L 7 SO 2708/05 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 12 SO 2343/05 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 2708/05 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Betreutes Seniorenwohnen. Die Kosten der Unterkunft erfassen auch ein im Mietvertrag vereinbartes Betreuungsentgelt und können bei der Ermittlung des im Rahmen der Grundsicherung anzuerkennenden Bedarfs nicht herausgerechnet werden.
Beschluss Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 1. Juni 2005 abgeändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab 1. Mai 2005 bis zum bestandskräftigen Abschluss des Widerspruchsverfahrens, längstens jedoch bis 31. Dezember 2005, vorläufig ein weiteres Betreuungsentgelt von monatlich EUR 38,07 zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Gründe:

Die unter Beachtung der Vorschrift des § 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde, der das Sozialgericht Stuttgart (SG) nicht abgeholfen hat (§ 174 SGG), ist zulässig und in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang auch begründet, im Übrigen jedoch nicht begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 a.a.O. vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2 a.a.O.). Gemäß § 86b Abs. 3 SGG sind die Anträge nach den Abs. 1 und 2 SGG schon vor Klageerhebung zulässig.

Vorliegend kommt, da die Voraussetzungen des § 86b Abs. 1 SGG ersichtlich nicht gegeben sind und es auch nicht um die Sicherung eines bereits bestehenden Rechtszustands geht (Sicherungsanordnung (Abs. 2 Satz 1 a.a.O.)), nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht (vgl. dazu Keller in Meyer-Ladewig, SGG, 8. Auflage, § 86b Rdnrn. 25 ff.; Funke-Kaiser in Bader u.a., Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 3. Auflage, § 123 Rdnrn. 13 ff.). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung (vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) Buchholz 421.21 Hochschulzulassungsrecht Nr. 37; Schoch in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO § 123 Rdnrn. 64, 73 ff., 80 ff.; Puttler in Sodan/Ziekow, VwGO § 123 Rdnrn. 78 ff.). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Dabei sind die diesbezüglichen Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) NJW 1997, 479, 480 f.; NJW 2003, 1236 f.; Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 (JURIS); Puttler in Sodan/Zietow, a.a.O. Rdnrn. 95, 99 ff.). Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind daher bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen u.U. nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; ggf. ist eine Folgenabwägung vorzunehmen (vgl. BVerfG NVwZ 1997, a.a.O.; Beschluss vom 12. Mai 2005 a.a.O.). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. z.B. Beschlüsse vom 15. Juni 2005 - L 7 SO 1594/05 ER-B -, 1. August 2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B - und 17. August 2005 - L 7 SO 2117/05 ER-B - (alle m.w.N. aus der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung); Schoch in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, a.a.O. Rdnrn. 165 ff.; Puttler in Sodan/Zietow, a.a.O. Rdnr. 79; Funke-Kaiser in Bader u.a., a.a.O. Rdnr. 62).

Hier ist bereits bei summarischer Prüfung ein Anordnungsanspruch zu bejahen. Zunächst geht der Senat davon aus, dass der Antragsteller gegen den Bescheid vom 26. April 2005 rechtzeitig (vgl. § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG) Widerspruch eingelegt hat. Dabei kann es im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes offen bleiben, ob das vom Antragsteller zu den Akten des Beschwerdeverfahrens (wie schon zuvor des Verfahrens S 12 SO 2960/05 ER) gereichte Widerspruchsschreiben vom 19. Mai 2005 überhaupt fristgerecht bei der Antragsgegnerin eingegangen ist, was diese in Abrede stellt. Denn selbst wenn dies nicht der Fall wäre, was ggf. im weiteren Verfahrensverlauf noch abzuklären wäre, dürfte zumindest in dem im Verfahren des SG (S 12 SO 2343/05 ER) am 18. Mai 2005 zu den Akten gelangten Schreiben des Antragstellers vom selben Tage der Widerspruch zu sehen sein (vgl. hierzu Bundessozialgericht (BSG) SozR 3-1500 § 78 Nrn. 3 und 5 (beide m.w.N.)). Jedenfalls dürfte mit der Antragsgegnerin davon auszugehen sein, dass der vorgenannte Verwaltungsakt - schon in Ansehung des vom Antragsteller mit dem weiteren Widerspruchsschreiben vom 26. April 2005 angefochtenen ganz anderen Regelungsgegenstandes (Miete für die alte Wohnung) - nicht über § 86 SGG Gegenstand des Vorverfahrens wegen des Bescheides vom 11. April 2005 geworden ist. Auch in der Sache spricht eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg des Begehrens des Antragstellers in der Hauptsache.

Umstritten ist im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein, ob das monatliche Betreuungsentgelt von EUR 137,77, das der Antragsteller nach seinem Umzug in eine Wohnung im Betreuten Seniorenwohnen ab 1. Mai 2005 auf der Grundlage des § 3 des Wohnungsmietvertrages vom 14./15. April 2005 i.V.m. § 3 Ziff. 1 Buchst. a des Betreuungsvertrages vom 25. April 2005 zu zahlen hat (vgl. zum regelmäßig mietvertraglichen Charakter derartiger Einrichtungen Schmidt-Futterer, Mietrecht, 8. Auflage, vor § 535 Rdnr. 105 m.w.N.), von der Antragsgegnerin in voller Höhe zu übernehmen ist. Durch den Bescheid vom 26. April 2005 hat die Antragsgegnerin dem Antragsteller (in teilweiser Abänderung des Bescheides vom 11. April 2005) ab 1. Mai 2005 bis zum 31. Dezember 2005 Grundsicherungsleistungen in Höhe von monatlich EUR 744,42 bewilligt, wobei sie neben dem Regelbedarf (§ 42 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII)), dem Mehrbedarf (§ 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 30 Abs. 5 SGB XII), der Übernahme der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge (§ 42 Satz 1 Nr. 4 i.V.m. § 32 SGB XII) und der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung (§ 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 29 SGB XII) auch einen sonstigen laufenden Bedarf in Form einer "Betreuungspauschale" - diese allerdings lediglich in Höhe von EUR 99,70 - anerkannt hat. Derzeit nicht gedeckt ist mithin der aus dem Betreuungsentgelt resultierende Rest von EUR 38,07; auch dieser Betrag ist indes von der Antragsgegnerin, da ebenfalls zum notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des § 41 Abs. 1 i.V.m. § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB XII gehörend, bei der hier gebotenen zusammenfassenden Würdigung zu übernehmen. Darauf, dass der vorgenannte Restbetrag durch den Regelsatz des § 42 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 SGB XII abgegolten ist, hat sich die Antragsgegnerin selbst nicht berufen. Sie sieht sich allerdings durch die Sozialhilferichtlinien sowie den Beschluss des Verwaltungsausschusses vom 30. Juni 1999 an einer vollen Kostenübernahme gehindert. Sie splittet die "Betreuungspauschale" in eine eigentliche "Betreuungspauschale" von EUR 63,91 sowie in eine "Notrufpauschale" von EUR 35,79 und ist weiter der Auffassung, dass die erstgenannte dieser beiden Positionen im Rahmen des § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII zu übernehmen sei, während sie die "Notrufpauschale" nur "freiwillig" leiste. Dem vermag sich der Senat schon vom Ansatz her nicht anzuschließen.

Mit dem Antragsteller ist auch der Senat der Ansicht, dass das monatliche Betreuungsentgelt in Höhe von EUR 137,77 einen Kostenfaktor darstellt, der für jenen unausweichlich ist. Der Antragsteller ist nach § 5 Abs. 3 des Mietvertrags vor Beginn des Mietverhältnisses zum Abschluss eines Betreuungsvertrags mit dem Träger der Betreuung verpflichtet gewesen. Das mit diesem im Betreuungsvertrag vereinbarte Betreuungsentgelt von EUR 137,70 ist nach § 3 des Mietvertrags Bestandteil der Miete (Gesamtmiete EUR 508,00); der Antragsteller wäre mithin selbst ohne Inanspruchnahme der Dienste mietvertraglich zur Zahlung verpflichtet (vgl. hierzu Landgericht Krefeld NJW-RR 2001, 225; Bultmann DW 2004, 42, 43). Da das Betreuungsentgelt sonach nicht zur Disposition des Antragstellers steht, ist diese Position nach Auffassung des Senats zu den Kosten der Unterkunft im Sinne des § 29 SGB XII zu rechnen (vgl. dazu BVerwGE 100, 136, 138; 115, 256, 258). Diese Nebenkosten erwachsen dem Antragsteller zwangsläufig selbst dann, wenn es in Stuttgart auch Anbieter von Seniorenwohnungen mit niedrigeren Betreuungsentgelten gibt. Der Kostenfaktor des Betreuungsentgelts der konkret angemieteten Wohnung darf daher - sofern, wie hier, nicht zur Disposition des Leistungsberechtigten stehend - regelmäßig nicht aus den sozialhilferechtlich anzuerkennenden Unterkunftskosten herausgerechnet werden, es sei denn, die allgemeinen Grundsätze über die sozialhilferechtliche Angemessenheit der Unterkunftskosten unter Berücksichtigung des Wunschrechts nach § 9 Abs. 2 Sätze 1 und 3 SGB XII ließen eine abweichende Beurteilung zu (vgl. BVerwGE 97, 110, 112 ff.; 115, 256, 259). Dazu, dass die vorliegenden Unterkunftskosten indes in ihrer Gesamtheit (vgl. hierzu nochmals BVerwGE 115, 256, 259; Berlit in LPK-SGB XII § 29 Rdnr. 16), d.h. auch unter Berücksichtigung des vorstehenden Kostenfaktors, nicht angemessen sind, hat die Antragsgegnerin selbst nichts vorgebracht; derartige Umstände sind auch sonst nicht ersichtlich, zumal diese jedenfalls für die alte Wohnung Unterkunftskosten von insgesamt EUR 536,03 für angemessen erachtet hatte. Ob die Antragsgegnerin, namentlich nachdem die Seniorenwohnung dem Antragsteller von ihrem Amt für Liegenschaften und Wohnen - unter Androhung der Streichung aus der Vormerkungsliste im Fall nicht rechtzeitiger Meldung beim Vermieter oder Ablehnung ohne triftigen Grund - vorgeschlagen worden war, weitergehende Beratungspflichten im Rahmen des § 14 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch getroffen hätten (vgl. hierzu BVerwG Buchholz 436.0 § 2 BSHG Nr. 11; ferner Paul ZfS 2005, 145, 149), kommt es deshalb vorliegend nicht weiter an.

Der Anordnungsgrund, nämlich die besondere Dringlichkeit für den Erlass einer einstweiligen Anordnung, ergibt sich bereits daraus, dass die Grundsicherungsleistung ohne die volle Übernahme des Betreuungsentgelts auf jeden Fall das Existenzminimum unterschreitet. In Anbetracht der existentiellen Bedeutung der vorliegend in Rede stehenden Leistung für den Antragsteller, die ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache, auch unter dem Gesichtspunkt effektiven Rechtsschutzes, unzumutbar erscheinen lässt, sowie der hohen Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs seines Begehrens in einem derartigen Verfahren ist hier eine Ausnahme von dem in Rechtsprechung und Literatur diskutierten - vom Senat insbesondere für den Bereich der Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und dem SGB XII in dieser Schärfe ohnehin bezweifelten - generellen Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache (vgl. hierzu Keller in Meyer-Ladewig, a.a.O. § 86b Rdnr. 31; Funke-Kaiser in Bader u.a., a.a.O. § 123 Rdnr. 58 (beide m.w.N.)) zu machen (vgl. dazu BVerwG Buchholz 310 § 123 VwGO Nr. 15; Thüringer Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 18. Februar 1999 - 2 EO 816/98 - (JURIS); Funke-Kaiser in Bader u.a., a.a.O.; Berlit, info also 2005, 3, 8 f.).

Allerdings war der Zeitraum der einstweiligen Anordnung auf die Zeit bis zum bestandkräftigen Abschluss des Widerspruchsverfahrens, längstens jedoch bis zum 31. Dezember 2005 zu begrenzen. Die zeitliche Begrenzung zum Endtermin berücksichtigt, dass die dem Antragsteller bewilligten Grundsicherungsleistungen bis zum vorgenannten Datum zeitlich befristet sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG (vgl. BSG SozR 3-1500 § 193 Nr. 6); dabei hat der Senat mit Blick auf das ganz überwiegende Obsiegen des Antragstellers eine Kostenquotelung nicht für angemessen erachtet.

Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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