L 8 SB 5109/03

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 2 SB 1554/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 5109/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein behinderter Mensch ist außergewöhnlich gehbehindert (Merkzeichen aG), wenn er sich nur mit Hilfe eines Rollators (Gehwagen) fortbewegen kann und bereits nach 20 bis 30 Metern so erschöpft ist, dass er eine Pause einlegen und neue Kräfte sammeln muss, bevor er weiter gehen kann.
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Ulmvom 11. November 2003 aufgehoben und der Bescheid des Beklagten vom6. März 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juni 2003abgeändert und der Beklagte verurteilt, den Nachteilsausgleich aG festzustellen.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers beider Instanzenzu erstatten.

Tatbestand:

Streitig sind die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches aG (außergewöhnliche Gehbehinderung).

Bei dem am geborenen Kläger stellte das Versorgungsamt U. (VA) mit Neufeststellungsbescheid vom 03.02.1982 einen Grad der Behinderung (GdB) von 60 fest.

Im Januar 2003 beantragte der Kläger die Erhöhung des GdB und die Feststellung der Nachteilsausgleiche G, aG und RF und brachte vor, durch den am 05.01.2000 erlittenen zweiten Schlaganfall - der erste Schlaganfall im Jahre 1994 sei äußerlich nicht bemerkbar gewesen - sei er jetzt - vor allem beim Gehen und durch Schwindel - so behindert, dass er sich nur mit Hilfe eines Rollators fortbewegen könne. Das VA holte von dem HNO-Arzt Dr. Sch. einen Befundbericht nebst Ton- und Sprachaudiogramm ein. Seine behandelnde Ärztin Dr. G. berichtete am 10.02.2002 über die von ihr gestellten Diagnosen und gab an, der Kläger sei sowohl feinmotorisch wie grobmotorisch (beim Laufen) stark eingeschränkt. Gehen sei nur mit einem Rollator möglich. Wegen eines spastischen Syndroms und Kreislaufstörungen sei die Teilnahme am Gesellschaftsleben nur begrenzt und nur für ganz kurze Zeit möglich. In der hierzu eingeholten versorgungsärztlichen Stellungnahme wurde unter Berücksichtigung von Schlaganfallfolgen, Hirnleistungsschwäche, einer Schwerhörigkeit, einer Herzleistungsminderung und eines Bluthochdrucks sowie einer Lungenblähung ein GdB von 90 für angemessen gehalten. Ferner wurden die gesundheitlichen Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche G und RF für gegeben erachtet. Die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich aG wurden hingegen verneint. Am 06.03.2003 erließ das VA einen entsprechenden Neufeststellungsbescheid.

Mit seinem Widerspruch wandte sich der Kläger gegen die Versagung des Nachteilsausgleiches aG und machte geltend, er könne sich nur mit großer Anstrengung außerhalb seiner Wohnung - und natürlich auch außerhalb eines Kraftfahrzeuges - fortbewegen. Seine Gleichgewichtsstörungen inklusive Schwindel hätten zur Folge, dass er sich selbst mit dem Rollator höchstens ca. 300 m fortbewegen könne. Danach müsse er sich für etwa eine dreiviertel Stunde ausruhen. Versorgungsärztlicherseits wurde zum Widerspruchsvorbringen des Klägers dahingehend Stellung genommen, dass dieser mittels Rollator gehfähig und daher die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches aG nicht möglich sei. Daraufhin wies das Landesversorgungsamt Baden-Württemberg den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 06.06.2003 zurück.

Am 02.07.2003 erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht Ulm (SG), mit der er den Nachteilsausgleich aG geltend machte. Er brachte vor, er sei außergewöhnlich gehbehindert, was keineswegs mit Gehunfähigkeit gleichzusetzen sei. Seine Gehfähigkeit sei in besonderem Maße eingeschränkt, da er trotz der Benützung eines Rollators z.B. keine Treppen steigen und keine Steigungen überwinden könne. Eine außerordentliche Gehbehinderung liege vor, wenn - wie bei ihm - jedes Gehen eine Hilfe notwendig mache. Er müsse sich aber bereits innerhalb der Wohnung auf Gegenstände oder Personen stützen. Die bei ihm vorliegenden Erkrankungen ließen den Schluss auf eine Multimorbidität zu, die eine Gleichstellung mit dem ausdrücklich begünstigten Personenkreis rechtfertige.

Das SG hörte Frau Dr. G. schriftlich als sachverständige Zeugin. Diese schilderte am 19.08.2003 die beim Kläger gestellten Diagnosen und gab an, der Kläger leide unter einer Geh- und Laufstörung. Ferner lägen eine Gleichgewichtsstörung, Herz- und Atembeschwerden sowie chronische Schmerzen vor. Außergewöhnliche Gehbehinderungen bestünden bei ihm nicht, aber er leide unter Herz- und Lungenschäden sowie einem Zustand nach Apoplex mit Hemiparese, die zusammen mit den Geh- und Laufstörungen und Gleichgewichtsstörungen eine ungünstige Konstellation ergäben. Durch die Pflegebedürftigkeit seiner Ehefrau sei der Kläger zusätzlich einer starken psychischen und körperlichen Belastung ausgesetzt.

Mit Urteil vom 11.11.2003 wies das SG die Klage ab. Da der Kläger nicht zu den beispielhaft genannten Gruppen schwerbehinderter Menschen gehöre, die als außergewöhnlich gehbehindert anzusehen seien, habe er nur dann Anspruch auf Feststellung dieses Nachteilsausgleichs, wenn er diesem Personenkreis gleichzustellen sei. Die Voraussetzungen hierfür lägen aber nach den Angaben von Frau Dr. G. nicht vor, da seine Gehfähigkeit nicht in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sei und er sich nicht nur noch mit fremder Hilfe oder unter ebenso großen Anstrengungen wie der begünstigte Personenkreis fortbewegen könne. Seiner eingeschränkten Gehfähigkeit sei durch die Feststellung des Nachteilsausgleiches G Rechnung getragen.

Gegen das ihm am 20.11.2003 zugestellte Urteil hat der Kläger am 16.12.2003 Berufung eingelegt, mit der er an seinem Begehren festhält. Er bringt vor, obwohl er nicht zum ausdrücklich genannten begünstigten Personenkreis gehöre, sei er außergewöhnlich gehbehindert und den Beinamputierten gleichzustellen. Es müsse zwischen Gehunfähigkeit, die nicht erforderlich sei, und einer außergewöhnlichen Gehbehinderung, die bei ihm vorliege, weil er von den ersten Schritten außerhalb eines Kraftfahrzeugs an nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung gehen könne, unterschieden werden. Der vom Beklagten und auch in den Beweisfragen herangezogene Vergleichsmaßstab des Gehvermögens der Amputierten sei dem Verkehrsrecht entnommen, der der hier maßgeblichen Sozialgesetzgebung nicht entspreche. Befund und Befindlichkeit seien zu trennen. Ferner müssten auch altersbedingte Gesundheitsstörungen berücksichtigt werden, da es auf die Ursache der außergewöhnlichen Gehbehinderung nicht ankomme. Das SG hätte sich nicht auf die Beurteilung von Frau Dr. G. stützen dürfen, da sie keine Sachverständige sei und sich aus ihrem Bericht ergebe, dass sie die für die Anerkennung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung verlangten Voraussetzungen und deren Handhabung nicht für richtig halte. Sie habe ihm angeraten, sich in der Wohnung nicht nur an Wänden, Stühlen und Tischen zu stützen, sondern - wenn schon nicht den Rollator - einen Stützstock zu benutzen. Der Kläger legt den Bescheid des Landratsamts Heidenheim vom 11.03.2003 vor, mit dem sein Antrag auf Eingliederungshilfe in Form eines Fahrtkostenzuschusses für behinderte Menschen abgelehnt worden ist, weil er nicht den Nachteilsausgleich aG besitze und zudem die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel bedingt möglich sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 11. November 2003 aufzuheben und den Bescheid des Beklagten vom 6. März 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juni 2003 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, das gesundheitliche Merkmal außergewöhnliche Gehbehinderung ("aG") festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und hat die versorgungsärztlichen Stellungnahmen von Dr. F. vom 02.04.2004 und 24.05.2004 sowie von Dr. G. vom 22.11.2004 vorgelegt. Auf der Stellungnahme vom 24.05.2004 beruht das - vom Kläger abgelehnte - Vergleichsangebot des Beklagten vom 02.06.2004 (GdB 100 ab 01.04.2004) sowie dessen Entscheidung, dass dem Kläger die Parkerleichterung für besondere Gruppen Schwerbehinderter in Baden-Württemberg zusteht.

Der Senat hat zunächst Frau Dr. G. schriftlich als sachverständige Zeugin gehört und anschließend ein neurologisches Gutachten eingeholt. Frau Dr. G. hat am 27.04.2004 im Wesentlichen die gleichen Angaben gemacht wie gegenüber dem SG und lediglich hinzugefügt, dass beim Kläger des Weiteren eine massive körperliche Schwäche und eine altersentsprechende senile Hirnleistungsstörung vorliege. Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. K., H., hat in seinem fachärztlichen Gutachten vom 29.07.2004 nach ambulanter Untersuchung eine senile Gangstörung, eine Polyneuropathie der Beinnerven unbekannter Ursache, einen Verdacht auf eine cervicale Myelopathie sowie einen Verdacht auf beidseitige abgelaufene cerebrale Ischämien (1994 und 2000) diagnostiziert. Die senile Gangstörung sei schweren Grades. Eine außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) bestehe trotz der beschriebenen schweren Funktionsbeeinträchtigungen nicht. Am 09.11.2004 hat Dr. K. ergänzend ausgeführt, aufgrund der im Gutachten gestellten Diagnosen und der daraus resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen sei anzunehmen, dass der Kläger ca. 20 m am Stück mit dem Rollator gehen könne und dann aufgrund der vor allem durch die senile Gangstörung bedingten Schwäche in den Beinen eine Pause einlegen müsse, bevor er weitergehen könne.

Wegen der weiteren Einzelheiten und des weiteren Vorbringens wird auf die erst- und zweitinstanzlichen Prozessakten und Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte sowie frist- und formgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig.

Sie ist auch begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleiches aG.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist nur die vom Kläger geltend gemachte Feststellung des gesundheitlichen Merkmals außergewöhnliche Gehbehinderung ("aG"). Denn er hat den Bescheid der Beklagten vom 06.03.2003 nur insoweit angefochten, als darin die Feststellung des Nachteilsausgleichs aG abgelehnt worden ist. Nicht Streitgegenstand ist damit die Höhe des GdB sowie die Zuerkennung weiterer Nachteilsausgleiche.

Das SG hat im angefochtenen Urteil die für die Feststellung des Nachteilsausgleiches aG erforderlichen Voraussetzungen verneint. Hierbei hat es sich in erster Linie auf die Angaben der behandelnden Ärztin Dr. G. gestützt. Der Senat kommt nach nochmaliger Anhörung von Frau Dr. G. und Einholung eines fachärztlichen Gutachtens (nebst ergänzender Äußerung) zum gegenteiligen Ergebnis.

Nach § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX) i.V.m. §§ 1 Abs. 4 und 3 Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung vom 25.07.1991, zuletzt geändert durch Art. 12 Nr. 4 des Gesetzes vom 30.07.2004 (BGBl I S. 1950) ist auf Antrag des behinderten Menschen der Nachteilsausgleich aG in den Schwerbehindertenausweis einzutragen, wenn der behinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ist. Ein solcher Vermerk ist Grundlage für die Inanspruchnahme von Parkerleichterungen, die von den Straßenverkehrsbehörden für bestimmte Ausnahmefälle vorgesehen sind.

Eine derartige straßenverkehrsrechtliche Vorschrift ist die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO). Nach Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können, oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem zuvor genannten Personenkreis gleichzustellen sind.

Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 1. Halbsatz aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 23). Hierbei ist zu beachten, dass die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften nicht darauf abstellen, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (vgl. BSG SozR 3-3250 § 69 Nr. 1).

Danach gehört der Kläger zum berechtigten Personenkreis, da seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann, wie die in der VwV genannten Personen. Seine Gehfähigkeit ist in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt, denn er vermag sich nur mit Hilfe eines Rollators fortzubewegen. Dies ist nach Überzeugung des Senats auch mit entsprechend großen körperlichen Anstrengungen verbunden. Dabei geht der Senat davon aus, dass in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkte schwerbehinderte Menschen sich beim Gehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen müssen (vgl. BSG SozR 3-3250 § 69 Nr. 1). Die für "aG" geforderte große körperliche Anstrengung ist gegeben, wenn der Betroffene die von ihm nach 30 m einzulegende Pause deshalb macht, weil er bereits nach dieser kurzen Wegstrecke erschöpft ist und neue Kräfte sammeln muss, bevor er weitergehen kann. Hier hat das eingeholte neurologische Gutachten, bestätigt durch die ergänzende Äußerung des Sachverständigen, ergeben, dass der Kläger (nur) ca. 20 m am Stück mit dem Rollator gehen kann und dann aufgrund der Schwäche in den Beinen eine Pause einlegen muss, bevor er weitergehen kann. Daraus folgt für den Senat, dass der Kläger nur mit großer körperlicher Anstrengung gehfähig ist.

Der Berufung des Klägers ist somit stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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