S 10 V 102/94

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Münster (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
10
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 10 V 102/94
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 V 1/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 5/00 R
Datum
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der am 00.00.1950 geborene Kläger begehrt vom Beklagten die Gewährung einer Teilversorgungsrente im Zugunstenweg gemäß § 44 SGB X.

Im Jahre 1969 stellte der Vater des Klägers als deutscher Volkszugehöriger einen Antrag für den Kläger. Er gab an, der Kläger sei am 06.11.1965 durch eine Eierhandgranate in einem Munitionslager im Walde in Woischnik verletzt worden. Es sei zur Amputation der linken Hand und weiteren Verletzungen an beiden Oberschenkeln und in der Bauchgegend gekommen. Vor dem Unfall habe er die Bergschule im Fach Elektrik besucht. Die könne nicht mehr besuchen. Er übersandte eine Bescheinigung der Volksmiliz vom 31.03.1970 über einen Unfall vom 06.11.1965 durch einen deutschen Blindgänger. Der Kläger gab an, er sei zufällig an die Stelle gekommen, wo früher ein deutsches Munitionslager gewesen sei, das seit 1945 nicht mehr bestehe. Dort habe er den Blindgänger gefunden und den Unfall erlitten. Er fügte Bescheinigungen des Krankenhauses bei. Die Beklagte holte Gutachten der polnischen Bezirksärztekommission ein und zog die Krankengeschichte bei. Der Kläger gab weiter an, er sei als Lehrer tätig. In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 21.07.1971 führte der Chirurg Dr. I. in G. aus, von einem 15-Jährigen sei zu erwarten, daß er die Gefährlichkeit von gefundener Munition erkenne. Mit Bescheid vom 28.01.1972 lehnte das Versorgungsamt die Gewährung von Kannversorgung ab, weil keine Schädigungsfolgen vorhanden seien. Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein. Er fügte Bescheinigungen von zwei Zeugen bei, wonach das Geschoß aus dem ehemaligen deutschen Munitionsmagazin stamme, und eine Bescheinigung der Staatlichen Versicherungsanstalt vom 26.07.1972, wonach eine 90-prozentige Invalidität aufgrund des Unfalls vom 06.11.1965 bestehe. Mit Widerspruchsbescheid vom 10.08.1973 wies das Landesversorgungsamt Nordrhein-Westfalen den Widerspruch zurück mit der Begründung, sein eigenes Handeln sei die wesentliche Bedingung für den Unfall gewesen. Ihm als 15-Jährigem habe Form, Aussehen und Gefährlichkeit explosiven Kriegsmaterials bekannt gewesen sein müssen.

Im Februar 1994 stellte der Kläger einen neuen Antrag auf Versorgung. Er gab an, das Lager sei von der deutschen Wehrmacht in die Luft gejagt worden, tausende der Geschosse seien auf dem Gelände durcheinandergeworfen worden. Er habe dort das Fliegerabwehrgeschoß Kaliber 20 mm der sogannten Bordwaffe an sich genommen, so sei es zur Explosion gekommen. Er fügte Unterlagen der Staatlichen Versicherungsanstalt bei über eine Meldung des Unfalls vom 06.11.1965 mit der Angabe, er sei zuhause gewesen und habe an dem Geschoß manipuliert; der Blindgänger sei explodiert. Weiter fügte er Zeugenerklärungen und zahlreiche Bescheinigungen bei. Mit Bescheid vom 11.04.1994 lehnte das Versorgungsamt die Erteilung eines günstigeren Bescheides gemäß § 44 SGB X ab, weil der Bescheid vom 28.01.1972 nicht rechtswidrig sei. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies das Landesversorgungsamt Nord rhein-Westfalen mit Widerspruchsbescheid vom 08.07.1994 zurück.

Am 29.09.1994 hat der Kläger Klage erhoben. Er trägt vor, als Minderjähriger habe er nicht an die möglichen Folgen gedacht; an der Unfallstelle liege noch Munition aus dem Zweiten Weltkrieg. Er fügt u.a. den Bericht des Kriminalistischen Laboratoriums der Hauptkommandantur der Polizei in X. vom 21.06.1994 bei über drei Hülsen der Patronen Kaliber 20 mm von 1940, aus deutscher Produktion. Er gibt weiter an, er habe damals Blindgänger und Munition gesammelt und versucht, sie auseinanderzunehmen; er habe damit gespielt, da sei es am 06.11.1965 passiert. Schuld seien die Geschichte und der jugendliche Leichtsinn.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Der Kläger beantragt sinngemäß schriftlich,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 11.04.1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.07.1994 zu verurteilen, ihm Teilversorgung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich, die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat auf Anforderung vom Kläger den Lebenslauf und das Abschlußzeugnis der Volksschule vom 19.06.1965 erhalten. Es hat versucht, von der zuständigen Staatsanwaltschaft und der Volksmiliz in Polen Unterlagen über das damalige Ereignis zu erhalten.

Zur näheren Darlegung der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die B-Akten des Versorgungsamts Münster, Antragslistennummer 00/94, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht hat den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung entscheiden können, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben, § 124 Abs. 2 SGG.

Die Klage ist unbegründet.

Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid vom 11.04.1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.07.1994 nicht beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 SGG, weil dieser Verwaltungsakt nicht rechtswidrig ist.

Der Kläger kann vom Beklagten nicht die Gewährung einer Teilversorgung verlangen. Er erfüllt nicht die gesetzlichen Voraussetzungen für eine solche Leistung (§§ 64 Abs. 1, 64 e, 64 Abs. 2 i.V.m. §§ 1, 7, 30 Abs. 1 und 2, 31 Abs. 1 BVG). Der ablehnende Bescheid vom 28.01.1972 ist nicht unrichtig im Sinne von § 44 SGB X.

Wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung, § 1 Abs. 1 BVG. Diese Voraussetzungen sind offensichtlich nicht gegeben.

Einer Schädigung im Sinne des Abs. 1 stehen aber Schädigungen gleich, die herbeigeführt worden sind durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung, § 1 Abs. 2 Buchst, a). Als unmittelbare Kriegseinwirkungen im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst, a) gelten, wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen, nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben, § 5 Abs. 1 Buchst, e). Allein diese Vorschrift kommt im Falle des Klägers in Betracht. Ihre Voraussetzungen sind aber nicht erfüllt. Als ein solcher Fall eines kriegseigentümlichen Gefahrenbereichs kommt das Liegenbleiben von Munition und Kriegsgerät aus dem Kriege an einem für jedermann zugänglichen Ort in Betracht. Der kriegseigentümliche Gefahrenbereich besteht solange, wie die gefährlichen Gegenstände nicht entfernt worden sind (Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 6. Aufl. § 5 BVG Rdn. 42). Die Unmittelbarkeit der Kriegseinwirkung wird aber beseitigt, wenn die Gefahrenquelle dem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich durch das Verhalten des Verletzten entzogen und ein neuer selbständiger Gefahrenbereich geschaffen worden ist. Das ist z.B. der Fall, wenn der Verletzte mit einem Sprengkörper hantiert, obwohl er ihn und seine Gefährlichkeit erkannt hat oder vermöge seiner Einsichtigkeit erkennen mußte (Wilke a.a.O. Rdn. 43). An der Unmittelbarkeit der Kriegseinwirkung fehlt es hier im Falle des Klägers, weil er die gefährliche Munition an sich genommen hat, obwohl er ihre Gefährlichkeit vermöge seiner Einsichtigkeit erkennen mußte. Die Rechtsprechung hat sich wiederholt mit Jugendlichen zu befassen gehabt, die mit Kriegsmunition hantiert haben. So hat das BSG mit Urteil vom 10.06.1955 - 10 RV 390/54 - (BSGE 1, 14) entschieden, daß ein 15 1/2-jähriger Kraftfahrzeug-Schlosserlehrling, der mit einem herumliegenden Gewehr hantiert und dabei eine Explosion auslöst, in aller Regel die Fähigkeit hat, das Gefährliche seines Handelns zu erkennen und sich dieser Erkenntnis gemäß zu verhalten. Mit Urteil vom 12.12.1957 - 10 RV 770/55 - (BSGE 6, 188) hat es ausgeführt, das Herumliegen eines Sprengkörpers im Walde bleibe auch dann noch ein kriegseigentümlicher Gefahrenbereich, wenn ein Jugendlicher den Sprengkörper finde, seine Gefährlichkeit nicht erkenne und so mit ihm umgehe, daß er explodiere. Haben sowohl die Auswirkung eines kriegseigentümlichen Gefahrenbereichs als auch das Verhalten des Beschädigten selbst eine Gesundheitsstörung herbeigeführt, so sind für die Beurteilung der Wesentlichkeit beider Bedingungen die Beschaffenheit des Gefahrenbereichs und dessen Kennzeichnung einerseits und das Verhalten des Beschädigten und die Erkennbarkeit des Gefahrenbereichs für ihn, andererseits gegeneinander abzuwägen. Hierbei kommt es auf ein "Verschulden" und die Motive, die das Verhalten des Beschädigten beeinflußt haben, nicht an (BSG, Urteil vom 27.02.1962 - 10 RV 119/59 - in SozR Nr. 58 § 1 BVG). Es kommt nicht darauf an, ob der Kläger das Ausmaß der Explosionswirkung genau übersehen hat; entscheidend ist vielmehr, daß er überhaupt mit einer Gefahr gerechnet hat oder jedenfalls hat rechnen müssen (BSG, Urteil vom 18.07.1962 in SGb 1962 Nr. 24).

Die Kammer ist unter Berücksichtigung aller Umstände zu der Überzeugung gelangt, daß der Kläger die Gefährlichkeit seines damaligen Tuns zumindest erkennen mußte. Dies kann nicht allein aus seinem damaligen Alter von 15 Jahren und fast drei Monaten geschlossen werden. Hinzu kommt sein eigenes Verhalten nach Erhalt des Widerspruchsbescheides vom 10.08.1973. In diesem Widerspruchsbescheid ist die Ablehnung damit begründet worden, daß sein eigenes Verhalten die wesentliche Bedingung für den Unfall gewesen sei. Ihm als 15-Jährigem habe Form, Aussehen und Gefährlichkeit explosiven Kriegsmaterials bekannt gewesen sein müssen. Dem hat der Kläger damals nicht widersprochen. Ein solches Widersprechen in Form einer Klageerhebung hätte nahegelegen. Für das Begehren des Klägers ist in diesem Fall insbesondere zu berücksichtigen, daß es hier um ein Verfahren nach § 44 SGB 10 geht, in welchem die Unrichtigkeit der damaligen Entscheidung der Versorgungsverwaltung festgestellt werden müßte. Auch das vom Kläger vorgelegte Abschlußzeugnis der Volksschule vom 19.06.1965 spricht für eine Richtigkeit der damaligen Entscheidung der Versorgungsverwaltung. Dieses Zeugnis bestätigt mit seinen überwiegend guten und sehr guten Noten die Intelligenz des Klägers, der schließlich auch den Lehrerberuf erreicht hat. Hinzu kommt noch, daß der Kläger vor dem Unfall die Bergschule im Fach Elektrik besucht hat. Als Schüler eines solchen Fachs dürfte er insbesondere die Gefährlichkeit des Hantierens mit Munition damals gekannt haben. Nähere Unterlagen konkreteren Inhalts über die damaligen Ereignisse hat das Gericht trotz Anfragen bei der zuständigen Staatsanwaltsschaft und der Volksmiliz nicht erhalten können.

Es bedarf daher keiner weiteren Erörterung zu der Frage, ob die Unmittelbarkeit der Kriegseinwirkung auch dadurch beseitigt worden ist, daß es der polnische Staat unterlassen hat, bis zum Unfallzeitpunkt im Jahre 1965 die Gefahrenstelle ausreichend zu sichern oder zu beseitigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved