Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 27 AS 1072/14
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 4 AS 712/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger und Berufungskläger (im Weiteren: Kläger) begehrt Sonderleistungen in Form eines verlorenen Zuschusses nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) zur Begleichung der Forderung aus der Jahresabrechnung seines Stromversorgers.
Der 1971 in W. geborene ledige Kläger ist vom Beruf Werkzeugmacher (sowie Vorrichter, Schweißer und CNF-Fachkraft). Er bezog ab Januar 2005 SGB II-Leistungen in Höhe der Regelleistung zuzüglich der tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH). Zwischen 2007 und 2011 stand der Kläger mehrfach in Beschäftigungsverhältnissen (als Maschinenführer, Arbeiter, und Betriebshandwerker). Nach einer erneuten Arbeitsaufnahme im Juli 2011 erkrankte er länger, bezog Krankengeld und absolvierte im Januar 2012 eine Reha-Maßnahme des Rentenversicherungsträgers. Seit Juni 2007 schloss der Beklagte regelmäßig mit dem Kläger Eingliederungsvereinbarungen ab. Erstmalig im März 2010 kam eine Eingliederungsvereinbarung nicht zustande, weil der Kläger sich weigerte, den vom Beklagten vorgeschlagenen Vertragsentwurf zu unterschreiben. Daraufhin erließ der Beklagte am 12. April 2010 eine EGVA. Eine weitere EGVA folgte ab Juli 2012, abgelöst durch eine EGVA vom 6. November 2012. Zuletzt erließ der Beklagte die EGVA vom 8. Juli 2013 mit Wirksamkeit bis zum 7. Januar 2014, die Gegenstand des Verfahrens L 4 AS 710/15 ist.
Im Februar 2013 teilte der Kläger dem Beklagten mit, seine Anschrift habe sich "laut Namensänderung und Identitätsänderung" wie folgt geändert: U. R., FH zu ..., L. Straße ..., 0 ... Z., bzw. abgekürzt "FH z ...". Seither schickte er Briefsendungen des Beklagten mit Angabe der bisherigen Personalien im Adressfenster, die er als unzutreffend adressiert ansah, an diesen zurück, indem der die Briefumschläge mit der handschriftlichen Aufschrift "Adresse unbekannt" und "neue Adresse: U. R. FH. z ..., Freistaat ..., 0 ... Z. L. Straße ..." versah und in Briefkästen der Post einwarf. In der Jahresmeldebescheinigung zur Sozialversicherung ersetzte der Kläger die vorgedruckte Staatsangehörigkeit Bundesrepublik Deutschland durch "Freistaat ..." und fügte handschriftlich im unteren Seitenbereich ein: "seit 14.11.2012 verfassungsgemäß Freibürger oder auch FH z ..., einen Staat "Bundesrepublik Deutschland" gibt es nicht, da es an einer Verfassung mangelt!! – BRD GmbH + GG".
Nachdem der Kläger zu einem Meldetermin am 2. Oktober 2013 nicht erschienen war, senkte der Beklagte mit Bescheid vom 6. November 2013 die Leistungen für die Monate Dezember 2013 bis Februar 2014 um 10 % des Regelbedarfs ab. Für denselben Zeitraum erließ der Beklagte zudem den Sanktionsbescheid vom 18. November 2013, mit dem er die Leistungen um 60 % des Regelbedarfs minderte (§ 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II), da dieser im Wiederholungsfall die mit der EGVA geforderten Bewerbungen nicht nachgewiesen hatte. Der Widerspruch des Klägers gegen beide Bescheide blieb erfolglos. Nach ebenfalls erfolglosem Klageverfahren sind sie Gegenstand des Berufungsverfahrens L ...
Im Sanktionszeitraum erhielt der Kläger die Jahresabrechnung seines Stromversorgers vom 29. Dezember 2013, die nach den Verbrauchskosten und den erbrachten Abschlagszahlungen zu einer Forderung von 262,59 EUR gelangte. Zusammen mit dem ersten Abschlag für Januar 2014 in Höhe von 80 EUR war zum 15. Januar 2014 ein Gesamtbetrag von 342,49 EUR fällig. Die Rechnung legte der Kläger am 3. Januar 2014 dem Beklagten vor und bat Übernahme, da er aufgrund der verhängten Sanktionen nicht in der Lage sei, die Forderung zu begleichen.
Mit Bescheid vom 7. Januar 2014 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf abweichende Erbringung von Leistungen ab. Die begehrten Sonderleistungen sei durch den gewährten Regelbedarf nach § 20 Abs. 1 SGB II abgedeckt. Sie stellten keinen unabweisbaren Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts dar, sodass eine Übernahme der Kosten nicht möglich sei.
Dagegen legte der Kläger am 9. Januar 2014 Widerspruch ein. Die Sanktionen seien unwürdig und bedienten niedrige Instinkte. In der monatlichen Regelleistung sei nur Stromkosten von 20,74 EUR enthalten. Darüber hinausgehende Aufwendungen für Haushaltsstrom, insbesondere Forderungen aus Abrechnungen, dürften nicht als Darlehen gewährt werden, sondern müssten in angemessener Höhe zuschussweise bewilligt werden. Zudem führten die rechtswidrigen Sanktionen des Beklagten dazu, dass er etwaige Nachzahlungen und seine laufenden Fixkosten nicht mehr decken könne.
Wegen der Forderung des Stromversorgers suchte der Kläger im Januar 2014 um einstweiligen Rechtsschutz nach. Das Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG) lehnte den Antrag mit Beschluss vom 24. Februar 2014 (Az. S ...) ab, nachdem der Kläger eine angebotene darlehensweise Übernahme der Forderung nicht akzeptierte.
Der Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 26. Februar 2010 den Widerspruch zurück. Stromkosten seien Bestandteil des Regelbedarfs. Nachzahlungen aus Jahresabrechnungen seien daher grundsätzlich aus dem laufenden Regelbedarf zu bestreiten. Drohe wegen Stromschulden eine Versorgungssperre, kämen Leistungen nach § 22 Abs. 8 SGB II in Betracht. Dabei seien die Umstände des Einzelfalls wie Ursache und Höhe der der Schulden, das in der Vergangenheit gezeigte Verhalten des Leistungsberechtigten sowie der von einer Energiesperre betroffene Personenkreis und der erkennbare Selbsthilfewillen des Leistungsberechtigten zu berücksichtigen. Hier lägen die Ursachen, die zum Entstehen der Schulden geführt haben, ausschließlich in der Sphäre und im Verhalten des Klägers. Daher seien die Schulden nicht zu übernehmen.
Am 21. März 2014 hat der Kläger beim SG Klage gegen die Ablehnung der Übernahme der Forderung des Stromversorgers erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, aufgrund der rechtswidrigen Sanktionen habe er weder die Forderung aus der Jahresabrechnung noch den monatlichen Abschlag des Versorgers begleichen können. Dazu sei er auch weiterhin nicht in der Lage. Da der Beklagte letztlich die Schulden durch rechtswidrige Sanktionen verursacht habe, müsse er diese Kosten übernehmen.
In der mündlichen Verhandlung des SG hat der Kläger ausgeführt, die Forderung des Stromversorgers sei gerade im Zeitraum der 60%-Sanktion fällig geworden. Es habe diese damals nicht begleichen können. Es habe die Stromsperre gedroht. Die Situation habe ihn belastet und gesundheitlich beeinträchtigt. Er hat beantragt, den Beklagten zu verurteilen, ihm die Forderung aus der Jahresabrechnung in Höhe von 262,59 EUR zu erstatten.
Mit Urteil vom 23. September 2015 hat das SG die Klage abgewiesen, die Berufung zugelassen und zur Begründung ausgeführt, gemäß § 22 Abs. 8 SGB II könnten, sofern SGB II-Leistungen auch für die KdUH erbracht würden, Schulden übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt sei. Nach der Vorschrift, die auch auf Energieschulden anwendbar sei, sollten die erforderlichen Geldleistungen als Darlehen erbracht werden. Die Vorschrift sei keine Anspruchsgrundlage für die vom Kläger begehrte zuschussweise Übernahme der Schulden. Darauf habe er keinen Anspruch.
Gegen das Urteil hat der Kläger am 20. Oktober 2015 Berufung eingelegt. Zu einem ebenfalls formulierten Antrag auf Zulassung der Sprungrevision hat die Vorsitzende ausgeführt, dies sei nur möglich, wenn die Zustimmung des Beklagten beigefügt wäre (§ 161 Abs. 1 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Da das nicht der Fall sei, würden die Schreiben des Klägers als Berufung gewertet und an das LSG weitergeleitet. Dagegen hat der Kläger in der Folge keine Einwände erhoben.
Mit Schreiben vom 9. März 2016 hat die Berichterstatterin den Kläger darauf hingewiesen, dass die Bescheide des Beklagten und die Entscheidung des SG aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden sei. Aufwendungen für Energie – dazu gehörten Kosten der Stromversorgung – seien Bestandteil der Regelleistung, die grundsätzlich pauschaliert gewährt werde. Eine zusätzliche Zuschussleistung sei nicht möglich. Anhaltspunkte für einen unabweisbaren Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II lägen nicht vor.
Dazu hat der Kläger ausgeführt, ohne die rechtswidrige 60%ige Sanktion hätte er die Nachzahlung des Stromversorgers und die erhöhten Abschlagszahlungen tragen können. Dies zeige, dass die Sanktion ein besonders schwerer Angriff auf seine Existenz gewesen sei. Die vom Beklagten geschaffene Notsituation habe zusätzliche Kosten produziert. Vom Beklagten sei zumindest zu verlangen, diese Kosten zu ersetzen und Schadenersatz zu leisten.
Im Erörterungstermin am 27. Februar 2020 hat der Kläger ergänzt, Anfang 2014 habe der Stromversorger versucht, den Strom abzustellen. Um das zu verhindern, habe er sich bei Bekannten das Geld zur Begleichung der Forderung zusammengebettelt. Als er Jahre später eine Forderung des Stromversorgers von rund 500 EUR nicht habe begleichen können, sei die Stromversorgung eingestellt worden. Er lebe seit inzwischen mehr als drei Jahren ohne Strom.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 23. September 2015 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 7. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Februar 2014 zu verurteilen, ihm zur Begleichung der Forderung aus der Jahresabrechnung des Stromversorgers vom 29. Dezember 2013 weitere Zuschussleistungen in Höhe von 262,59 EUR zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Mit Bescheid vom 31. März 2020 hat der Beklagte den Sanktionsbescheid vom 18. November 2013 – mit der Minderung um 60 % des Regelbedarfs wegen wiederholter Pflichtverletzung aus der EGVA – gemäß § 44 SGB X zurückgenommen und angekündigt, die einbehaltenen Leistungen an den Kläger auszuzahlen. Wenn der Kläger dies wünsche, könne die Nachzahlung direkt an den Stromversorger gezahlt werden, um die Schulden zu tilgen und eine Wiederaufnahme der Versorgung zu erreichen. Dazu hat der Kläger erklärt, er werde die Annahme des Nachzahlbetrags verweigern, solange keine gerichtliche Klärung seiner Begehren mittels Urteilsspruch und Unkostenentschädigung erfolgt sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten ergänzend Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung des Senats gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 151 SGG). Der Senat ist an die Zulassung der Berufung durch das SG gebunden (§ 144 Abs. 3 SGG).
Gegenstand der Entscheidung im Berufungsverfahren ist das erstinstanzliche erfolglose Begehren des Klägers auf Bewilligung eines Betrags von 262,59 EUR als zuschussweise SGB II-Leistungen zur Begleichung der Forderung seines Stromversorgers aus der Jahresabrechnung vom 29. Dezember 2013. Nicht mehr streitgegenständlich ist die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von weiteren Sonderleistungen von 80,00 EUR für die erste Stromabschlagszahlung (Januar 2014). Insoweit hat der Kläger durch seine Antragstellung in der mündlichen Verhandlung des SG sein Begehren beschränkt.
Die Berufung des Klägers ist unbegründet. Das angegriffene Urteil des SG ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung der begehrten Sonderleistungen als verlorenen Zuschuss.
Der Kläger verfolgt sein Rechtsschutzbegehren zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 SGG), zulässig gerichtet auf die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von weiteren Leistungen nach dem SGB II als verlorenen Zuschuss. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz. Zwar ist in Rechtsstreitigkeiten über schon abgeschlossene Bewilligungszeiträume das zum damaligen Zeitpunkt geltende Recht anzuwenden (Geltungszeitraumprinzip; vgl. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2016, Az.: B 14 AS 53/15 R, juris RN 14). Jedoch ändert das nichts daran, dass Tatsachen- und Rechtsänderungen, die unmittelbar den jeweiligen Streitgegenstand betreffen, zu berücksichtigen sind.
Der Kläger ist dem Grunde nach anspruchsberechtigt. Nach § 19 Abs. 1 Nr. 1 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen KdUH. Berechtigt, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu erhalten sind nach § 7 Abs. 1 in der hier maßgeblichen Fassung Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7 a noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger. Gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Person nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. In diesem Sinne ist der Kläger hilfebedürftig gewesen. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Der Kläger hat im streitgegenständlichen Zeitraum kein anrechenbares Einkommen oder Vermögen.
Der Kläger hat in dem für den geltend gemachten Leistungsanspruch maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats keinen Anspruch auf die begehrten Sonderleistungen als verlorenen Zuschuss (mehr).
Nach § 21 Abs. 6 SGB II erhalten Leistungsberechtigte einen Mehrbedarf, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter oder unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen nicht vor, da der geltend gemachte Sonderbedarf zur Begleichung der Jahresabrechnung des Stromversorgers keinen laufenden, sondern einen einmaligen besonderen Bedarf darstellt. Denn Forderungen aus der Jahresabrechnung des Stromversorgers fallen höchstens einmal im Jahr an und damit nicht regelmäßig im Sinne der Vorschrift.
Auch aus § 22 Abs. 8 SGB II ergibt sich im vorliegenden Fall kein Anspruch des Klägers auf weitere Zuschussleistungen.
Nach § 22 Abs. 8 Satz 1 SGB II können, sofern Leistungen für Unterkunft und Heizung (KdUH) erbracht werden, auch Schulden übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Die Entscheidung nach Satz 1 seht im pflichtgemäßen Ermessen des SGB II-Leistungsträgers. Dieses Ermessen verdichtet sich zu einem sog. gebundenen Ermessen, wenn die Voraussetzungen des Satz 2 der Vorschrift vorliegen. Nach § 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II sollen Schulden übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. Geldleistungen sollen als Darlehen erbracht werden (§ 22 Abs. 8 Satz 4 SGB II). Vom Regelungsgehalt der Vorschrift ist nicht nur die Übernahme von Mietschulden, sondern darüber hinaus auch eine Übernahme von sonstigen Schulden – insbesondere von Energiekostenrückständen – erfasst. Dies trifft auch auf die hier streitgegenständliche Nachforderung des Stromversorgers aus der Jahresabrechnung zu.
Nach § 22 Abs. 8 Satz 4 sollen Geldleistung als Darlehen erbracht werden. Dies bedeutet, dass regelmäßig Darlehensleistungen zu erbringen sind und ein Zuschuss nur ausnahmsweise und in atypischen Fällen zu leisten ist. Damit soll ein Ausgleich zwischen den Interessen der Leistungsberechtigten und denen der Allgemeinheit der Steuerzahler bewirkt werden (vgl. Kraus in Hauck/Noftz, SGB II, § 22 RN 266). So steht auch wirtschaftlich unvernünftiges (vorwerfbares) Handeln eines Leistungsberechtigten, das die drohende Wohnungslosigkeit (mit)verursacht haben mag, einer Übernahme von Mietschulden als Leistungsanspruch nach dem SGB II nicht entgegen. Ziel ist das elementare Grundbedürfnis der Unterkunftssicherung, ggf. auch bei schuldhafter Gefährdung der Unterkunft, durch staatliche Hilfe. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates aus dem Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 9. Februar 2010, Az. 1 BvL 1/09, u.a. juris RN 136). Andererseits sollen Leistungen nach dem SGB II grundsätzlich nicht der Schuldentilgung dienen. Nur in eng begrenzten Ausnahmefällen sind Grundsicherungsleistungen zur Schuldentilgung zu gewähren. Wenn dies dem Grunde nach in Betracht zu ziehen ist, dann besteht jedoch regelmäßig die Verpflichtung, die erbrachten Leistungen zur Schuldentilgung zurückzuzahlen, und die Leistungsgewährung erfolgt als Darlehen. Das Auswahlermessen des Grundsicherungsträgers ist insoweit reduziert.
Hieraus folgt, dass ein atypischer Fall im Sinne von § 22 Abs. 8 SGB II, also eine Konstellation, in der anstelle eines Darlehens ein Zuschuss zu erbringen ist, dann vorliegt, wenn der Einzelfall signifikant vom (typischen) Regelfall abweicht. Dabei ist auch das Verhalten des Leistungsträgers in die Bewertung einzubeziehen (vgl. auch: Lauterbach in: Gagel, SGB II/SGB III, § 22 SGB II RN 141; Luik in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Auflage 2017, § 22 RN. 275, 276; BSG Urteil vom 18. November 2014, Az. B 4 AS 3/14 R, juris, Rn. 18). Ein mitwirkendes Fehlverhalten auf seiner Seite, das als eine besondere Behandlung des Falles im Sinne einer Abweichung von der grundsätzlich zu erwartenden ordnungsgemäßen Sachbearbeitung zu verstehen ist, kann im Einzelfall eine Atypik des verwirklichten Tatbestandes begründen. Allerdings muss das Verhalten des Leistungsträgers "wesentlich mitwirkend" für die Entstehung der Schulden sein. Haben es Umstände in der Sphäre des Leistungsberechtigten und der Sphäre der Verwaltung zu der Entstehung der Schulden beigetragen, ist nur dann von einer wesentlichen Mitwirkung des Leistungsträgers auszugehen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für das Entstehen der Schulden annährend gleichwertig sind. Kommt dagegen dem "Fehlverhalten" des Leistungsberechtigten eine überragende Bedeutung für das Auflaufen der Schulden zu, ist kein atypischer Fall gegeben, denn sein Verhalten verdrängt das Fehlverhalten des Leistungsträgers (vgl. BSG, a.a.O.).
Selbst wenn man außer Acht lässt, dass die Nachforderung des Versorgers auf dem Verbrauchsverhalten des Klägers im abgelaufenen Jahr beruht und der Kläger offensichtlich zuvor keine Rücklagen für die Begleichung einer denkbaren Forderung aus der Jahresabrechnung gebildet hatte, und hier davon ausgeht, dass die Unfähigkeit des Klägers, die Forderung des Energieversorgers aus der Jahresabrechnung 2013 aus eigenen Mitteln zu begleichen, maßgeblich darauf beruht, dass der Beklagte ihn in rechtswidriger Weise in den Monaten Dezember 2013 bis Februar 2014 mit einer Minderung des Regelbedarfs um 60% belegt (sowie gleichzeitig noch eine 10 %-Sanktion wegen eines Meldeverstoßes verhängt) hatte und dies als wesentlich mitwirkenden Umstand für die Entstehung der Schulden bewertet, liegen jedoch im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats die Voraussetzungen für eine Zuschussleistung im atypischen Fall nicht mehr vor.
Denn bei einer Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG als Unterfall der Verpflichtungsklage sind – wie ausgeführt – maßgeblich die tatsächliche Situation und die Umstände im Zeitpunkt der Entscheidung durch das LSG an (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, RN 34). Zu diesem Zeitpunkt ist eine maßgebliche Änderung der Tatsachenlage dadurch eingetreten, dass der Beklagte zwischenzeitlich mit Bescheid vom 30. März 2020 den im anderen Verfahren L 4 AS 709/15 angegriffenen Sanktionsbescheid mit einer Minderung des Regelbedarfs um 60 % aufgehoben und angekündigt hat, dem Kläger die einbehaltenen Leistungen nachzuzahlen. Damit ist ein anfänglich rechtswidriger Bescheid nachträglich entfallen und das ursprüngliche möglicherweise wesentlich mitwirkende fehlerhafte Verwaltungshandeln korrigiert worden. Zugleich ist der Kläger mit den nachzuzahlenden Leistungen in der Lage, die Forderung aus der Jahresabrechnung bzw. entsprechende Schulden, die ihm aufgrund von Darlehensleistungen Dritter verblieben sind, aus eigenen Kräften und mit eigenen Mitteln zu begleichen. Es besteht daher aktuell keine Notwendigkeit mehr, dem Kläger ausnahmsweise Zuschussleistungen nach § 22 Abs. 8 SGB II zur Schuldentilgung zu gewähren. Diese Leistungen sind nicht (mehr) notwendig oder gerechtfertigt im Sinne von § 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II.
Damit haben sich die Umstände des Einzelfalls nach Erlass der angegriffenen Bescheide entscheidend geändert. Der Umstand, dass sich der Kläger bislang geweigert hat, die angebotene Nachzahlung anzunehmen, liegt allein in seiner Sphäre und kann nicht dem Beklagten als SGB II-Leistungsträger als Verschulden zugerechnet werden. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats kann daher kein atypischer Fall mehr festgestellt werden. Daher ergibt sich auch aus § 22 Abs. 8 SGB II der geltend gemachte Anspruch auf Zuschussleistungen nicht.
Andere Anspruchsgrundlagen für die begehrten zusätzlichen Zuschussleistungen sieht das SGB II nicht vor. Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage.
Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger und Berufungskläger (im Weiteren: Kläger) begehrt Sonderleistungen in Form eines verlorenen Zuschusses nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) zur Begleichung der Forderung aus der Jahresabrechnung seines Stromversorgers.
Der 1971 in W. geborene ledige Kläger ist vom Beruf Werkzeugmacher (sowie Vorrichter, Schweißer und CNF-Fachkraft). Er bezog ab Januar 2005 SGB II-Leistungen in Höhe der Regelleistung zuzüglich der tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH). Zwischen 2007 und 2011 stand der Kläger mehrfach in Beschäftigungsverhältnissen (als Maschinenführer, Arbeiter, und Betriebshandwerker). Nach einer erneuten Arbeitsaufnahme im Juli 2011 erkrankte er länger, bezog Krankengeld und absolvierte im Januar 2012 eine Reha-Maßnahme des Rentenversicherungsträgers. Seit Juni 2007 schloss der Beklagte regelmäßig mit dem Kläger Eingliederungsvereinbarungen ab. Erstmalig im März 2010 kam eine Eingliederungsvereinbarung nicht zustande, weil der Kläger sich weigerte, den vom Beklagten vorgeschlagenen Vertragsentwurf zu unterschreiben. Daraufhin erließ der Beklagte am 12. April 2010 eine EGVA. Eine weitere EGVA folgte ab Juli 2012, abgelöst durch eine EGVA vom 6. November 2012. Zuletzt erließ der Beklagte die EGVA vom 8. Juli 2013 mit Wirksamkeit bis zum 7. Januar 2014, die Gegenstand des Verfahrens L 4 AS 710/15 ist.
Im Februar 2013 teilte der Kläger dem Beklagten mit, seine Anschrift habe sich "laut Namensänderung und Identitätsänderung" wie folgt geändert: U. R., FH zu ..., L. Straße ..., 0 ... Z., bzw. abgekürzt "FH z ...". Seither schickte er Briefsendungen des Beklagten mit Angabe der bisherigen Personalien im Adressfenster, die er als unzutreffend adressiert ansah, an diesen zurück, indem der die Briefumschläge mit der handschriftlichen Aufschrift "Adresse unbekannt" und "neue Adresse: U. R. FH. z ..., Freistaat ..., 0 ... Z. L. Straße ..." versah und in Briefkästen der Post einwarf. In der Jahresmeldebescheinigung zur Sozialversicherung ersetzte der Kläger die vorgedruckte Staatsangehörigkeit Bundesrepublik Deutschland durch "Freistaat ..." und fügte handschriftlich im unteren Seitenbereich ein: "seit 14.11.2012 verfassungsgemäß Freibürger oder auch FH z ..., einen Staat "Bundesrepublik Deutschland" gibt es nicht, da es an einer Verfassung mangelt!! – BRD GmbH + GG".
Nachdem der Kläger zu einem Meldetermin am 2. Oktober 2013 nicht erschienen war, senkte der Beklagte mit Bescheid vom 6. November 2013 die Leistungen für die Monate Dezember 2013 bis Februar 2014 um 10 % des Regelbedarfs ab. Für denselben Zeitraum erließ der Beklagte zudem den Sanktionsbescheid vom 18. November 2013, mit dem er die Leistungen um 60 % des Regelbedarfs minderte (§ 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II), da dieser im Wiederholungsfall die mit der EGVA geforderten Bewerbungen nicht nachgewiesen hatte. Der Widerspruch des Klägers gegen beide Bescheide blieb erfolglos. Nach ebenfalls erfolglosem Klageverfahren sind sie Gegenstand des Berufungsverfahrens L ...
Im Sanktionszeitraum erhielt der Kläger die Jahresabrechnung seines Stromversorgers vom 29. Dezember 2013, die nach den Verbrauchskosten und den erbrachten Abschlagszahlungen zu einer Forderung von 262,59 EUR gelangte. Zusammen mit dem ersten Abschlag für Januar 2014 in Höhe von 80 EUR war zum 15. Januar 2014 ein Gesamtbetrag von 342,49 EUR fällig. Die Rechnung legte der Kläger am 3. Januar 2014 dem Beklagten vor und bat Übernahme, da er aufgrund der verhängten Sanktionen nicht in der Lage sei, die Forderung zu begleichen.
Mit Bescheid vom 7. Januar 2014 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf abweichende Erbringung von Leistungen ab. Die begehrten Sonderleistungen sei durch den gewährten Regelbedarf nach § 20 Abs. 1 SGB II abgedeckt. Sie stellten keinen unabweisbaren Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts dar, sodass eine Übernahme der Kosten nicht möglich sei.
Dagegen legte der Kläger am 9. Januar 2014 Widerspruch ein. Die Sanktionen seien unwürdig und bedienten niedrige Instinkte. In der monatlichen Regelleistung sei nur Stromkosten von 20,74 EUR enthalten. Darüber hinausgehende Aufwendungen für Haushaltsstrom, insbesondere Forderungen aus Abrechnungen, dürften nicht als Darlehen gewährt werden, sondern müssten in angemessener Höhe zuschussweise bewilligt werden. Zudem führten die rechtswidrigen Sanktionen des Beklagten dazu, dass er etwaige Nachzahlungen und seine laufenden Fixkosten nicht mehr decken könne.
Wegen der Forderung des Stromversorgers suchte der Kläger im Januar 2014 um einstweiligen Rechtsschutz nach. Das Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG) lehnte den Antrag mit Beschluss vom 24. Februar 2014 (Az. S ...) ab, nachdem der Kläger eine angebotene darlehensweise Übernahme der Forderung nicht akzeptierte.
Der Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 26. Februar 2010 den Widerspruch zurück. Stromkosten seien Bestandteil des Regelbedarfs. Nachzahlungen aus Jahresabrechnungen seien daher grundsätzlich aus dem laufenden Regelbedarf zu bestreiten. Drohe wegen Stromschulden eine Versorgungssperre, kämen Leistungen nach § 22 Abs. 8 SGB II in Betracht. Dabei seien die Umstände des Einzelfalls wie Ursache und Höhe der der Schulden, das in der Vergangenheit gezeigte Verhalten des Leistungsberechtigten sowie der von einer Energiesperre betroffene Personenkreis und der erkennbare Selbsthilfewillen des Leistungsberechtigten zu berücksichtigen. Hier lägen die Ursachen, die zum Entstehen der Schulden geführt haben, ausschließlich in der Sphäre und im Verhalten des Klägers. Daher seien die Schulden nicht zu übernehmen.
Am 21. März 2014 hat der Kläger beim SG Klage gegen die Ablehnung der Übernahme der Forderung des Stromversorgers erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, aufgrund der rechtswidrigen Sanktionen habe er weder die Forderung aus der Jahresabrechnung noch den monatlichen Abschlag des Versorgers begleichen können. Dazu sei er auch weiterhin nicht in der Lage. Da der Beklagte letztlich die Schulden durch rechtswidrige Sanktionen verursacht habe, müsse er diese Kosten übernehmen.
In der mündlichen Verhandlung des SG hat der Kläger ausgeführt, die Forderung des Stromversorgers sei gerade im Zeitraum der 60%-Sanktion fällig geworden. Es habe diese damals nicht begleichen können. Es habe die Stromsperre gedroht. Die Situation habe ihn belastet und gesundheitlich beeinträchtigt. Er hat beantragt, den Beklagten zu verurteilen, ihm die Forderung aus der Jahresabrechnung in Höhe von 262,59 EUR zu erstatten.
Mit Urteil vom 23. September 2015 hat das SG die Klage abgewiesen, die Berufung zugelassen und zur Begründung ausgeführt, gemäß § 22 Abs. 8 SGB II könnten, sofern SGB II-Leistungen auch für die KdUH erbracht würden, Schulden übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt sei. Nach der Vorschrift, die auch auf Energieschulden anwendbar sei, sollten die erforderlichen Geldleistungen als Darlehen erbracht werden. Die Vorschrift sei keine Anspruchsgrundlage für die vom Kläger begehrte zuschussweise Übernahme der Schulden. Darauf habe er keinen Anspruch.
Gegen das Urteil hat der Kläger am 20. Oktober 2015 Berufung eingelegt. Zu einem ebenfalls formulierten Antrag auf Zulassung der Sprungrevision hat die Vorsitzende ausgeführt, dies sei nur möglich, wenn die Zustimmung des Beklagten beigefügt wäre (§ 161 Abs. 1 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Da das nicht der Fall sei, würden die Schreiben des Klägers als Berufung gewertet und an das LSG weitergeleitet. Dagegen hat der Kläger in der Folge keine Einwände erhoben.
Mit Schreiben vom 9. März 2016 hat die Berichterstatterin den Kläger darauf hingewiesen, dass die Bescheide des Beklagten und die Entscheidung des SG aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden sei. Aufwendungen für Energie – dazu gehörten Kosten der Stromversorgung – seien Bestandteil der Regelleistung, die grundsätzlich pauschaliert gewährt werde. Eine zusätzliche Zuschussleistung sei nicht möglich. Anhaltspunkte für einen unabweisbaren Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II lägen nicht vor.
Dazu hat der Kläger ausgeführt, ohne die rechtswidrige 60%ige Sanktion hätte er die Nachzahlung des Stromversorgers und die erhöhten Abschlagszahlungen tragen können. Dies zeige, dass die Sanktion ein besonders schwerer Angriff auf seine Existenz gewesen sei. Die vom Beklagten geschaffene Notsituation habe zusätzliche Kosten produziert. Vom Beklagten sei zumindest zu verlangen, diese Kosten zu ersetzen und Schadenersatz zu leisten.
Im Erörterungstermin am 27. Februar 2020 hat der Kläger ergänzt, Anfang 2014 habe der Stromversorger versucht, den Strom abzustellen. Um das zu verhindern, habe er sich bei Bekannten das Geld zur Begleichung der Forderung zusammengebettelt. Als er Jahre später eine Forderung des Stromversorgers von rund 500 EUR nicht habe begleichen können, sei die Stromversorgung eingestellt worden. Er lebe seit inzwischen mehr als drei Jahren ohne Strom.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 23. September 2015 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 7. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Februar 2014 zu verurteilen, ihm zur Begleichung der Forderung aus der Jahresabrechnung des Stromversorgers vom 29. Dezember 2013 weitere Zuschussleistungen in Höhe von 262,59 EUR zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Mit Bescheid vom 31. März 2020 hat der Beklagte den Sanktionsbescheid vom 18. November 2013 – mit der Minderung um 60 % des Regelbedarfs wegen wiederholter Pflichtverletzung aus der EGVA – gemäß § 44 SGB X zurückgenommen und angekündigt, die einbehaltenen Leistungen an den Kläger auszuzahlen. Wenn der Kläger dies wünsche, könne die Nachzahlung direkt an den Stromversorger gezahlt werden, um die Schulden zu tilgen und eine Wiederaufnahme der Versorgung zu erreichen. Dazu hat der Kläger erklärt, er werde die Annahme des Nachzahlbetrags verweigern, solange keine gerichtliche Klärung seiner Begehren mittels Urteilsspruch und Unkostenentschädigung erfolgt sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten ergänzend Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung des Senats gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 151 SGG). Der Senat ist an die Zulassung der Berufung durch das SG gebunden (§ 144 Abs. 3 SGG).
Gegenstand der Entscheidung im Berufungsverfahren ist das erstinstanzliche erfolglose Begehren des Klägers auf Bewilligung eines Betrags von 262,59 EUR als zuschussweise SGB II-Leistungen zur Begleichung der Forderung seines Stromversorgers aus der Jahresabrechnung vom 29. Dezember 2013. Nicht mehr streitgegenständlich ist die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von weiteren Sonderleistungen von 80,00 EUR für die erste Stromabschlagszahlung (Januar 2014). Insoweit hat der Kläger durch seine Antragstellung in der mündlichen Verhandlung des SG sein Begehren beschränkt.
Die Berufung des Klägers ist unbegründet. Das angegriffene Urteil des SG ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung der begehrten Sonderleistungen als verlorenen Zuschuss.
Der Kläger verfolgt sein Rechtsschutzbegehren zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 SGG), zulässig gerichtet auf die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von weiteren Leistungen nach dem SGB II als verlorenen Zuschuss. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz. Zwar ist in Rechtsstreitigkeiten über schon abgeschlossene Bewilligungszeiträume das zum damaligen Zeitpunkt geltende Recht anzuwenden (Geltungszeitraumprinzip; vgl. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2016, Az.: B 14 AS 53/15 R, juris RN 14). Jedoch ändert das nichts daran, dass Tatsachen- und Rechtsänderungen, die unmittelbar den jeweiligen Streitgegenstand betreffen, zu berücksichtigen sind.
Der Kläger ist dem Grunde nach anspruchsberechtigt. Nach § 19 Abs. 1 Nr. 1 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen KdUH. Berechtigt, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu erhalten sind nach § 7 Abs. 1 in der hier maßgeblichen Fassung Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7 a noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger. Gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Person nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. In diesem Sinne ist der Kläger hilfebedürftig gewesen. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Der Kläger hat im streitgegenständlichen Zeitraum kein anrechenbares Einkommen oder Vermögen.
Der Kläger hat in dem für den geltend gemachten Leistungsanspruch maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats keinen Anspruch auf die begehrten Sonderleistungen als verlorenen Zuschuss (mehr).
Nach § 21 Abs. 6 SGB II erhalten Leistungsberechtigte einen Mehrbedarf, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter oder unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen nicht vor, da der geltend gemachte Sonderbedarf zur Begleichung der Jahresabrechnung des Stromversorgers keinen laufenden, sondern einen einmaligen besonderen Bedarf darstellt. Denn Forderungen aus der Jahresabrechnung des Stromversorgers fallen höchstens einmal im Jahr an und damit nicht regelmäßig im Sinne der Vorschrift.
Auch aus § 22 Abs. 8 SGB II ergibt sich im vorliegenden Fall kein Anspruch des Klägers auf weitere Zuschussleistungen.
Nach § 22 Abs. 8 Satz 1 SGB II können, sofern Leistungen für Unterkunft und Heizung (KdUH) erbracht werden, auch Schulden übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Die Entscheidung nach Satz 1 seht im pflichtgemäßen Ermessen des SGB II-Leistungsträgers. Dieses Ermessen verdichtet sich zu einem sog. gebundenen Ermessen, wenn die Voraussetzungen des Satz 2 der Vorschrift vorliegen. Nach § 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II sollen Schulden übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. Geldleistungen sollen als Darlehen erbracht werden (§ 22 Abs. 8 Satz 4 SGB II). Vom Regelungsgehalt der Vorschrift ist nicht nur die Übernahme von Mietschulden, sondern darüber hinaus auch eine Übernahme von sonstigen Schulden – insbesondere von Energiekostenrückständen – erfasst. Dies trifft auch auf die hier streitgegenständliche Nachforderung des Stromversorgers aus der Jahresabrechnung zu.
Nach § 22 Abs. 8 Satz 4 sollen Geldleistung als Darlehen erbracht werden. Dies bedeutet, dass regelmäßig Darlehensleistungen zu erbringen sind und ein Zuschuss nur ausnahmsweise und in atypischen Fällen zu leisten ist. Damit soll ein Ausgleich zwischen den Interessen der Leistungsberechtigten und denen der Allgemeinheit der Steuerzahler bewirkt werden (vgl. Kraus in Hauck/Noftz, SGB II, § 22 RN 266). So steht auch wirtschaftlich unvernünftiges (vorwerfbares) Handeln eines Leistungsberechtigten, das die drohende Wohnungslosigkeit (mit)verursacht haben mag, einer Übernahme von Mietschulden als Leistungsanspruch nach dem SGB II nicht entgegen. Ziel ist das elementare Grundbedürfnis der Unterkunftssicherung, ggf. auch bei schuldhafter Gefährdung der Unterkunft, durch staatliche Hilfe. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates aus dem Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 9. Februar 2010, Az. 1 BvL 1/09, u.a. juris RN 136). Andererseits sollen Leistungen nach dem SGB II grundsätzlich nicht der Schuldentilgung dienen. Nur in eng begrenzten Ausnahmefällen sind Grundsicherungsleistungen zur Schuldentilgung zu gewähren. Wenn dies dem Grunde nach in Betracht zu ziehen ist, dann besteht jedoch regelmäßig die Verpflichtung, die erbrachten Leistungen zur Schuldentilgung zurückzuzahlen, und die Leistungsgewährung erfolgt als Darlehen. Das Auswahlermessen des Grundsicherungsträgers ist insoweit reduziert.
Hieraus folgt, dass ein atypischer Fall im Sinne von § 22 Abs. 8 SGB II, also eine Konstellation, in der anstelle eines Darlehens ein Zuschuss zu erbringen ist, dann vorliegt, wenn der Einzelfall signifikant vom (typischen) Regelfall abweicht. Dabei ist auch das Verhalten des Leistungsträgers in die Bewertung einzubeziehen (vgl. auch: Lauterbach in: Gagel, SGB II/SGB III, § 22 SGB II RN 141; Luik in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Auflage 2017, § 22 RN. 275, 276; BSG Urteil vom 18. November 2014, Az. B 4 AS 3/14 R, juris, Rn. 18). Ein mitwirkendes Fehlverhalten auf seiner Seite, das als eine besondere Behandlung des Falles im Sinne einer Abweichung von der grundsätzlich zu erwartenden ordnungsgemäßen Sachbearbeitung zu verstehen ist, kann im Einzelfall eine Atypik des verwirklichten Tatbestandes begründen. Allerdings muss das Verhalten des Leistungsträgers "wesentlich mitwirkend" für die Entstehung der Schulden sein. Haben es Umstände in der Sphäre des Leistungsberechtigten und der Sphäre der Verwaltung zu der Entstehung der Schulden beigetragen, ist nur dann von einer wesentlichen Mitwirkung des Leistungsträgers auszugehen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für das Entstehen der Schulden annährend gleichwertig sind. Kommt dagegen dem "Fehlverhalten" des Leistungsberechtigten eine überragende Bedeutung für das Auflaufen der Schulden zu, ist kein atypischer Fall gegeben, denn sein Verhalten verdrängt das Fehlverhalten des Leistungsträgers (vgl. BSG, a.a.O.).
Selbst wenn man außer Acht lässt, dass die Nachforderung des Versorgers auf dem Verbrauchsverhalten des Klägers im abgelaufenen Jahr beruht und der Kläger offensichtlich zuvor keine Rücklagen für die Begleichung einer denkbaren Forderung aus der Jahresabrechnung gebildet hatte, und hier davon ausgeht, dass die Unfähigkeit des Klägers, die Forderung des Energieversorgers aus der Jahresabrechnung 2013 aus eigenen Mitteln zu begleichen, maßgeblich darauf beruht, dass der Beklagte ihn in rechtswidriger Weise in den Monaten Dezember 2013 bis Februar 2014 mit einer Minderung des Regelbedarfs um 60% belegt (sowie gleichzeitig noch eine 10 %-Sanktion wegen eines Meldeverstoßes verhängt) hatte und dies als wesentlich mitwirkenden Umstand für die Entstehung der Schulden bewertet, liegen jedoch im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats die Voraussetzungen für eine Zuschussleistung im atypischen Fall nicht mehr vor.
Denn bei einer Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG als Unterfall der Verpflichtungsklage sind – wie ausgeführt – maßgeblich die tatsächliche Situation und die Umstände im Zeitpunkt der Entscheidung durch das LSG an (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, RN 34). Zu diesem Zeitpunkt ist eine maßgebliche Änderung der Tatsachenlage dadurch eingetreten, dass der Beklagte zwischenzeitlich mit Bescheid vom 30. März 2020 den im anderen Verfahren L 4 AS 709/15 angegriffenen Sanktionsbescheid mit einer Minderung des Regelbedarfs um 60 % aufgehoben und angekündigt hat, dem Kläger die einbehaltenen Leistungen nachzuzahlen. Damit ist ein anfänglich rechtswidriger Bescheid nachträglich entfallen und das ursprüngliche möglicherweise wesentlich mitwirkende fehlerhafte Verwaltungshandeln korrigiert worden. Zugleich ist der Kläger mit den nachzuzahlenden Leistungen in der Lage, die Forderung aus der Jahresabrechnung bzw. entsprechende Schulden, die ihm aufgrund von Darlehensleistungen Dritter verblieben sind, aus eigenen Kräften und mit eigenen Mitteln zu begleichen. Es besteht daher aktuell keine Notwendigkeit mehr, dem Kläger ausnahmsweise Zuschussleistungen nach § 22 Abs. 8 SGB II zur Schuldentilgung zu gewähren. Diese Leistungen sind nicht (mehr) notwendig oder gerechtfertigt im Sinne von § 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II.
Damit haben sich die Umstände des Einzelfalls nach Erlass der angegriffenen Bescheide entscheidend geändert. Der Umstand, dass sich der Kläger bislang geweigert hat, die angebotene Nachzahlung anzunehmen, liegt allein in seiner Sphäre und kann nicht dem Beklagten als SGB II-Leistungsträger als Verschulden zugerechnet werden. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats kann daher kein atypischer Fall mehr festgestellt werden. Daher ergibt sich auch aus § 22 Abs. 8 SGB II der geltend gemachte Anspruch auf Zuschussleistungen nicht.
Andere Anspruchsgrundlagen für die begehrten zusätzlichen Zuschussleistungen sieht das SGB II nicht vor. Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage.
Rechtskraft
Aus
Login
SAN
Saved