Sie könne den Urin kaum halten und benötige jeweils in unmittelbarer Nähe ein WC. Bei Anwesenheit mehrerer Personen bekomme sie Angstzustände. Der Beklagte holte einen Befundbericht von Dipl.-Med. H. vom 17. Januar 2010 ein, der angab: Die Klägerin leide nach einem Herzinfarkt an einer Herzinsuffizienz Stadium IV NYHA. Bereits nach 3 bis 4 Schritten trete bei ihr eine Belastungsluftnot auf. Die Klägerin verlasse dabei ihr Haus nicht mehr. Daneben bestünde ein ausgeprägtes depressives Syndrom, ein Diabetes mellitus sowie eine diabetische Retinopathie. Nach Angaben der Klägerin bestehe eine Harninkontinenz, die den Gebrauch von Vorlagen erfordere. Diese Erkrankung sei auch der Grund dafür, warum sie sich sozial zurückgezogen habe. Die Versorgungsärztin Dr. K. hielt einen Gesamt-GdB von 70 für angemessen, jedoch die Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" für nicht gegeben. Mit Bescheid vom 11. Juni 2010 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Hiergegen richtete sich der Widerspruch vom 25. Juni 2010, mit dem die Klägerin ausführte: Sie könne ihr Haus nicht mehr verlassen. Neben einem schweren Herzleiden leide sie unter psychogenen Anfällen mit Bewusstlosigkeit. Der Beklagte holte einen Befundschein der Fachärztin für HNO Dr. R. vom 13. Juli 2010 ein. Hiernach bestehe bei der Klägerin eine Schallempfindungsschwerhörigkeit beidseits. Eine Hörgeräteversorgung habe sie 2001 abgebrochen. Dipl.-Med. H. berichtete unter dem 8. September 2010 über einen fast vollständigen sozialen Rückzug der Klägerin wegen Ängsten und psychogener Anfälle. Aus seiner Sicht sei die ihr noch mögliche Gehstrecke auf unter 10 m gesunken. Die Klägerin benötige beim Verlassen der Wohnung sowie alltäglichen Arbeiten Hilfe durch Dritte. Aufgrund der psychischen Erkrankung, der Schmerzproblematik, der Visusminderung sowie der Harninkontinenz sei eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nicht mehr möglich.

Der Versorgungsgutachter des Beklagten Dr. W. führte hierzu unter dem 20. Oktober 2010 aus: Die Hörminderung der Klägerin könne nicht abschließend bewertet werden. Die Vergabe des Merkzeichens "RF" sei nicht zu empfehlen. Dem folgend wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. November 2010 zurück. Hiergegen hat die Klägerin, nunmehr anwaltlich vertreten, am 1. Dezember 2010 Klage beim Sozialgericht Halle (SG) erhoben und ihr Begehren auf Feststellung des Merkzeichens "RF" weiterverfolgt. Aufgrund der erheblichen Wesensänderung verlasse sie die Wohnung nicht mehr und habe ihre sozialen Kontakte auf ihren Ehemann beschränkt.

Das SG hat Befundberichte von Dipl.-Med. H. vom 12. März 2012 eingeholt, die von der Klägerin geklagten Beschwerden wie folgt zusammen fasste: Angina pectoris, Herzrasen, Belastungsluftnot, Schwindel, Lebensmüdigkeit, Visusminderung, Stressinkontinenz, Leibschmerzen, rezidivierende Durchfälle und Sodbrennen. Die Gehstrecke mit Unterarmstützen liege bei unter 10 Metern. Die Klägerin benötige vier bis sechs Inkontinenzeinlagen täglich.

Der Beklagte hat diesen Befundbericht sowie die beigefügten Arztbriefe auswerten lassen. Die Versorgungsgutachterin Dr. W. hat hierzu am 9. Mai 2012 ausgeführt: Hinweise für eine chronische Darmentzündung oder eine schwere Herzinsuffizienz lägen nicht vor. Gravierende Seh- oder Hörstörungen seien von dem behandelnden Arzt nicht bestätigt worden. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" seien nicht erfüllt.

Das SG hat ein Sachverständigengutachten von Prof. Dr. P. (Universitätsklinikum L., Abteilung Kardiologie/Angiologie) vom 18. Mai 2013 (Untersuchung vom 17. Mai 2013) eingeholt. Die Klägerin habe in ihrer Befragung angegeben: Sie sei nur noch bis zu 100 m gehfähig und müsse hierfür einen Stock, zuhause einen Rollator benutzen. Manchmal reduziere sich die Gehleistung auf lediglich 10 m. In ihrem Haus sei ein Treppenlift eingebaut worden, damit sie die obere Etage erreichen könne. Die Klägerin sei adipös (Körpergröße: 156 cm; Gewicht: 80 kg). Seit März 2004 sei bei ihr die Pflegestufe I anerkannt. Sie sei in einem deutlich eingeschränkten allgemeinen Kräftezustand und wirke in der Bewegung sehr schwerfällig und verlangsamt. In Ruhe sei kein Nachweis einer kardiopulmonalen Dekompensation zu erkennen. Die koronare Herzerkrankung mit Dreigefäßbefall sowie fünffach Bypass-Operation (2012) sei mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Zudem bestehe ein komplettes metabolisches Syndrom. Der Diabetes habe zu einer Polyneuropathie, einer damit verbundenen Urininkontinenz und einer intermittierenden Stuhlinkontinenz sowie einer diabetischen Nephropathie geführt. Hinzu kämen degenerative Veränderungen an der Brust- und Halswirbelsäule sowie eine ausgeprägte Kniegelenksarthrose und eine psychosomatische Gesundheitsstörung. Die Klägerin vermittle subjektiv den Eindruck einer Schwerstkranken mit einer weitgehenden Belastungs- und Bewegungsunfähigkeit. Hierbei falle jedoch auf, dass die objektiven funktionsdiagnostischen Befunde weniger eindrucksvoll seien, als dies das Beschwerdebild erwarten lasse. Neben den unbestrittenen organischen Störungen bestehe eine deutliche Somatisierungsstörung. Der Sachverständige habe der Klägerin angeraten, sich in diesem Punkt für eine Behandlung zu öffnen, was von ihr aber anscheinend nicht akzeptiert werde. Die Klägerin könne sicher nicht mehr an öffentlichen kulturellen Veranstaltungen teilnehmen.

Der Beklagte hat eine prüfärztliche Stellungnahme der Versorgungsärztin Sch. vom 14. Juni 2013 vorgelegt. Hiernach sei die psychische Störung unter Berücksichtigung des Langzeitverlaufs mit einem Einzel-GdB von 70 großzügig bewertet. Für das Herz-Kreislauf-Leiden sei in der Gesamtschau ab Mai 2013 ein Einzel-GdB von 40 angemessen. Die Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule sei wegen der kaum objektivierbaren Befunde schwer einzuschätzen. Gleiches gelte für die Schwerhörigkeit. Die Klägerin habe eine Hörgeräteversorgung abgelehnt. Zudem sei dem Sachverständigen offenbar kein akustisches Handicap aufgefallen. Der Diabetes mellitus sei mit einem Einzel-GdB von 20 bis höchstens 30 einzuschätzen. Die Harnkontinenz rechtfertige einen Einzel-GdB von 20 und die Darmerkrankung einen Einzel-GdB von 10. Nach den bekannten Visuswerten sowie der Kunstlinsenversorgung der Klägerin sei für die Augen ein Einzel-GdB von 10 festzulegen. Der Gesamt-GdB von 90 sowie die Merkzeichen "G" und "B" seien daher zusammenfassend vertretbar. Dagegen könne der Empfehlung des Sachverständigen, das Merkzeichen RF zu vergeben, nicht gefolgt werden.

In einer ergänzenden Stellungnahme hat der Sachverständige unter dem 12. Juli 2013 ausgeführt: Wegen der genannten Erkrankungen sei es für die Klägerin schwierig, eine geeignete kulturelle Veranstaltung zu finden. Es müsse sich um eine Veranstaltung in unmittelbarer Wohnortnähe handeln, die nur von einer kleinen Teilnehmerzahl besucht werde und im Übrigen behindertengerecht erreicht werden könne. Diese Voraussetzungen dürften nur bei wenigen kulturellen Veranstaltungen vorliegen. Ein vollständiger Ausschluss der Teilnahme der Klägerin an derartigen Veranstaltungen sei jedoch nicht zu bestätigen.

Mit Urteil vom 20. Februar 2014 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Klägerin sei nicht in einem Maße sehbehindert, dass die Vergabe eines für das Merkzeichen "RF" erforderlichen Einzel-GdB für das Funktionssystem Auge gerechtfertigt sei. Auch eine erhebliche Hörbehinderung liege nicht vor. Die Klägerin sei schwerhörig, jedoch nicht in einem Umfang, der eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ausschließe. Die Klägerin habe aufgrund ihrer Behinderungen erhebliche Einschränkungen, die ihre Mobilität einschränkten. Ausgeschlossen sei der Besuch kultureller Veranstaltungen unter Teilnahme helfender Personen jedoch nicht. Auch die Stuhl- und Urininkontinenz schließe die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht aus, weil ein Einsatz von Inkontinenzeinlagen möglich sei. Überdies gebe es Anhaltspunkte dafür, dass sich die Klägerin in ihrer Erkrankung "eingerichtet" habe. Nach Einschätzung des Sachverständigen bestehe zwischen den objektiv festgestellten Erkrankungen und den subjektiven Beschwerdeschilderungen eine deutliche Diskrepanz. Entgegen der Annahme des Sachverständigen sei es der Klägerin nicht unmöglich, an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen. Die Fixierung auf ihre Erkrankung hindere sie nicht objektiv daran, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Auch die Sturzgefährdung schließe eine Teilnahme an derartigen Veranstaltungen nicht aus. Die allgemein zunehmende Barrierefreiheit ermöglichte behinderten Menschen häufigere Teilnahmen an öffentlichen Veranstaltungen.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 28. April 2014 zugestellte Urteil am 12. Mai 2014 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt und zur Begründung ausgeführt: Nach der überzeugenden Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. P. sei ihre Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen nahezu ausgeschlossen. Das SG hätte sich zu weiterer Aufklärung gedrängt sehen müssen, da die Beweisfrage nicht korrekt formuliert worden sei. Sie sei auf die Nutzung eines Rollators angewiesen und könne keine Treppen laufen. Weiterhin bestehe eine permanente Urin- und eine intermittierende Stuhlinkontinenz. Zudem lägen eine Sturzgefährdung sowie Angstzustände vor, die sie daran hindern, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Sie sei daher an ihre Wohnung "gefesselt".

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 20. Februar 2014 sowie den Bescheid des Beklagten vom 11. Juni 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. November 2010 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, bei ihr ab dem 16. November 2009 das Merkzeichen "RF" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält auch nach medizinischer Sachaufklärung die Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" nicht für gegeben.

Der Senat hat Befundberichte vom Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. K. sowie dem Facharzt für Innere Medizin Dr. O. (L.) eingeholt. Dr. O. hat unter dem 11. August 2014 angegeben: Aufgrund des natürlichen Alterungsvorganges habe sich der Gesundheitszustand der Klägerin kontinuierlich und ab 2012 erheblich verschlechtert. Wegen des Verhaltens der Klägerin im Wartezimmer und der Praxis sei nicht davon auszugehen, dass sie nicht mehr an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könne. Die Klägerin habe die Praxis ohne Rollstuhl aufgesucht und habe die sechs Stufen ggf. mit Hilfe des Ehemannes bewältigt. In der Praxis selbst habe sie sich freihändig ohne Hilfe bewegen können. Die Praxis habe sie mit dem vom Ehemann gefahrenen Pkw aufgesucht. In einem beigefügten Arztbrief der Zentralklinik B. B. vom 8. August 2013 berichtete Konsiliararzt Dr. W. über einen prästationären Aufenthalt der Klägerin vom 7. August 2013. Hiernach habe die Klägerin über einen ausgedehnten Druckschmerz berichtet, "als würde der Kopf zerspringen". Seit einem halben Jahr leide sie an einem Drehschwindel in Ruhe und Bewegung. Vegetativ bestehe eine beginnende Harninkontinenz sowie eine Obstipation. Die Bewegungen seien altersentsprechend regelgerecht. In einem weiteren Bericht der Klinik für Kardiologie der Zentralklinik B. B. berichtete Dr. S. unter dem 22. April 2014 über eine prästationäre Behandlung vom selben Tag. Aktuell bereite der Klägerin das Laufen in der Ebene nach 5 bis 10 Metern deutliche Atemnot (NYHA III). Es bestünden ständige Kopfschmerzen, ein geringer Schwindel, große Unsicherheit auf den Beinen, jedoch keine Bewusstlosigkeit. Eine invasive Koronardiagnostik habe die Klägerin trotz hohen subjektiven Leidensdrucks abgelehnt. Dr. K. hat in seinem Befundbericht unter dem 12. Februar 2015 angegeben: Die von ihm zuletzt am 22. Januar 2015 behandelte Klägerin könne allenfalls in ganz begrenztem Umfang an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen, wobei sie dafür einen Rollstuhl benötigte. Die Klägerin nutze den Rollstuhl zeitweilig und besuche die ebenerdige Praxis mit Hilfe von Gehhilfen.

Nach dem beigezogenen Pflegeheft gewährte die ... Pflegekasse der Klägerin ab 1. März 2004 Leistungen nach der Pflegestufe I. Ein Höherstufungsantrag der Klägerin von April 2005 blieb erfolglos.

Die Klägerin hat ergänzend ausgeführt: Sie könne die Bewertung von Dr. O. nicht nachvollziehen. Richtig sei, dass sie bis April 2014 in der Praxis von Dr. O. Termine wahrgenommen habe. Wegen der dort befindlichen Treppenstufen habe sie keine Hilfsmittel einsetzen können und habe seit April 2014 die Behandlung wegen dieser Erschwernisse auch abgebrochen. Der bereits 74-jährige Ehemann könne die für sie notwendigen Hilfeleistungen kaum noch erbringen. Er werde zukünftig nicht mehr in der Lage sein, ein Kraftfahrzeug zu führen und die Klägerin damit zu unterstützen.

Am 14. November 2014 hat der Berichterstatter in einem ausführlichen Hinweis die Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" dargelegt und auf die geringe Erfolgsaussicht der Berufung hingewiesen.

Die Klägerin hat an ihrer Berufung festgehalten und ergänzend vorgetragen: Wegen der schweren Inkontinenz sei sie außer Stande, dass Haus zu verlassen. Überdies habe sie nur noch zwei Zähne im Mund, die nunmehr auch gezogen werden müssten. Aktuell könne sie keine Zahnprothese mehr tragen. Sie habe daher wegen der fehlenden Zähne den Eindruck, von allen angestarrt zu werden, was für sie psychisch unerträglich sei.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Pflegeakte haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG), hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Beteiligten streiten um das Merkzeichen "RF" ab dem 16. November 2009. Die Berufung ist unbegründet, da der Klägerin kein Anspruch auf die Feststellung der Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht bzw. ab dem 1. Januar 2013 für die Ermäßigung von der Rundfunkbeitragspflicht für den Nachteilsausgleich "RF" zusteht (vgl. § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen [SGB IX] in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Nr. 5 der Schwerbehindertenverordnung). Danach ist das Merkzeichen "RF" im Schwerbehindertenausweis auf der Rückseite einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt. In § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 und 8 sowie Abs. 3 des Rundfunkstaatsvertrages vom 31. August 1991 in der Fassung des Art. 5 Nr. 6 des Achten Staatsvertrages zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 8. bis 15. Oktober 2004 in Verbindung mit dem Gesetz zu dem Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrag Sachsen-Anhalt vom 9. März 2005 (GVBl. LSA 2005, 122) sind die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht ab 1. April 2005 geregelt. Seit dem 1. Januar 2013 gilt § 4 Abs. 2 Satz 1 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages vom 15. Dezember 2010, dieser verkündet als Art. 1 des Fünfzehnten Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (Fünfzehnter Rundfunkänderungsstaatsvertrag) vom 15. Dezember 2010, bekannt gemacht als Anlage zum Vierten Medienrechtsänderungsgesetz vom 12. Dezember 2011 (GVBL. LSA S. 824). Nach § 4 Abs. 2 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages tritt keine vollständige Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht mehr ein, sondern nur noch eine Ermäßigung auf ein Drittel.

Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags in der Fassung des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrags und dem insoweit wortgleichen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages tritt eine Befreiung bzw. Reduzierung der Rundfunkgebührenpflicht für folgenden Personenkreis ein:

Blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von 60 vom Hundert allein wegen der Sehbehinderung,

hörgeschädigte Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist, und

behinderte Menschen, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.

Die Voraussetzungen von Nr. 1 und Nr. 2 erfüllt die Klägerin bereits nach der vorliegenden ärztlichen Befundgrundlage und den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. P. sowie den Stellungnahmen der Versorgungsärzte des Beklagten nicht. Seh- und Hörstörungen in erheblichem Umfang sind ärztlich weder dokumentiert noch von der Klägerin glaubhaft behauptet worden.

Auch die Voraussetzungen von Nr. 3 sind nicht gegeben. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind als öffentliche Veranstaltungen im Sinne von Nr. 3 Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu verstehen, die länger als 30 Minuten dauern (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 1997, 9 RVs 2/96; Urteil vom 10. August 1993, 9/9a RVs 7/91; Urteil vom 17. März 1982, 9a/9 RVs 6/81, jeweils juris). Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen ist nur dann gegeben, wenn der schwerbehinderte Mensch wegen seines Leidens ständig, d.h. allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist.

Nach dem Ergebnis des vom SG eingeholten Sachverständigengutachtens und den vom Senat eingeholten Befundberichten von Dr. O. und Dr. K. ist der Sachverhalt zur Überzeugung des Senats umfassend in dem Sinne aufgeklärt, dass die medizinischen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" nicht vorliegen. Bei der Klägerin ein GdB von 90 festgestellt und es wurden die Merkzeichen "G" und "B" zuerkannt. Es bestehen jedoch keine Leiden im Sinne des § 6 Absatz 1 Satz 1 Nr. 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrages bzw. des § 4 Absatz 2 Nr. 3 des Rundfunkbeitragstaatsvertrages, die sie ständig daran hindern, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Ihre gesundheitlichen Einschränkungen machen es ihr und ihren Begleitpersonen zweifelsohne aufwändig und beschwerlich, öffentliche Veranstaltung zu besuchen. Ausgeschlossen ist eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen damit jedoch noch nicht. Entscheidend für die Vergabe des Merkzeichens "RF" ist, dass der behinderte Mensch faktisch an das Haus "gebunden" ist. Mögliche bauliche Behinderungen (z.B. nicht behindertengerechte Zugänge) haben dabei unberücksichtigt zu bleiben (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. September 2013, L 4 SB 41/10, zitiert nach juris). Eine derart schwerwiegende Einschränkung der Mobilität liegt bei der Klägerin nicht vor. So konnte sie mit Hilfe ihres Ehemannes den Sachverständigen Prof. Dr. P. im Universitätsklinikum L. und auch ihre behandelnden Ärzte Dr. O. und Dr. K. aufsuchen. Damit liegt bei ihr gerade noch kein Fall vor, der den Behinderten erkrankungsbedingt faktisch an das Haus "fesselt". Auch die unzureichende Zahnversorgung der Klägerin und die aktuell offenbar nicht einsetzbare Zahnprothese mögen psychisch für sie belastet sein. Sie stellen jedoch keine objektivierbaren Umstände dar, die es der Klägerin unmöglich machen, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.

Auch in sonstiger Hinsicht liegen keine Umstände vor, die die Klägerin von einer öffentlichen Veranstaltung dauerhaft ausschließen. Ein schwerbehinderter Mensch ist von öffentlichen Veranstaltungen dann ständig ausgeschlossen, wenn ihm deren Besuch mit Rücksicht auf die Störung anderer Anwesender nicht zugemutet werden kann (BSG, Urteil vom 23. Februar 1987, 9 a RVs 72/85, zitiert nach juris). Das ist immer dann der Fall, wenn es den anderen Teilnehmern an öffentlichen Veranstaltungen unzumutbar ist, behinderte Menschen wegen Auswirkungen ihrer Behinderungen zu ertragen, insbesondere, wenn diese durch ihre Behinderungen auf ihre Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend wirken, z.B. durch Entstellung, Geruchsbelästigung bei unzureichend verschließbarem Anus praeter, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf- und Gliedmaßenbewegungen bei Spastikern, laute Atemgeräusche, wie sie etwa bei Asthmaanfällen und nach Tracheotomie vorkommen können, oder bei ekelerregenden oder ansteckenden Krankheiten (vgl. BSG, Urteil vom 10. August 1993, 9/9a RVs 7/91, zitiert nach juris). In seinem Urteil vom 9. August 1995 (9 RVs 3/95, zitiert nach juris) hat das BSG dabei klargestellt, dass eine Blasenentleerungsstörung mit unkontrolliertem Harnabgang keine Zuerkennung des Merkzeichens "RF" rechtfertigen kann. Vielmehr kann es dem Behinderten selbst unter Abwägung der betroffenen Grundrechte des Behinderten zugemutet werden, Einmalwindeln bzw. Windelhosen zu benutzen (BSG a.a.O.).

Derartig schwerwiegende Auswirkungen der Behinderungen für die Umgebung vermochten der gerichtliche Sachverständige und die Versorgungsärzte des Beklagten nicht feststellen. Dies entspricht auch der Einschätzung des die Klägerin behandelnden Internisten Dr. O., der die Harn- und Stuhlinkontinenz noch als weitgehend beherrschbar bewertete. Auch konnte die Klägerin eine aufwändige Begutachtung beim Sachverständigen Prof. Dr. P. in L. offenbar ohne wesentliche Einschränkungen hinsichtlich der Harn- und Stuhlproblematik durchstehen. Gegen eine schwere Inkontinenz sprechen auch die Arztbriefe des Zentralklinikums B. B. , die die zentrale Behandlungsbedürftigkeit lediglich im kardiologischen Gebiet gesehen haben.

Der Senat verkennt dabei nicht, dass es der Klägerin aus verständlichen Gründen emotional zutiefst unangenehm und peinlich ist, in eine Situation zu geraten, in denen unbekannte Dritte während einer öffentlichen Veranstaltung z.B. ihr Einnässen bemerken könnten. Für diesen Fall muss es der Klägerin nach der Rechtsprechung des BSG, der der Senat folgt, zugemutet werden für den begrenzten Zeitraum der öffentlichen Veranstaltung zeitweise Windelhosen als Hilfsmittel zu nutzen (vgl. BSG, Beschluss vom 17. August 2010, B 9 SB 32/10 unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 12. Februar 1997, 9 RVs 2/96, juris). Kommt es trotz dieser Hilfsmittel zu einer Geruchsbeeinträchtigung, wäre diese nach der Rechtsprechung des BSG dem Behinderten und auch von der teilnehmenden Öffentlichkeit zuzumuten.

Auch der bei der Klägerin auftretende Schwindel rechtfertigt nicht das Merkzeichen "RF". Eine Bewusstlosigkeit oder epilepsieartige Anfälle sind ärztlich im streitgegenständlichen Zeitraum ab November 2009 bei der Klägerin nicht dokumentiert worden und offenbar auch nicht mehr aufgetreten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe gemäß § 160 Abs. 2 SGG nicht gegeben sind.
Rechtskraft
Aus
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