L 5 KR 4180/05 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 9 KR 2432/05 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 KR 4180/05 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur Folgenabwägung im einstweiligen Anordnungsverfahren bei der Versorgung von Patienten mit lebensbedrohlichen Erkrankungen mit nicht arzneimittelrechtlich zugelassenen Arzneimitteln. Ein off-label-use ist bezüglich des Arzneimittels Herceptin in der adjuvanten Brustkrebstherapie dann zulässig, wenn diese Behandlung eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder zumindest eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf verspricht.
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Heilbronn vom 14. September 2005 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin auch die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

I.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Antragstellerin Anspruch auf Versorgung mit dem Medikament "Herceptin" hat.

Die 1963 geborene Antragstellerin (im folgenden: Klägerin) ist bei der Antragsgegnerin (im folgenden: Beklagte) krankenversichert. Sie ist an Brustkrebs erkrankt. Die Klägerin beantragte bei der Beklagten am 02.06.2005 unter Vorlage von Berichten über die Wirkungsweise des Medikaments "Herceptin" dessen Kostenübernahme.

"Herceptin" wird von H.hergestellt; es handelt sich um einen humanisierten Antikörper, der gezielt die Funktion des HER-2-Proteins blockiert. Das verschreibungspflichtige Arzneimittel ist zur Behandlung von Patienten mit metastasierendem Mammakarzinom indiziert, deren Tumoren HER2 überexprimieren: 1. als Monotherapie zur Behandlung von Patienten, die mindestens zwei Chemotherapieregime gegen ihre metastasierte Erkrankung erhalten haben, 2. in Kombination mit anderen Medikamenten zur Behandlung von Patienten, die noch keine Chemotherapie gegen ihre metastasierte Erkrankung erhalten haben.

Das Arzneimittel ist nur bei Patienten anzuwenden, deren Tumore entweder eine HER2-Überexpression oder eine HER2-Genamplikation aufweisen und hat Nebenwirkungen, insbesondere bei Patienten mit symptomatischer Herzinsuffizienz, Hypertonie oder koronarer Herzerkrankung. "Herceptin" wird als intravenöse Infusion verabreicht und enthält den Wirkstoff Trastuzumab. Es wurde bisher zur Behandlung von Patientinnen mit fortgeschrittenem (metastatischem) Brustkrebs, deren Tumor das Protein HER2 übermäßig exprimierte, als Monotherapie zugelassen. Im Jahr 2004 erhielt es auch die Zulassung als anfängliche Kombinationstherapie mit einem anderen Medikament für HER2-positive Patientinnen, die noch keine Chemotherapie gegen ihre metastatische Erkrankung erhalten hatten. Nach einem Bericht des Deutschen Ärzteblatts vom 26.04.2005 ergaben die Zwischenauswertungen von Phase-III-Studien in den USA (National Cancer Institute: Studie B-31 des National Surgical Breast and Bowel Project und Studie N9831 der North Central Cancer Treatment Group) erheblich verbesserte Prognosen in Erkrankungsfällen, in welchen der Tumor noch nicht fernmetastasiert hatte. Für die adjuvante Therapie besitzt "Herceptin" weder die deutsche noch eine europaweite Zulassung. Die European Medicines Agency geht davon aus, dass der Hersteller H.die Zulassung von Herceptin für Brustkrebspatientinnen im Frühstadium Anfang 2006 beantragen werde.

Die Beklagte veranlasste die Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens über die Klägerin beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK). Dr. Grau vom MDK erstattete sein Gutachten am 30.06.2005. Er diagnostizierte ein nodal-positives Mammakarzinom links, HER2-neu positiv. Die Versicherte sei im Tumorstadium T1c. Bei der Klägerin liege keine metastasierte Situation vor, die Überexpression von HER2-neu sei jedoch nachgewiesen. Neuere Daten mehrer randomisierter Studien deuteten daraufhin, dass von einem Behandlungsvorteil durch die Behandlung von "Herceptin" auch bei Patientinnen mit Mammakarzinom und nachgewiesener Überexpression von HER2-neu in der nicht metastasierten Erkrankungssituation ausgegangen werden könne. Eine abschließende Auswertung der Daten stehe noch aus, jedoch könne anhand der vorliegenden Daten angenommen werden, dass der Behandlungsvorteil belegbar sei. Zu bedenken sei bei der Behandlung mit Trastuzumab allerdings ein erhöhtes kardiales Risiko. Eine Behandlung mit "Herceptin" zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung sei aufgrund der bisherigen Datenlage und ohne Vorliegen eines Votums des Bundesausschusses nicht vorgesehen. Die medizinischen Voraussetzungen für die Leistung seien nicht erfüllt.

Unter Hinweis auf das Gutachten von Dr. G. lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 05.07.2005 die Kostenübernahme der Behandlung mit "Herceptin" ab. Welche Leistungen Ärzte mit Krankenkassen abrechnen dürften, entscheide der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen. Die Leistungen müssten dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen sowie wirtschaftlich und zweckmäßig sein. Das Medikament "Herceptin" erfülle diese Voraussetzungen derzeit nicht. Daher könnten die Kosten nicht übernommen werden. Die Klägerin erhob am 05.08.2005 Widerspruch. Sie machte geltend, die Behandlung mit "Herceptin" sei von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG v. 19.03.2002, B 1 KR 37/00 R) sei eine Leistungspflicht für den zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln (sog. off-label-use) dann zu bejahen, wenn kumulativ eine schwerwiegende, lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung vorliege, keine andere Therapie verfügbar sei und auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht bestehe, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden könne. Diese Voraussetzungen seien im Fall der Klägerin erfüllt. Die Brustkrebserkrankung der Klägerin sei eine schwerwiegende Erkrankung im so genannten Sinne, weil jede Krebserkrankung potentiell tödlich und damit lebensbedrohlich sei. Die Klägerin habe keine Therapiealternativen, welche das Auftreten von Rezidiven in gleichem Maße vermieden und damit ihrer Überlebenschance verbesserten. Der Einsatz von "Herceptin" in der vorliegenden Behandlungssituation entspreche dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens und dem Konsens der einschlägigen Fachkreise. Es bestehe die begründete Aussicht, dass ein Behandlungserfolg zu erzielen sei. Die adjuvante Therapie von Brustkrebspatientinnen mit einer HER2-neu-Überexpression mit dem Arzneimittel "Herceptin" (bzw. dessen Wirkstoff Trastuzumab) sei bislang weltweit in vier großen, randomisierten Phase-III-Studien untersucht worden. Sowohl die gemeinsame Zwischenauswertung der beiden US-amerikanischen Phase-III-Adjuvanz-Studien mit "Herceptin" als auch eine Interimsanalyse der HERA-Studie seien ausgesprochen positiv ausgefallen. Aufgrund dieser Studienergebnisse werde der adjuvante Einsatz von Herceptin bei Brustkrebspatientinnen mit HER2-neu-Überexpression einheitlich von den einschlägigen Fachgesellschaften empfohlen. Es bestehe insoweit der vom Bundessozialgericht geforderte Konsens über den voraussichtlichen Erfolg der Behandlung: Die Fachgesellschaften Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie, die Arbeitsgemeinschaft gynäkologische Onkologie und das National Comprehensive Cancer Network sprächen sich in ihren Leitlinien eindeutig für eine "Herceptin"-Therapie aus.

Die Behandlungssituation der Klägerin entspräche denjenigen, die Gegenstand der vorzitierten Studien gewesen seien, welches durch das Gutachten von Priv.-Dozent Dr. M. U. vom 03.08.2005 belegt werde. Dr. U. kam in seinem Gutachten vom 03.08.2005 zu dem Ergebnis, dass die Klägerin unter einem Mammakarzinom, primär brusterhaltend operiert am 27.09.2004, leide. Derzeit bestehe ein Zustand nach anthrazyklin- und taxanhaltiger adjuvanter Chemotherapie, HER2-neu sei dreifach positiv. Zur adjuvanten Antikörpertherapie mit dem Medikament Trastuzumab ("Herceptin") bei HER2-neu überexprimierenden Mammakarzinom-Patienten gebe es drei wissenschaftliche Berichte von der Jahrestagung der amerikanischen Gesellschaft für klinische Onkologie, welche Änderungen der Leitlinien der kanadischen Richtlinienkommission, der amerikanischen Leitlinienkommission sowie auch der deutschen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft gynäkologische Onkologie und der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie veranlasst hätten. Die Klägerin befinde sich in einer Hochrisikosituation. Die Zehnjahresfrist für die freie Überlebensrate betrage ohne adjuvante Therapie etwa 25 %, die Gesamtüberlebensrate knapp 35 %. Etwa 65 % der Patientinnen in dem Tumorstadium, wie es bei der Klägerin vorliege, verstürben ohne adjuvante Therapie innerhalb von 10 Jahren nach Primärdiagnose an ihrer Erkrankung. Durch eine Chemotherapie seien zusätzlich etwa 20 % der Patientinnen nach 10 Jahren noch am Leben. Trotzdem betrage die Mortalität auch nach optimaler moderner Chemotherapie etwa 40 bis 45 %. Durch eine herceptinhaltige adjuvante Therapie könne die Überlebenschance der Klägerin um 30 bis 40 % verbessert und das Rezidivrisiko um 50 % gesenkt werden. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus den insgesamt drei internationalen Studien mit über 15.000 teilnehmenden Patientinnen ließen keinen Zweifel daran, dass eine adjuvante Herceptintherapie nunmehr zum Standard in der adjuvanten Situation bei Patientinnen mit einer HER2-neu-Überexpression gehörten. Insofern könne der Klägerin die adjuvante Herceptintherapie für die Dauer von einem Jahr uneingeschränkt empfohlen werden.

Die Klägerin beantragte gleichzeitig mit Erhebung des Widerspruchs am 05.08.2005 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Heilbronn (SG). Sie hat sich auf ihr Vorbringen im Widerspruch bezogen und ergänzt, dass angesichts der drohenden Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes und der zu erwartenden Dauer des Vorverfahrens umgehend gerichtliche Hilfe erforderlich sei, um die notwendige Behandlung zu gewährleisten. Ein Aufschub sei ihr nicht zumutbar. Auch sei die Klägerin nicht in der Lage, die Therapiekosten von durchschnittlich 2.600,00 EUR pro Monat selbst aufzubringen. Das ihr nach Abzug von Kranken- und Rentenversicherungsbeitrag, Kredit- und Hausversorgungskosten sowie Kraftfahrzeugkosten verbleibende monatliche Einkommen belaufe sich derzeit auf etwa 1.100,00 EUR. Von diesem Betrag müsse die Antragstellerin neben den allgemeinen Lebenshaltungskosten bereits jetzt eigene Aufwendungen für Krankheitskosten bestreiten. Die zusätzliche Kosten der Krebstherapie überstiegen ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Angesichts der drohenden gravierenden Nachteile für die Klägerin sei die begehrte einstweilige Anordnung zu erlassen. Dies ergebe sich u. a. aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 22. November 2002, in welchem entschieden worden sei, dass eine Folgenabwägung vorzunehmen sei.

Die Klägerin fügte ein Gutachten von Prof. Dr. D. vom Zentrum für ganzheitliche Gynäkologie in M. bei. In seinem Gutachten vom 04.08.2005 benennt Prof. Dr. D. eine Mammakarzinomerkrankung der Klägerin mit einem Tumorgrading II bis III und dreifach positivem HER2-neu Index. Die Klägerin sei im September 2004 brusterhaltend operiert worden und habe sich einer Chemotherapie sowie einer Bestrahlung, endokrinen Therapie und einer Behandlung mit Anastrozol unterzogen. Bei der Klägerin bestehe eine Hochrisikosituation des Brustkrebses. Für diese Einschätzung sprächen die befallenen Lymphknoten in der Achselhöhle sowie der negative Östrogenrezeptor, das Tumorgrading II bis III, das junge Alter und insbesondere der Nachweis des HER2-neu-positiven Primärtumors. Bislang habe es keine Möglichkeit einer entscheidenden therapeutischen Verbesserung gegeben. Dies habe sich inzwischen geändert: Seit Mai 2005 sei durch die öffentliche Darstellung der adjuvanten Herceptinstudien auf der Tagung der amerikanischen Gesellschaft für klinische Onkologie bekannt geworden, dass dieses Medikament in der postoperativen Situation zu einer Mortalitätsreduktion von ca. 30 % und zu einer Rezidivreduktion von 50 % innerhalb von zwei Jahren nach Beobachtungszeit geführt habe. Die Ergebnisse von drei der vier laufenden Studien seien in ihrer Gesamtaussage übereinstimmend. In den vier Studien seien insgesamt 14.000 Patientinnen eingeschlossen gewesen, diese hohe Zahl an behandelten Frauen begründe eine hohe Aussagekraft. Die endgültige Publikation der Studien werde für Herbst 2005 erwartet. Der Klägerin sei dringend geraten, schnellstens mit einer adjuvanten Herceptinbehandlung zu beginnen. Hierzu gäbe es keine Alternative, aus onkologischer Erfahrung sei mit großer Sicherheit zu erwarten, dass der Effekt einer adjuvanten Herceptintherapie auch einige Monate nach Primärbehandlung die gewünschte Wirkung zeigen werde. Die Verweigerung dieser Therapie müsse als in hohem Maße unethisch bezeichnet werden.

Die Beklagte hat dagegen auf das sozialmedizinische Gutachten von Dr. E. vom MDK verwiesen, wonach die derzeitig verfügbare Erkenntnislage es nicht erlaube, grundsätzlich für alle Patientinnen mit einem primären HER2-neu-positivem Mammakarzinom eine adjuvante Transtuzumabtherapie zu empfehlen. Die Zwischenauswertung der internationalen Studie zeige, dass für einige Subkollektive mit einem HER2-neu-positivem Mammakarzinom eine adjuvante Trastzumabtherapie nach Abschluss einer Chemotherapie medizinisch begründet sein könne, da ein Nutzen für die Patientinnen durch die Verbesserung ihres krankheitsfreien Überlebens erwartet werden dürfe. Aufgrund der Datenlage mit kurzem Beobachtungszeiträumen und unzureichenden Erkenntnissen über Nebenwirkungen im Langzeitverlauf, insbesondere bezüglich der klinisch relevanten Kardiotoxität, sei es jedoch erforderlich, für den individuellen Einzelfall eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung durchzuführen. Die verfügbaren vorläufigen Daten der Studien ergeben keinen klinischen Nutzen einer Gabe von Trastuzumab nach Abschluss einer adjuvanten Therapie mit Anthrazyklinen und Taxahmen, wie sie die Klägerin in Anschluss an ihre Operation erhalten habe. Die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme im Rahmen eines off-label-use sei daher aus gutachterlicher Sicht nicht gegeben. Die Beklagte schloss sich diesen Ausführungen an.

Das SG hat dem Antrag der Klägerin mit Beschluss vom 14.09.2005 stattgegeben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig eine Behandlung mit dem Arzneimittel "Herceptin" als Sachleistung zur Verfügung zu stellen. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund seien gegeben. Zwar umfasse der Anspruch auf Krankenbehandlung grundsätzlich nicht die Verordnung von nicht zugelassenen Arzneimitteln, dieser Umstand stehe dem von der Klägerin geltend gemachten Anspruch jedoch nicht entgegen, weil die Voraussetzungen des ausnahmsweisen Versorgungsanspruches mit einem Arzneimittel außerhalb des Zulassungsbereiches vorlägen. Die Klägerin sei schwerwiegend erkrankt, eine andere Therapie nicht verfügbar und es bestehe auch die begründete Aussicht, dass mit Herceptin ein Behandlungserfolg erzielt werden könne. Der Anordnungsgrund sei gegeben, weil die Antragstellerin mit der umstrittenen Therapie beginnen müsse, um einer Gefährdung ihrer Gesundheit und ihres Lebens durch die metastasierende Brustkrebserkrankung entgegen zu wirken. Es sei der Antragstellerin nicht zuzumuten, auf die Zulassung zu warten.

Gegen die ihr am 15.09.2005 zugestellte Entscheidung hat die Beklagte am 12.10.2005 Beschwerde eingelegt. Das SG Heilbronn habe die entscheidenden sozialmedizinischen Gutachten des MDK ungenügend berücksichtigt. Die Ergebnisse auf Basis der Phase-III-Studien belegten, dass kein Nutzen einer adjuvanten Trastuzumabtherapie nach Abschluss einer adjuvanten Anthrazyklin/taxanhaltigen Chemotherapie bei Patientinnen mit einem HER2-neu-positivem Mammakarzinom habe beobachtet werden können.

Zur Begründung ihrer ablehnenden Haltung bezog sich die Beklagte auf eine Stellungnahme des Referatsleiters Onkologie beim MDK Baden-Württemberg Dr. Dr. E. vom 25.08.2005, eine Stellungnahme des Kompetenzzentrums Onkologie des MDK Nordrhein von Prof. Dr. H. sowie Dr. Z. vom 12.08.2005, eine ergänzende Stellungnahme des Kompetenzzentrums Onkologie durch Dr. Z. vom 29.09.2005 und vom 16.12.2005 sowie ein Gutachten über die Möglichkeit der Leistungsgewährung für die Klägerin, erstattet durch Frau Dr. Z. vom 04.10.2005. Prof. Dr. H. und Dr. Z. kamen in ihrem Gutachten vom 12.08.2005 zu dem Ergebnis, dass die derzeitig verfügbare Erkenntnislage es nicht erlaube, grundsätzlich für alle Patientinnen mit einem primären HER2-neu-positivem Mammakarzinom eine adjuvante Trastuzumabtherapie zu empfehlen. Die Zwischenauswertung internationaler Studien zeige auf, dass eine adjuvante Trastuzumabtherapie nach Abschluss der adjuvanten oder neoadjuvanten Chemotherapie für einige Untergruppen (=Subkollektive) mit einem HER2-neu positivem Mammakarzinom medizinisch begründet sein könnte, weil ein Nutzen für die Patientinnen durch die Verbesserung ihres krankheitsfreien Überlebens erwartet werden könne. Unklar sei noch, ob sich dieser Vorteil im krankheitsfreien Überleben auch auf ein verbessertes Gesamtüberleben übertrage. Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass der Rezidiveintritt lediglich verzögert werde, so dass sich kein signifikanter Überlebensvorteil ergebe und ein relevanter Nutzen dieser Behandlung deswegen nicht mehr gegeben sei. Aufgrund der Datenlage mit kurzen Beobachtungszeiträumen und unzureichenden Kenntnissen über Nebenwirkungen im Langzeitverlauf sei es erforderlich, für den individuellen Einzelfall eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung durchzuführen. Bei Patientinnen mit nodal-positivem Mammakarzinom werde eine Verordnung von Trastuzumab nach angewandter Therapie mit TAC zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung sozialmedizinisch nicht empfohlen. Bei Patientinnen mit nodal-positivem Mammakarzinom ohne Behandlung mit TAC sei die Nutzenbewertung, insbesondere bei HER2-Überexpression schwierig. In den US-amerikanischen Studien habe sich gezeigt, dass durch Zugabe von Trastuzumab parallel zur ersten Parklitaxalgabe die Ereignisrate (Rezidiv, zweites Karzinom, Tod) signifikant habe gesenkt werden können. Hier könne im Einzelfall eine zulassungsüberschreitende Anwendung bzw. Verordnung von Trastuzumab für insgesamt 52 Therapiewochen sozialmedizinisch empfohlen werden. Diese Empfehlung gelte nicht für Patientinnen, bei denen die Chemotherapie mit vier Kursen ARCE gefolgt von vier großen Parklitaxal bereits abgeschlossen und der Beginn der Trastuzumabtherapie erst anschließend geplant sei.

Dr. E. kam in seiner Stellungnahme vom 25.08.2005 in der Subgruppenanalyse der Studienergebnisse zu dem Ergebnis, dass in jener Untergruppe, welche sowohl Anthrazykline als auch Taxane adjuvant erhalten habe, keine Überlegenheit der Trastuzumabtherapie im Vergleich zur Kontrolle habe belegt werden können. Patientinnen, die Anthrazykline und Taxane erhalten hätten, zeigten keine verbesserten Raten für das krankheitsfreie Überleben. Infolge dessen erlaube es die derzeitlich verfügbare Erkenntnislage nicht, grundsätzlich für alle Patientinnen mit einem primären HER2-neu-positivem Mammakarzinom eine adjuvante Trastuzumabtherapie zu empfehlen.

Die Stellungnahmen des Kompetenzzentrums Onkologie vom 29.09.2005 und vom 16.12.2005 aktualisieren die Einschätzung vom 12.08.2005. In ihrem Gutachten vom 04.10.2005 über die Klägerin kommt Dr. Z. zu dem Ergebnis, dass aufgrund des axilliären Tumorbefalles (4 von 13 Lymphknoten) der Einsatz von Anthrazyklinen und Taxanen bei der Klägerin für eine Chemotherapie indiziert gewesen sei. Im konkret vorliegenden Behandlungsfall bestünden nach Abschluss der sequenziellen Chemotherapie keine Anhaltspunkte, dass eine adjuvante Transtuzumabtherapie Aussicht auf Erfolg biete, weil die Klägerin zur Subgruppe der HERA-Studie mit Anthrazyklin/Taxan-vorbehandelten Patientinnen gehöre, welche durch eine zusätzliche adjuvante Trastuzumabtherapie für das krankheitsfreie Überleben keine verbesserte Rate gehabt hätten. Es fehle daher der Beleg, dass eine Verbesserung der Rezidivwahrscheinlichkeit durch die adjuvante Antikörpertherapie bei der Patientin möglich sei bzw. zu erwarten stehe. "Herceptin" erhöhe lediglich das Risiko zur Entwicklung kardialer Nebenwirkungen ohne begründete Aussicht auf eine klinisch oder prognostisch relevante Verbesserung ihrer Erkrankung im Vergleich zur Chemotherapie. Folge man den Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft gynäkologische Onkologie, sei bei Patientinnen mit primärem HER2-neu-positivem Mammakarzinom eine adjuvante Trastuzumabtherapie nur simultan zu Taxanen oder nach anthrazyklinhaltiger Chemotherapie empfohlen. Ein adjuvanter Trastuzumabeinsatz nach Abschluss einer Anthrazyklin/taxanhaltigen Chemotherapie werde in den Therapieleitlinien nicht empfohlen. Die positiven Ergebnisse amerikanischer Zwischenauswertungen von Studien durch einjährige Trastuzumabtherapie könnten nicht auf die hier vorliegende Patientensituation übertragen werden. In die dortige gepoolte Analyse seien ausschließlich Patientinnen eingegangen, die den Antikörper zeitgleich beginnend zu einer Paclitaxel-Chemotherapie nach vier Zyklen Doxorubicin/Cyclophosphanid erhalten hatten und eben nicht nach Abschluss einer adjuvanten Chemotherapie. Dieser Aspekt sei für die Bewertung des vorliegenden Patientinnenfalles bisher unzureichend berücksichtigt worden. Die Kriterien des Bundessozialgerichtsurteils vom 19.03.2002 zur Empfehlung eines off-label-use-Einsatzes von Trastuzumab seien bei der Patientin daher nicht erfüllt. In der Stellungnahme vom 16.12.2005 werden die eingereichten Publikationen und die Pressemitteilung gewürdigt und das Gutachten von PD Dr. U. kritisiert, die Auswertung einer Studie widerlege dessen Ansicht, dass eine Trastuzumabgabe nach Anthrazyklinen/Taxanen das krankheitsfreie Überleben im Vergleich zur alleinigen Chemotherapie verbessere. Ein gesicherter Wirksamkeitsbeleg fehle, die Therapieempfehlungen seien mangels Konsenses in der Ärzteschaft nicht einheitlich.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Heilbronn vom 14. September 2005 aufzuheben und den Antrag der Antragstellerin, das Arzneimittel Herceptin bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache als Sachleistung zur Verfügung zu stellen, soweit ihr dieses vertragsärztlich verordnet wird, zurückzuweisen.

Die Antragstellerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend und verweist auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98).

Die Klägerin trägt vor, die Beklagte anerkenne ihre schwerwiegende Erkrankung. Zu "Herceptin" bestünden keine Therapiealternativen, denn sämtliche Standardtherapien habe sie bereits durchgeführt. Die bisher angewandte anthrazyklin- und taxanhaltige Chemotherapie trage der hohen Aggressivität der Erkrankung Rechnung. Das beigefügte Gutachten von PD Dr. U. vom 23.11.2005 zeige, dass die Gruppe der Patientinnen, die, wie die Klägerin, sowohl mit Anthrazyklinen als auch mit Taxanen behandelt worden sei, zwar kleiner gewesen sei, als die Gruppe, welche nur Anthrazykline erhalten hätten. Gleichwohl habe die Subgruppe, der die Klägerin angehöre (also die nach der Behandlung mit Anthrazyklinen und Taxanen) eine Risikoreduktion von 23 % verzeichnen können. Die Untergruppenanalyse ergebe also durchaus einen therapeutischen Nutzen für die Klägerin, zumal der Nutzen (benefit) bei längerem Beobachtungsverlauf (follow-up) höher sein sollte, weil Rezidive und Metastasen bei HER2-neu-positiven Patientinnen trotz optimaler adjuvanter Therapie nach etwa zwei Jahren Nachbeobachtung aufträten. Ernsthafte kardiale Nebenwirkungen seien mit 0,54 % nicht häufig und gegenüber dem Gewinn der Behandlung zu vernachlässigen.

Nicht zuzustimmen sei der Auffassung von Dr. Z., wonach die allein zeitliche Verbesserung des krankheitsfreien Überlebens kein Nutzen von Relevanz sei, denn jede Verlängerung des krankheitsfreien Zeitintervalls sei für die Klägerin von erheblicher Bedeutung. Die Neutralität des vom MDK getragenen Instituts, welches allein der gesamten medizinischen Fachwelt widerspreche, müsse bezweifelt werden.

PD. Dr. U. hat in seiner Stellungnahme vom 23.11.2005 darauf hingewiesen, dass seit dem 20.10.2005 die Vollversion der Publikation der adjuvanten Herceptinstudien vorliege. Eine Pressemeldung der Herstellerfirma G. zur Auswertung der vierten internationalen Studie der BCIRG liege vor. Dabei zeige sich, dass eine Dreierkombination aus Taxan/Platin und "Herceptin" bzw. eine von Taxan und "Herceptin" gefolgte Behandlung von Anthrazyklin einer nicht herceptinhaltigen Chemotherapie in einer großen internationalen Studie mit über 3.200 Patientinnen deutlich überlegen sei. Hier habe eine über 50%ige Risikoreduktion in Bezug auf Rezidiv und Metastasierung durch die Hinzunahme von "Herceptin" zu einer anthrazyklin-taxanhaltigen Chemotherapie gezeigt werden können.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die von der Beklagen vorgelegten Verwaltungsakten verwiesen.

II.

Die Beschwerde der Beklagten ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt und statthaft (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Sie ist jedoch unbegründet. Der Beschluss des SG ist im Ergebnis nicht zu beanstanden, die Klägerin hat bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren Anspruch auf die Versorgung mit dem Arzneimittel "Herceptin" als Sachleistung, soweit ihr dieses vertragsärztlich verordnet wird. Zur Sicherung der Rechte der Klägerin war die Beschwerde der Beklagten gegen die Entscheidung des SG zurückzuweisen.

Der Eilantrag der Klägerin ist zulässig.

Ihr Rechtsschutzbedürfnis scheitert nicht daran, dass der Wirkstoff Trastuzumab von der Herstellerfirma H. weiterhin in Studien - für die teilnehmenden Patientinnen - kostenfrei erprobt wird. Denn es ist weder vorgetragen noch erkennbar, dass die Klägerin eine realistische Möglichkeit hätte, als Teilnehmerin im Rahmen einer Studie des Herstellers oder einer Institution diesen Zugang zum Medikament "Herceptin" zu erhalten.

Der Antrag ist auch begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des betreffenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Anträge sind nach Absatz 3 der Vorschrift schon vor Klagerhebung zulässig. Die hier in Betracht kommende Regelungsanordnung (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG) ist zu treffen, weil sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund glaubhaft gemacht (§§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG, 920 Abs. 2 ZPO) worden sind.

Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes bei der Regelungsanordnung setzt einen materiellen Anspruch (Anordnungsanspruch) und besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) voraus. Zwar sind, wie auch im übrigen sozialgerichtlichen Verfahren, der Sachverhalt durch Amtsermittlung aufzuklären und die Grundsätze der objektiven Beweislast zu beachten, angesichts der Eilbedürftigkeit einer Entscheidung genügt es aber, dass Tatsachen glaubhaft, also überwiegend wahrscheinlich gemacht werden. Überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordert, dass mehr dafür als dagegen spricht. Infolgedessen genügt im einstweiligen Rechtsschutzverfahren grundsätzlich eine summarische Prüfung der Rechtslage des Hauptsacheverfahrens und der für die erforderliche Interessenabwägung maßgeblichen Gesichtspunkte.

Die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes in Hinblick auf fehlende Erfolgsaussichten ist, wenn Grundrechte tangiert sind, allerdings nur nach eingehender Prüfung zulässig, eine summarische Prüfung im vorbenannten verkürzten Umfang ist dann nicht möglich (st. Rspr. des BVerfG, zuletzt Kammerbeschluss vom 22.11.2002 in 1 BvR 1586/02 und Senatsbeschluss vom 06.12.2005, 1 BvR 347/98). Denn Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) verlangt nach Auffassung des BVerfG auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Orientieren sich die Gerichte in solchen Fällen bei ihrer Entscheidungsfindung an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache, so sind sie gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf die eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen, die gegebenenfalls Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen muss (BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002 m.w.N.).

In Fällen der Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung hat das BVerfG betont, dass behördliche und gerichtliche Verfahren der Bedeutung des im Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG enthaltenen grundlegenden Wertentscheidung Rechnung tragen müssen und sie bei der Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts zu berücksichtigen haben (BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005). Zwar folge aus den Grundrechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit regelmäßig kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung bestimmter oder spezieller Gesundheitsleistungen. Die Gestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung habe sich jedoch an der objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen. Daraus leitet das BVerfG eine grundrechtsorientierte Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ab (BVerfG a.a.O.).

Das BVerfG hat es in seiner letztgenannten Entscheidung als verfassungsrechtlich unbedenklich gehalten, dass die gesetzliche Krankenversicherung den Versicherten Sachleistungen wie u. a. Arzneimittel (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr.3 i.V.m. § 31 Abs. 1 SGB V) nach Maßgabe eines allgemeinen Leistungskatalogs (§ 11 Fünftes Sozialgesetzbuch -SGB V-) nur unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 SGB V) zur Verfügung stellt, soweit diese Leistungen nicht ohnehin der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Auch die Entscheidung des Gesetzgebers, die nähere Konkretisierung der Leistungsverpflichtungen im Einzelfall im Rahmen der kassenärztlichen Vorgaben, insbesondere der kassenärztlichen Verträge (§§ 82 ff., 87, 125, 127, 131 SGB V) den Vertragsärzten vorzubehalten (§§ 15 Abs. 1 Satz 1, 95 SGB V) wurde nicht beanstandet. Es stehe mit dem Grundgesetz in Einklang, wenn der Gesetzgeber die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung am Maß des Notwendigen ausrichte und sie von finanzwirtschaftlichen Erwägungen mitbestimmt werden. Ebenso wenig sei es dem Gesetzgeber verwehrt, zur Sicherung der Qualität der Leistungserbringung ein Verfahren vorzusehen, in dem neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung auf ihren diagnostischen und therapeutischen Nutzen sowie ihre medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse sachverständig geprüft werden, um die Anwendung dieser Methoden zu Lasten der Krankenkassen auf eine fachlich-medizinisch zuverlässige Grundlage zu stellen. In der sozialgerichtlichen Rechtsprechung nicht umstritten ist zudem, dass die Gewährleistung optimaler Arzneimittelsicherheit es gebietet, dass Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit in einem dafür vorgesehenen Verfahren nachzuweisen sind (vgl. LSG Hessen, Beschluss vom 27.10.2005, L 8 KR 190/05 ER, ebenfalls zur Versorgung mit "Herceptin"). Der Senat schließt sich dem an.

Eine solche abschließende Studie fehlt für die vorliegend umstrittene adjuvante Therapie noch, worauf die Beklagte mit Recht hinweist. Grundsätzlich wäre die Anwendung einer neuen Behandlungsmethode wie die hier verlangte Anwendung von "Herceptin" im off-label-use wegen des Wortlauts von § 135 Abs. 1 SGB V von der vorherigen Anerkennung durch den Bundesausschuss bzw. ihrer bereits bestehenden Durchsetzung in der medizinischen Praxis abhängig, um eine Versorgungslücke zu bejahen. Auch daran fehlt es. Gleichwohl schließt das eine vorläufige Regelung zur Frage der Leistungserbringung nicht aus. Denn bei derartig enger Auslegung des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung wäre die Übernahme von Kosten durch die gesetzlichen Krankenkassen auch in den Fällen einer lebensbedrohlichen oder vorhersehbar tödlich verlaufenden Krankheit ausgeschlossen, für die (noch) keine dem allgemein anerkannten medizinischen Standard entsprechende Behandlungsmethode existiert, obwohl der behandelnde Arzt eine Methode kennt und zur Anwendung bringen könnte, die nach seiner Einschätzung im Einzelfall den Krankheitsverlauf positiv zu Gunsten des Versicherten beeinflusst.

Eine grundrechtsorientierte Auslegung hat dagegen Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit dem in Art. 20 Abs. 1 GG normierten Sozialstaatsprinzip zu berücksichtigen. Wird der Einzelne auf der einen Seite unter den Voraussetzungen des § 5 SGB V einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung unterworfen und ihm für seine Beiträge zugesagt, notwendige Krankenbehandlungen vorzunehmen, er andererseits im Fall einer lebensbedrohlichen Krankheit, für die anerkannte Behandlungsmethoden (noch) nicht vorliegen, aber auf eine private Finanzierung der Behandlung verwiesen, so ist dies nach Auffassung des BVerfG (Beschluss vom 06.12.2005, a.a.O.) dann nicht mit der Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2, 20 Abs. 1 GG vereinbar, wenn die vom Versicherten angestrebte Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder zumindest eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf verspricht.

Das BVerfG verlangt damit von den mit Eilverfahren dieser Art befassten Sozialgerichten im Rahmen der Prüfung des Anordnungsanspruchs eine Folgenabwägung: Je schwerer die Belastung des ernsthaft von lebensbedrohlicher Krankheit Betroffenen wiegt, die mit der (vorläufigen) Versagung von Rechtsschutz verbunden ist, um so weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung der geltend gemachten Rechtsposition zugunsten der Versichertengemeinschaft zurückgestellt werden. Auch bei Verpflichtungs- bzw. Vornahmesachen ist jedenfalls dann vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (BVerfG, Beschluss vom 19.03.2004, 1 BvR 131/04).

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten und Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst dabei auch die Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit sie in der vertragsärztlichen Versorgung verordnungsfähig sind (§ 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Deswegen haben Versicherte grundsätzlich nur Anspruch auf Versorgung mit zugelassenen Arzneimitteln und in den Anwendungsgebieten, auf welche sich die Zulassung erstreckt (vgl. BSG, Urteil vom 18.05.2004, B 1 KR 21/02 R). Ausnahmsweise kommt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Inanspruchnahme einer Substanz ohne oder außerhalb ihrer arzneimittelrechtlichen Zulassung (off-label-use) zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung in Betracht, wenn die zugrunde liegende Gesundheitsstörung schwerwiegend, insbesondere lebensbedrohlich, ist, keine andere Therapie zur Verfügung steht und auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg zu erzielen ist. Ein kurativer oder palliativer Behandlungserfolg in diesem Sinne kann dann erwartet werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung auf den streitigen Anwendungsbereich beantragt ist, Ergebnisse einer entsprechenden kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit bzw. ein relevanter Nutzen bei vertretbaren Risiken belegt wurde oder wenn außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlich sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und auf Grund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen medizinischen Nutzen besteht (vgl. BSG, Urteil vom 19.03.2002, B 1 KR 37/00 R). Nicht nur die verfassungsgerichtliche, sondern auch die fachgerichtliche Rechtsprechung anerkennt also, dass Verzögerungen in der arzneimittelrechtlichen Zulassung neuer, nach wissenschaftlichen Feststellungen signifikant wirksamer Präparate zur Behandlung schwerer und schwerster Erkrankungen ohne geeignete therapeutische Alternativen - vor dem Hintergrund des Grundrechtsschutzes des betroffenen Versicherten - nicht zu dessen Lasten gehen sollen.

Die Klägerin leidet an einem Mammakarzinom links mit Lymphdrüsenbefall. Sämtliche sinnvollen therapeutischen Mittel wie Tumoroperation, Chemotherapie, Bestrahlung, endokrine Therapie und Behandlung mit dem Aromatasehemmer Anastrozol (Hormontherapie) sind erfolglos durchgeführt worden. Nach Auskunft der behandelnden Ärzte Dres. D. und U. besteht bei ihr eine Hochrisikosituation des Brustkrebses, die sich durch die bereits befallenen Lymphknoten, das Tumorgrading, das relativ junge Alter der Klägerin und den Nachweis des HER2-neu-positiven Primärtumors (also einer genetischen Veranlagung) manifestiere. Der axiliäre Tumorbefall und die HER2-Überexpression mit indizierter Chemotherapie werden von den für die Beklagte tätigen Ärzten bestätigt, es ist mithin zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Brustkrebserkrankung der Klägerin schwerwiegend und lebensbedrohlich ist. Die Beklagte konnte der Klägerin nach Abschluss der von ihr durchgeführten Standardbehandlungen keine sinnvolle alternative Behandlungsmethode aufzeigen, eine solche wird auch im übrigen nicht vorgetragen oder wäre für den Senat sonst ersichtlich.

"Herceptin" verfügt in Deutschland bereits über eine arzneimittelrechtliche Zulassung zur Therapie bei Mammakarzinomen, allerdings nur für ein fortgeschrittenes metastasierendes Stadium der Erkrankung. Um eine solche geht es nicht, so dass von der Klägerin ein off-label-use in der adjuvanten Krebstherapie angestrebt wird. Ob aufgrund der Datenlage eine begründete Aussicht besteht, dass mit "Herceptin" ein Behandlungserfolg auch im Fall der Klägerin zu erzielen ist, die zur Untergruppe der bereits erfolglos mit anthrazyklin- und taxanhaltiger Chemotherapie behandelten Patientinnen gehört, ist zwischen den Beteiligten umstritten. Aus den Äußerungen von Prof. Dr. D. und PD Dr. U. zur Behandlungssituation der Klägerin sowie aus den von der Klägerin vorgelegten medizinischen Fachartikeln konnte der Senat entnehmen, dass der voraussichtliche Behandlungsvorteil von "Herceptin" in Fällen einer Überexpression von HER2-neu in der nicht metastasierenden Erkrankungssituation aufgrund der vorliegenden Phase-III-Studien inzwischen fachwissenschaftlichen Konsens bildet. Die veröffentlichen und dem Senat zugänglich gemachten Erkenntnisse über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels "Herceptin" in dem neuen Anwendungsgebiet lassen demnach erste wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen über einen voraussichtlichen medizinischen Nutzen auch in der adjuvanten Krebstherapie zu.

Soweit die Beklagte meint, die mit dem Trastuzumabeinsatz verbundenen Nebenwirkungen und -risiken wie die Kardiotoxizität sprächen gegen dessen Einsatz, so ist festzuhalten, dass die Klägerin - soweit ersichtlich - keine Herzrisikopatientin ist und dieses Risiko außerdem durch eine intensive und enge begleitende internistisch-kardiologische Mitbetreuung beherrschbar ist. "Herceptin" wird bereits jetzt in seinem zugelassenen Anwendungsbereich mit deutlichem Warnhinweis auf eine erhöhtes kardiales Risiko versehen, so dass eine potentielle Kardiotoxizität kein spezifisch der adjuvanten Krebstherapie anhaftendes Einsatzproblem darstellt. Eine Nutzen-Risiko-Abwägung spricht demnach trotz dieser potentiellen Nebenwirkungen nach wie vor für die Anwendung von "Herceptin". Auch die Auffassung der Beklagten, die Subgruppe der Patientinnen in der Situation der Klägerin (also nach Chemotherapie), profitiere in den vorliegenden Studien nicht signifikant, weil nur eine Verbesserung des krankheitsfreien Überlebens, nicht aber ein verbessertes Gesamtüberleben habe nachgewiesen werden können, überzeugt den Senat nicht. Zum einen fehlen dazu die Langzeitstudien, worauf die Beklagte selbst hinweist, so dass dieser erst im Zeitablauf erkennbare Nachweis in Zukunft noch geführt werden könnte, also nicht ausgeschlossen oder unwahrscheinlich ist. Zum anderen muss darauf hingewiesen werden, dass auch bei einer Verzögerung des Rezidiveintritts durch "Herceptin" ein erheblicher, an sich wertvoller Behandlungserfolg entsteht. Denn selbst wenn das Gesamtüberleben der betroffenen Mammakarzinompatientinnen unter diesem Medikament nicht verbessert würde (was, wie oben gesagt, noch gar nicht erwiesen ist), bedeutete ein späterer Rezidiveintritt doch eine Verlängerung des krankheitsfreien Überlebens und damit eine Krankheitssymptomverzögerung, die für den Erkrankten einen erheblichen Zuwachs an Lebensqualität in der Zwischenzeit bietet. § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V sieht daher den Anspruch auf Krankenbehandlung auch vor, wenn die Verschlimmerung einer Krankheit (zumindest zeitweise) verhütet werden kann.

Gesicherte, in der medizinischen Fachwelt konsensfähige Erkenntnisse im Sinne der Rechtsprechung des BSG dürften demnach noch nicht bestehen, wie auch die Beklagte unter Verweis auf die Stellungnahme von Dr. Z. vom 16.12.2005 betont. Die Bestimmung aller Nebenwirkungen, Ergebnisse für bestimmte Subkollektive und Langzeitstudien zur Mortalitäts- und Rezidivreduktion für die Behandlung mit "Herceptin" in der adjuvanten Krebstherapie stehen noch aus. Dies braucht hier indes nicht weiter vertieft zu werden. Ob die in der bisherigen sozialgerichtlichen Rechtsprechung verlangten Voraussetzungen für den Anspruch auf Versorgung mit einem Arzneimittel vorliegen, kann offen bleiben. Bei der dem Senat aus den oben dargelegten verfassungsrechtlichen Gründen im Eilverfahren obliegenden grundrechtsorientierten Auslegung von § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V bei nachgewiesener lebensbedrohlicher Erkrankung des Antragstellers und bei der danach notwendigen Folgenabwägung kann die Klägerin aber nicht auf ein Abwarten der künftigen Ergebnisse weiterer medizinischer Studien verwiesen werden. Im Verhältnis zwischen ihrem Anspruch auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip gegenüber dem der durch die Beklagte repräsentierten Versichertengemeinschaft auf möglichst sparsamen Umgang mit den vorhandenen Mitteln muss das Gemeinschaftsinteresse (vorläufig) zurücktreten. Denn die von der Klägerin zu gewärtigenden Nachteile bei einem Ausschluss von der mit einiger Wahrscheinlichkeit auch für ihre Untergruppe von Brustkrebspatientinnen nutzbringenden Anwendung von "Herceptin" sind so erheblich, dass sie in der Interessenabwägung des hier zu beurteilenden Eilantrags überwiegen: Als Hochrisikopatientin würde die Klägerin beim erzwungenen Verzicht auf die adjuvante Herceptintherapie einem erhöhten Rezidiv- und Mortalitätsrisiko ausgesetzt, während die Versichertengemeinschaft lediglich finanzielle Nachteile entstehen.

Bei der Beurteilung des Anordnungsanspruchs geht der Senat davon aus, dass sich die Verpflichtung der Beklagten zur Kostenübernahme der Therapie mit "Herceptin" bei vertragsärztlicher Verschreibung auf maximal 52 Wochen bezieht. Auch PD Dr. U. hat in seiner Stellungnahme vom 03.08.2005 nur eine 52-wöchige adjuvante Herceptintherapie empfohlen.

Der Anordnungsgrund der Eilbedürftigkeit ist ebenfalls glaubhaft gemacht: Angesichts des Krankheitsbildes der Klägerin ist es nachvollziehbar, dass ein Abwarten der Hauptsacheentscheidung, welches gegebenenfalls mit der Beiziehung langwieriger in- und ausländischen Studien, deren Übersetzung und Auswertung und/oder Gutachten über den Krankheitsverlauf der Klägerin einhergehen können, welche derart zeitaufwändig sind, dass eine zwischenzeitliche Verschlechterung ihres Zustandes oder gar akute Lebensgefährdung befürchtet werden muss, nicht zumutbar ist. Es ist gleichfalls glaubhaft, dass es der Klägerin aufgrund ihres Erwerbseinkommens und der daraus resultierenden finanziellen Mittel nicht möglich ist, die erheblichen Behandlungskosten einer Herceptintherapie dauerhaft privat zu zahlen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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