L 2 R 3321/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 7 R 2557/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 R 3321/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 31. Mai 2006 abgeändert. Der Bescheid vom 15. Oktober 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Juli 2003 wird hinsichtlich der Rückforderung der Rente für Juni 2001 in Höhe von 759,72 EUR aufgehoben.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt ¼ der außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Rechtszüge.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger die nach einem bestandskräftigen Entziehungsbescheid weitergewährte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 01.03.2001 bis 30.06.2001 in Höhe von 3038,87 EUR an die Beklagte zurückzuzahlen hat.

Der im Februar 1965 in Sizilien geborene Kläger lebte seit November 1968 in Deutschland. Nach Abschluss der Hauptschule und Abbruch einer Stukkateurlehre arbeitete er in der Folgezeit - unterbrochen durch Zeiten der Arbeitslosigkeit - als Hilfsarbeiter bei verschiedenen Arbeitgebern. Die Landesversicherungsanstalt Württemberg (heute: Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg) bewilligte dem Kläger auf seinen Antrag vom April 1995 mit Bescheid vom 03.01.1996 wegen einer affektiven Psychose Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Dauer ab 01.05.1995. Nachdem der Kläger Mitte des Jahres 1998 seinen Wohnsitz nach Sizilien verlegt hatte, übernahm die Beklagte als zuständige Verbindungsstelle ab 01.08.1998 die Auszahlung der Rente (Bescheid vom 14.09.1998). Im Juni 2000 siedelte der Kläger wieder nach Deutschland um; die Beklagte gewährte die bisherige Rente weiter (Bescheid vom 03.08.2000). Im Zuge der Rentenkontrolle veranlasste sie eine Begutachtung des Klägers durch Nervenärztin Dr. H., die den Kläger für mittelschwere Arbeiten - ohne besondere zusätzliche Funktionseinschränkungen - vollschichtig leistungsfähig erachtete. Nach erfolgter Anhörung entzog die Beklagte wegen festgestellter Besserung des Leistungsvermögens die mit Bescheid vom 03.08.2000 gewährte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zum 28.02.2001 (Bescheid vom 06.02.2001). Nach Erhebung des Widerspruchs zahlte die Beklagte im Hinblick auf dessen aufschiebende Wirkung die Rente weiter aus, wies aber zugleich darauf hin, dass die über den Monat Februar 2001 hinaus gezahlten Rentenbeträge bei erfolglosem Widerspruch zu erstatten seien. Mit Widerspruchsbescheid vom 03.05.2001 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Entgegen ihrer Ankündigung im Widerspruchsbescheid, die Rentenzahlung mit Ablauf des Mai 2001 einzustellen, wurde aus zahlungstechnischen Gründen noch die Rente für Juni 2001 ausgezahlt; deshalb wies sie den Kläger mit Schreiben vom 11.05.2001 darauf hin, dass auch dieser Rentenbetrag zurückzuzahlen sei. Die gegen die Rentenentziehung zum Sozialgericht Ulm (SG) am 09.05.2001 erhobene Klage (S 10 RJ 1171/01), in deren Verlauf der Kläger erneut begutachtet und als vollschichtig leistungsfähig beurteilt worden war (Gutachten Prof. Dr. H., Christophsbad G. - Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie vom 09.04.2002), nahm der Kläger im Rahmen des Vergleichs vom 24.07.2002 zurück. Nach Auskunft des Landratsamtes O. - Kreissozialamt- vom 06.05.2003 bezog der Kläger ab 01.10.2001 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt. Auf seinen Antrag vom 05.09.2002 bewilligte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 10.03.2003 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 01.03.2003 bis 28.02.2006 in Höhe von 505,25 EUR. Im September 2003 verlegte der Kläger seinen Wohnsitz wieder nach Sizilien.

Nach Anhörung des Klägers forderte die Beklagte mit Bescheid vom 15.10.2002 die vom 01.03.2001 bis 30.06.2001 geleisteten Rentenbeträge in Höhe von 3038,87 EUR (4 x 759,72 EUR) zurück. Der Kläger erhob hiergegen Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22.07.2003 zurückwies und ausführte, nach dem - bestandskräftigen - Entzug der Rente seien die für den Zeitraum März bis Mai 2001 geleisteten Beträge nach § 50 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) zu erstatten; Rechtsgrundlage für die Rückforderung der Rente Juni 2001 sei die § 50 Abs. 2 SGB X und somit § 45 SGB X entsprechend anzuwenden. Dessen Voraussetzungen seien erfüllt, nachdem der Kläger unmissverständlich darauf hingewiesen worden sei, dass er diese Leistung zu Unrecht erhalten und zurückerstatten müsse. Auch nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens habe der Kläger die für Monat Juni 2001 geleistete Rente zu erstatten.

Hiergegen hat der Kläger am 11.08.2003 Klage zum Sozialgericht Augsburg erhoben, das den Rechtsstreit mit Beschluss vom 06.10.2003 an das örtlich zuständige SG verwiesen hat. Mit Urteil vom 31.05.2006 hat das SG die Klage abgewiesen und auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Widerspruchsbescheids Bezug genommen (§ 136 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Hiergegen richtet sich die am 16.06.2006 eingelegte Berufung des Klägers, die er damit begründet, er habe in der Zeit vom 01.03. bis 30.06.2001 seinen Lebensunterhalt mit der Rente bestritten, da er zu diesem Zeitpunkt noch keinen Anspruch auf Sozialhilfe gehabt habe. Außerdem habe man ihm seine Rente zu Unrecht weggenommen und die seit März 2003 bewilligte Rente sei um ca. 250EUR niedriger als die alte.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 31. Mai 2006 sowie den Bescheid vom 15. Oktober 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Juli 2003 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mir einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

Zum weiteren Vorbringen er Beteiligten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers hat teilweise Erfolg.

Die statthafte (§§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG), frist- und formgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig und zum Teil begründet. Der angefochtene Bescheid ist hinsichtlich der Rückforderung der Rentenzahlbeträge für die Monate März bis (einschließlich) Mai 2001 nicht zu beanstanden; insoweit ist die Berufung zurückzuweisen. Dagegen hält der angefochtene Bescheid hinsichtlich der Rückforderung des Rentenzahlbetrags für den Monat Juni 2001 einer rechtlichen Überprüfung nicht stand; insoweit war der angefochtene Bescheid aufzuheben.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist - allein - der Bescheid vom 15.10.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.07.2003, mit dem die Beklagte die Erstattung der von März bis Juni 2001 gewährten Rentenzahlbeträge verlangt. Nicht Streitgegenstand ist der - infolge der Rücknahme der Klage in Ziffer 2 des Vergleichs vom 24.07.2002 im Verfahren S 10/4 RJ 1171/01 bestandskräftig gewordene - Rentenentzugsbescheid vom 06.02.2001, sodass der Kläger hier nicht geltend machen kann, seine Rente sei ihm zu Unrecht entzogen worden.

Die vom Kläger zutreffend erhobene (isolierte) Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 SGG hat insoweit Erfolg, als die Rückforderung des Rentenzahlbetrags für Juni 2001 rechtswidrig und daher aufzuheben ist. Die Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen regelt § 50 SGB X. Danach ist zu unterscheiden, ob diesen Leistungen ein Verwaltungsakt, der aufgehoben worden ist (Abs. 1), oder kein Verwaltungsakt (Abs. 2) zu Grunde gelegen hat. Im Fall des Abs. 1 sind die bereits erbrachten Leistungen zu erstatten, das selbe gilt für Abs. 2, jedoch mit der Einschränkung, dass die §§ 45 und 48 SGB X entsprechend gelten. Der Rentenzahlung Juni 2001 hat - wovon die Beklagte zu Recht ausgegangen ist - kein Verwaltungsakt zu Grunde gelegen, denn die ursprüngliche Rentenbewilligung war mit Bescheid vom 06.02.2001 und bestätigendem Widerspruchsbescheid vom 03.05.2001 aufgehoben worden. Die am 09.05.2001 erhobene Klage zum SG hatte nach § 97 Abs. 2 SGG in der hier maßgeblichen bis 01.01.2002 geltenden Fassung (aufgehoben durch das 6. SGGÄndG vom 18.08.2001 m.W.v. 02.01.2002) keine aufschiebende Wirkung, weswegen hinsichtlich der Erstattungsforderung für Juni 2001 § 50 Abs. 2 SGB X mit seiner Verweisung auf die §§ 45 und 48 SGB X zur Anwendung kommt. Die Rückforderung steht somit im Ermessen der Beklagten und setzt vorliegend tatbestandlich voraus, dass nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X (die Nrn. 1 und 2 kommen bei vorliegendem Sachverhalt von vornherein nicht in Betracht) der Kläger die Rechtsgrundlosigkeit (Rechtswidrigkeit) der Leistungserbringung kannte oder nur infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Diese tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt der Kläger, da er mit Schreiben vom 11.05.2001 darauf hingewiesen worden war, dass aus zahlungstechnischen Gründen eine Einstellung der Zahlung erst zum 30.06.2001 erfolgen könne und diese Leistung zurückzuzahlen sei. Der Kläger hat somit die Rechtsgrundlosigkeit der Leistung gekannt. Der Rückforderung des Rentenzahlbetrags für Juni 2001 steht nach Auffassung des Senats jedoch die 1-Jahres-Frist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X entgegen. Die Beklagte hatte seit Mai 2001 positiv Kenntnis von der Rechtsgrundlosigkeit der Leistungserbringung für Juni 2001. Sie hat den Kläger jedoch erst mit Schreiben vom 03.09.2002 zu der Rückforderung angehört; zu dieser Zeit war die Jahresfrist bereits verstrichen. Die Beklagte kann sich insoweit nicht auf das Urteil des BSG vom 08.02.1996 - 13 RJ 35/94 - in Soz-R 3-1300 § 45 Nr. 27 berufen. Jene Entscheidung betraf einen Fall, in dem der Verwaltungsfehler im März 1991 bekannt geworden war, die Anhörung zur beabsichtigten Rückforderung im Oktober 1991 erfolgte und der Rückforderungsbescheid im September 1992 erging. Zwischen der Kenntnis der objektiven Voraussetzungen für die Rückforderung bis zur Ermittlung der subjektiven mit Hilfe der Anhörung lag lediglich ein halbes Jahr. Der entscheidungserhebliche Unterschied im vorliegenden Rechtsstreit liegt darin, dass sich die Beklagte erst mehr als ein Jahr nach Kenntnis der objektiven Tatsachen der Rückforderung zur Ermittlung der subjektiven entschloss. Solche Verzögerungen will § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X zu Gunsten der Betroffenen unterbinden. Nur so ist sichergestellt, dass nicht mit Hilfe des § 24 SGB X die Schutzvorschrift des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X ausgehebelt wird (wie hier LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 14.03.1997 - L 5 Kn 112/96 -)

Dessen ungeachtet hat die Beklagte nach Auffassung des Senats ihr Ermessen nicht rechtsfehlerfrei ausgeübt, weil sie wesentliche Gesichtspunkte bei ihrer Ermessenabwägung nicht berücksichtigt hat. Ob das Ermessen richtig ausgeübt worden ist, kann vom Gericht nur eingeschränkt - nämlich im Hinblick auf einen Ermessensnichtgebrauch oder Ermessensfehlgebrauch - überprüft werden. Ermessensnichtgebrauch liegt vor, wenn die Behörde eine Ermessensausübung gänzlich unterlassen hat, was hier nicht der Fall ist; ein Ermessensfehlgebrauch ist zu bejahen, wenn vom Zweck der Ermessensregelung her sachfremde, d. h. willkürliche Erwägungen angestellt werden; das liegt nach Auffassung des Senat auch vor, wenn wesentliche Gesichtspunkte außer Acht gelassen werden. Das ist hier gegeben. So hat die Beklagte zwar Ermittlungen zur Frage, ob der Kläger durch die Rückforderung sozialhilfebedürftig wird - allerdings nur bezogen auf den Monat Juni 2001 und nicht auf den Zeitpunkt der Rückforderung - angestellt, gänzlich außer Betracht gelassen hat sie jedoch seine soziale, insbesondere familiäre (zwei unterhaltsberechtigte Kinder) und gesundheitliche Situation (ein auf der ursprünglichen Erkrankung erneut im September 2001 eingetretenen Leistungsfall), sowie den Umstand, dass die Überzahlung für Juni 2001 auf einem Organisationsmangel beruht, der allein ihrem Verantwortungsbereich zuzuordnen ist. Eine Ermessensabwägung, die nur die Gesichtspunkte berücksichtigt, die für eine Rückforderung sprechen bei gleichzeitigem Außerachtlassen derjenigen, die dagegen sprechen könnten, ist im Ergebnis willkürlich und entspricht nicht den Anforderungen einer pflicht- und sachgemäßen Ermessensausübung.

Rechtsgrundlage für die Erstattung der Rentenzahlbeträge der Monate März bis Mai 2001 ist § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Auf Grund der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Klägers gegen den Rentenentzugsbescheid sind die Rentenzahlbeträge für die Monate März bis Mai 2001 mit Rechtsgrund, nämlich dem ursprünglichen Bewilligungsbescheid, erfolgt; diesen hat die Beklagte mit bestandskräftigem Bescheid vom 06.02.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.05.2001 für den genannten Zeitraum aufgehoben. Das hat zwingend - ohne Prüfung eines Ermessens auf Seiten der Beklagten - zur Folge, dass die geleisteten Rentenbeträge zu erstatten sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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