L 7 SO 926/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 4 SO 1302/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 926/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 27. Januar 2010 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Beklagte verurteilt wird, dem Kläger vom 1. April 2008 bis 30. September 2010 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu gewähren.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für die Zeit vom 1. April 2008 bis zum 30. September 2010.

Der 1972 geborene Kläger erlitt im Mai 1991 einen schweren Pkw-Verkehrsunfall. Dabei zog er sich vor allem ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zu und befand sich nach seinen Angaben für ca. ein Jahr im Krankenhaus bzw. in Rehabilitation. Im Jahr 1995 erhielt er von der H.-C. V. aufgrund eines Vergleichs einen Betrag von insgesamt 425.000 DM ausbezahlt. Einem Schreiben seines damaligen Rechtsanwalts vom 3. März 1995 ist zu entnehmen, dass sich dieser Betrag aus folgenden Positionen zusammensetzte:

Schmerzensgeld 100.000,00 DM Verluste in der Arbeitslosen- und Rentenversicherung 16.000,00 DM Vermehrte Bedürfnisse in Haushalt und anderswo 60.000,00 DM und 23.000,00 DM Sonstige Sachschadenspositionen 15.000,00 DM Gesamtbetrag 214.000,00 DM sowie Verdienstausfall 211.000,00 DM Insgesamt 425.000,00 DM

Nach seinen Angaben legte der Kläger den überwiegenden Teil dieses Geldes "bei der A." in verschiedenen Versicherungen an und verwendete es im Übrigen in der Folgezeit für seinen Lebensunterhalt. 1997 begann er eine Ausbildung beim B. B. W., die er im Jahr 2000 (nach seinen Angaben nach mehreren Anläufen) mit der Prüfung als Außenhandelskaufmann abschloss, aber nie in diesem Beruf tätig wurde.

Am 22. Januar 2007 stellte er bei der Bundesagentur für Arbeit (Agentur für Arbeit P.) einen Antrag auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), der mit Bescheid vom 24. Januar 2007 (ebenso wie ein weiterer Leistungsantrag mit Bescheid vom 13. Dezember 2007) wegen Vorhandenseins von Vermögen abgelehnt wurde. Nachdem der Kläger daraufhin erneut einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II stellte, wurde er vom Ärztlichen Dienst der Bundesagentur für Arbeit untersucht. In ihrem Gutachten vom 27. Februar 2008 diagnostizierte Dr. T. beim Kläger eine hirnorganische Wesensänderung bei Zustand nach schwerem Schädelhirntrauma (Autounfall im Mai 1991 mit Hirnblutung), ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, eine chronische Außenbandinstabilität des linken oberen Sprunggelenks und Übergewicht. Sein Leistungsvermögen liege voraussichtlich auf Dauer bei weniger als drei Stunden täglich und reiche auch nicht für Tätigkeiten im Bereich der Werkstätten für Behinderte aus. Die Einschaltung des sozialpsychiatrischen Dienstes werde empfohlen, um dem Kläger bei der Einrichtung einer Betreuung behilflich zu sein. Daraufhin lehnte die Bundesagentur für Arbeit mit Bescheid vom 3. April 2008 die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II im Hinblick auf die Erwerbsunfähigkeit des Klägers ab.

Bereits mit Bescheid vom 25. Januar 2008 hatte die Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung abgelehnt. Es sei zwar davon auszugehen, dass der Kläger seit Mai 1991 erwerbsunfähig sei, doch sei die erforderliche Wartezeit von zwanzig Jahren mit anrechenbaren Zeiten nicht erfüllt.

Am 24. April 2008 beantragte der Kläger beim Beklagten die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII. In der in diesem Zusammenhang vorgelegten Vermögenserklärung gab der Kläger an, über eine Rentenversicherung Nr. 23 489 027 6 bei der A. Lebensversicherungs-AG (im Folgenden: A.) im Wert von ca. 40.000,00 Euro zu verfügen. Weiter legte er eine schriftliche Auskunft der A. vom 2. Mai 2008 vor, wonach die Werte für diese Rentenversicherung noch berechnet werden müssten. Zugleich wurde mitgeteilt, dass drei weitere Versicherungen in den Jahren 2006 und 2007 gekündigt worden seien und dem Kläger in diesem Zusammenhang Beträge in Höhe von 8.182,33 Euro, 6.910,60 Euro und 3.679,70 Euro ausbezahlt worden seien (insgesamt 18.772,63 Euro). In einer weiteren Auskunft der A. vom gleichen Tag wird außerdem bestätigt, dass zum 1. Oktober 2000 vier weitere Versicherungsverträge im Wert von jeweils umgerechnet 95.433,85 Euro, 1.044,39 Euro, 1.273,41 Euro und 634,06 Euro gekündigt und ausgezahlt worden seien (insgesamt 98.385,71 Euro). Mit Schreiben vom 27. Mai 2008 teilte die A. mit, dass die Rentenversicherung Nr. 23 489 027 6 zum 1. Juni 2008 einen Rückkaufswert von 41.440,10 Euro habe, wobei bestehende Policedarlehen in Höhe von 15.000,00 Euro noch nicht verrechnet worden seien. In einem weiteren Schreiben der A. vom 31. Juli 2008 wird der Rückkaufswert bei einem Rückkauf inklusive Überschussbeteiligung zum 1. März 2009 mit 57.142,81 Euro angegeben, wobei sich abzüglich Kapitalertragssteuer und Solidaritätszuschlag in Höhe von 2.513,39 Euro und abzüglich der Policedarlehen in Höhe von 25.000,00 Euro eine Gesamtleistung bei Rückkauf von 29.629,42 Euro ergebe. Mit Schreiben vom 13. August 2008 teilte die A. außerdem mit, dass die Rentenversicherung Nr. 23 489 027 6 zum 1. November 2001 mit fünfjähriger Beitragszahlungsdauer abgeschlossen worden sei. Der Jahresbeitrag habe jeweils 10.226,44 Euro betragen und sei fünf Mal bezahlt worden. Die Beiträge habe man jeweils von der A. Kapitalanlagegesellschaft aus einem dort angelegten Fonds erhalten.

Mit Schreiben vom 20. August 2008 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass der Nachweis über den Geldfluss des Schmerzensgeldes noch fehle, das 1995 ausgezahlt worden sei. Der Vertrag bei der A. sei erst im Jahr 2001 geschlossen worden. Daraufhin legte der Kläger eine eidesstattliche Versicherung vor, dass er nicht mehr wisse, wo das Schmerzensgeld in der Zeit von 1995 bis zum Abschluss des Versicherungsvertrag im Jahr 2001 "gelagert" gewesen sei. Aufgrund seiner Verletzungen durch den Unfall habe er erhebliche Erinnerungsprobleme und leider auch keine Nachweise mehr. Er gehe aber davon aus, dass das Geld bei der Bank auf einem Konto angelegt gewesen sei. Auch in dieser Zeit habe er über kein Einkommen verfügt. Das im Versicherungsvertrag angelegte Geld sei ausschließlich das Schmerzensgeld.

Mit Bescheid von 6. Oktober 2008 lehnte der Beklagte die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII ab, weil der Kläger über Vermögen in Höhe von 29.629,42 Euro verfüge, das über der Vermögensfreigrenze von 2.600 Euro liege. Schmerzensgeld werde zwar grundsätzlich nicht als Vermögen angerechnet; dies gelte aber nur dann, wenn seine Anlegung in Versicherungen, Wertpapieren, Sparkonten etc. lückenlos seit Auszahlung bis zur Antragstellung nachgewiesen werden könne. Daran fehle es hier. Es müsse davon ausgegangen werden, dass das Schmerzensgeld auf die verschiedenen Versicherungen aufgeteilt worden sei. Da der Anteil des Schmerzensgeldes an der Gesamtsumme der Schadensersatzleistungen 23,52% betragen habe, sei auch nur ein entsprechender Anteil des Rückkaufswertes der Rentenversicherung (6.969,83 Euro) als zweckgebunden anzuerkennen. Der Restbetrag in Höhe von 22.660,58 Euro sei als Vermögen zu verwerten.

Hiergegen legte der Kläger am 27. Oktober 2008 Widerspruch ein und bat um Prüfung, ob § 90 Abs. 3 SGB XII maßgeblich sei, weil durch die Verwertung der Rentenversicherung die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung erschwert werde.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 2009 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Es lägen keine Nachweise dafür vor, dass das Schmerzensgeld in einem der im Jahr 2000 aufgelösten Versicherungsverträge angelegt und in den bestehenden Rentenversicherungsvertrag überführt worden sei. Auch hinsichtlich der im Schreiben der A. vom 13. August 2008 erwähnten Fonds bei der A. Kapitalanlagegesellschaft sei deren Anlage aus der Schmerzensgeldleistung im Jahr 1995 nicht nachgewiesen. Nachdem der Kläger den mit Einschreiben versandten und bei der Post hinterlegten Widerspruchsbescheid nicht abgeholt hatte, wurde der Bescheid am 24. Februar 2009 an den Beklagten zurückgesandt, der ihn dem Kläger nochmals per Post übersandt hat.

Am 24. März 2009 hat der Kläger beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) mit der Begründung Klage erhoben, dass er aufgrund der Unfallfolgen nicht in der Lage gewesen sei, selbst den Geldfluss der erhaltenen Schadensersatz- und Schmerzensgeldleistungen zu dokumentieren. Wäre ihm schon damals ein Betreuer zur Seite gestellt worden, wie es im Gutachten vom 27. Februar 2008 empfohlen worden sei, hätte dieser auf eine separate Anlegung des Schmerzensgeldes achten können. Dass dies nicht geschehen sei, könne ihm nicht angelastet werden. Seit 1995 habe er seinen Lebensunterhalt mit Hilfe der Schadensersatzleistung bestritten; der Restbetrag habe ihm nach dem Willen des Gesetzgebers als Schonvermögen zu verbleiben. Der Beklagte hat dem entgegengehalten, dass § 90 Abs. 3 SGB XII bereits mit der anteiligen Anrechnung des Schmerzensgeldes auf das noch vorhandene Vermögen hinreichend Rechnung getragen sei.

In der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 27. Januar 2010 hat der Beklagte anerkannt, dass der angefochtene Bescheid vom 6. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 2009 insoweit abgeändert wird, als das Schonvermögen nunmehr anstatt in Höhe von 6.969,83 Euro mit einem Betrag von 9.569,83 Euro (6.969,83 Euro Schmerzensgeld + 2.600,00 Euro allgemeiner Freibetrag) anerkannt wird. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis angenommen.

Mit Urteil vom 27. Januar 2010 hat das SG den Bescheid des Beklagten vom 6. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 2009 und beide in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 27. Januar 2010 abgeändert und den Beklagten verurteilt, dem Kläger für die Zeit ab Antragstellung (April 2008) Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII in gesetzlicher Höhe ohne Anrechnung des 1995 erlangten Schmerzensgeldes in Höhe von 100.000 DM (= 51.129,19 Euro) bei zum Antragszeitpunkt noch vorhandenem Vermögen von 29.629,42 Euro zu gewähren. Zwar spreche die vorliegende "Vermögensvermischung" zwischen Schmerzensgeld und Schadensersatz gegen eine Anerkennung des in der Rentenversicherung angelegten Vermögens des Klägers als Schonvermögen i.S.v. § 90 Abs. 3 SGB XII. Doch sei hier zu berücksichtigen, dass der Kläger bei dem Verkehrsunfall im Jahr 1991 ein schweres Schädelhirntrauma mit Hirnblutung erlitten habe, das bei ihm zu einer hirnorganischen Wesensveränderung geführt habe, derentwegen er als Schwerbehinderter (Grad der Behinderung (GdB) 60) anerkannt und voll erwerbsgemindert sei. Er sei seit 1991 durchgehend bis heute nicht in der Lage gewesen, die rechtlich notwendige Trennung der einzelnen Vermögensbestandteile überhaupt nur zu erkennen, geschweige denn selbständig vornehmen und organisieren zu können. Damit liege eine atypische Fallkonstellation vor.

Am 25. Februar 2010 hat der Beklagte hiergegen beim Landessozialgericht Baden-Württemberg mit der Begründung Berufung eingelegt, dass er entgegen den Ausführungen des SG in dem angefochtenen Urteil dem Kläger nicht "vorhalte", keine Trennung der Vermögensdispositionen herbeigeführt zu haben; vielmehr habe er nicht den vollen Betrag des noch vorhandenen Vermögens aus der privaten Rentenversicherung als Vermögen berücksichtigt, sondern sei davon ausgegangen, dass ein Teilbetrag davon aus der Zahlung des Schmerzensgeldes resultiere. Dieser Anteil sei prozentual berechnet und in seiner ganzen noch vorhandenen Höhe als Schonvermögen zuerkannt worden. Im Übrigen werde auf den Widerspruchsbescheid und die Klageerwiderung verwiesen. Auch unter Einbeziehung von § 90 Abs. 3 Satz 2 SGB XII könne nicht von einer unbilligen Härte gesprochen werden. Die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung sei auch unter Berücksichtigung des zunächst weiterhin noch vorhandenen Vermögens auf Dauer nicht sichergestellt, weil die Rentenversicherung an sich bereits durch nicht unerhebliche Darlehen belastet und eine Verwertung/Kündigung vor Eintritt in das Rentenalter möglich sei. Dieser Sachverhalt stelle keinen atypischen Fall dar, der eine unbillige Härte i.S.v. § 90 Abs. 3 SGB XII begründen könne.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 27. Januar 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass der Beklagte verurteilt wird, ihm vom 1. April 2008 bis 30. September 2010 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu gewähren.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Er halte es für schlechterdings ausgeschlossen, dass er weitere Anteile seines ihm verbliebenen Vermögens einzusetzen habe, obwohl er völlig unverschuldet auf die Beantragung von Grundsicherungsleistungen angewiesen sei. Dies stelle ohne Zweifel eine Härte dar, weil er es nicht zu vertreten habe, dass nach nunmehr 15 Jahren Geldflüsse nicht mehr nachgewiesen werden könnten. Auf den vom Beklagten erwähnten § 90 Abs. 3 Satz 2 SGB XII habe das SG in dem angefochtenen Urteil nicht abgestellt.

In der mündlichen Verhandlung hat der Vertreter des Beklagten erklärt, dass dem Kläger seit dem 1. Oktober 2010 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gewährt werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verfahrensakte des Beklagten, des SG und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist zulässig, insbesondere statthaft (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

Das SG hat der Klage zu Recht stattgegeben. Dem Kläger steht für die Zeit vom 1. April 2008 bis zum 30. September 2010 ein Anspruch auf Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu; der Bescheid des Beklagten vom 6. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 2009 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Gemäß § 19 Abs. 2 SGB XII i. V. m. § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist älteren und dauerhaft voll erwerbsgeminderten Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus Einkommen und Vermögen nach den §§ 82 bis 84 und § 90 SGB XII beschaffen können, auf Antrag Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu leisten. Dem nach Aktenlage voll erwerbsgeminderten Kläger steht für die Zeit ab April 2008 ein Anspruch auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen zu, ohne dass der Rückkaufswert der Rentenversicherung Nr. 23 489 027 6 als Vermögen anzurechnen wäre.

Nach § 90 Abs. 1 SGB XII ist das gesamte verwertbare Vermögen einzusetzen. Vermögen sind dabei alle beweglichen oder unbeweglichen Güter und Rechte in Geld oder Geldeswert (Bundessozialgericht (BSG) FEVS 60, 109 m.w.N.). Nach der für die Sozialhilfe geltenden sog. Zuflusstheorie ist die Schmerzensgeldzahlung nur im Monat des Eingangs als Einkommen anzusehen; der nach Ablauf dieses Monats nicht verbrauchte Teil wächst dem Vermögen zu und ist nach den dafür geltenden Bestimmungen zu beurteilen (W. Schellhorn in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 17. Aufl., § 83 Rdnr. 24).

Hierzu gehört grundsätzlich auch die private Rentenversicherung des Klägers, deren wirtschaftlicher Wert in dem von der A. im Falle der Kündigung auszuzahlenden Rückkaufswert liegt.

§ 90 Abs. 2 SGB XII enthält zwingende Regelungen, bei deren Vorliegen das Vermögen nicht eingesetzt werden darf (sog. Schonvermögen). Die Rentenversicherung fällt nicht unter § 90 Abs. 2 Nr. 2 SGB XII, weil es sich dabei nicht um Kapital handelt, das der zusätzlichen Altersvorsorge im Sinne des § 10a oder des Abschnitts XI des Einkommensteuergesetzes dient und dessen Ansammlung staatlich gefördert wurde.

Dem Einsatz des Rückkaufswertes der Rentenversicherung als Vermögen steht aber die Ausnahmevorschrift des § 90 Abs. 3 SGB XII entgegen. Danach darf die Sozialhilfe nicht vom Einsatz oder der Verwertung eines Vermögens abhängig gemacht werden, soweit dies für den, der das Vermögen einzusetzen hat, und für seine unterhaltsberechtigten Angehörigen eine Härte bedeuten würde (a.a.O. Satz 1). Dies ist bei der Leistung nach dem Fünften bis Neunten Kapitel insbesondere der Fall, soweit eine angemessene Lebensführung oder die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung wesentlich erschwert würde (a.a.O. Satz 2).

Eine allgemeine Härte im Sinne des § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII liegt nach der Rechtsprechung vor, wenn es sich um einen atypischen Lebenssachverhalt handelt, dem der Gesetzgeber mit den Regelvorschriften des § 90 Abs. 1 und 2 SGB XII nicht gerecht zu werden vermochte (vgl. bereits Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) BVerwGE 23, 149, 158 f. zu § 88 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG)). Die Besonderheiten des Einzelfalls müssen gegenüber der Situation anderer vergleichbarer Gruppen von Hilfesuchenden die Anwendung der Härtevorschrift erfordern; ein atypischer Fall kann in diesem Sinne etwa wegen der Art, Schwere und Dauer der Hilfe, dem Alter oder besonderer Belastungen des Vermögensinhabers und seiner Angehörigen anzunehmen sein (vgl. Lücking in Hauck/Noftz, SGB XII, § 90 Rdnr. 69). Die einen Härtefall begründende Atypik kann sich aber nicht nur aus der besonderen (atypischen) Situation des Hilfesuchenden ergeben, sondern ausnahmsweise auch dann, wenn die Herkunft des Vermögens dieses so prägt, dass seine Verwertung eine Härte darstellt. Davon ist auszugehen, wenn der gesetzgeberische Grund für die Nichtberücksichtigung einer laufenden Zahlung als Einkommen auch im Rahmen der Vermögensanrechnung durchgreift, weil das Vermögen den gleichen Zwecken zu dienen bestimmt ist wie die laufende Zahlung selbst (BVerwGE 98, 256; BVerwG, NVwZ-RR 2010, 771 m.w.N.; BSG SozR 4-3500 § 90 Nr. 1). Eine dem § 83 Abs. 2 SGB XII (zuvor: § 72 Abs. 2 BSHG) zur Einsatzfreiheit des Schmerzensgeldes als Einkommen entsprechende ausdrückliche Regelung zur Einsatzfreiheit des Schmerzensgeldes als Vermögen enthält das SGB XII - wie bereits das BSHG - nicht. § 90 Abs. 2 SGB XII stellt das Schmerzensgeld nicht vom Einsatz und von der Verwertung frei. Der gesetzgeberische Grund für die Nichtberücksichtigung des Schmerzensgeldes als Einkommen greift aber auch im Rahmen des Vermögenseinsatzes durch, weil das Schmerzensgeld als Vermögen den gleichen Zwecken zu dienen bestimmt ist wie die Schmerzensgeldrente als Einkommen (BVerwGE 98, 256). Das Schmerzensgeld dient seiner gesetzlichen Funktion nach nämlich nicht der Deckung des materiellen Bedarfs, sondern dem Ausgleich einer erlittenen oder andauernden Beeinträchtigung der körperlichen und seelischen Integrität, insbesondere auch dem Ausgleich von Erschwernissen, Nachteilen und Leiden, die über den Schadensfall hinaus anhalten und die durch die materielle Schadensersatzleistung nicht abgedeckt sind und trägt dem Gedanken Rechnung, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), BVerfGE 116, 229). In der Rechtsprechung des BVerwG zu § 88 Abs. 3 Satz 1 BSHG (jetzt § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII) war vor diesem Hintergrund anerkannt, dass die Verwertung eines aus einer Schmerzensgeldzahlung stammenden Vermögens eine "Härte" bedeutet (vgl. BVerwGE 98, 256; FEVS 57, 212). Davon geht auch das BSG im Rahmen des § 90 Abs. 3 SGB XII aus, weil eine Abkehr von der tradierten Zuordnung dieser Vermögen durch den Gesetzgeber des SGB XII nicht zu erkennen ist (vgl. BSG, SozR 4-4200 § 12 Nr. 9).

Nach der Rechtsprechung des BSG gilt die Privilegierung indes nur, wenn das fragliche Vermögen tatsächlich aus einer Schmerzensgeldzahlung gemäß § 253 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) herrührt. Ob dies der Fall ist, ist eine tatsächliche Feststellung, die die jeweiligen Instanzgerichte zu treffen haben (BSG, SozR 4-4200 § 12 Nr. 9). Zur Überzeugung des Senats rührt das fragliche Vermögen aus der im Jahr 1995 geleisteten Schmerzensgeldzahlung her. Insofern hat das SG zutreffend festgestellt, dass dem Kläger im Jahr 1995 unstreitig 100.000,00 DM Schmerzensgeld i.S.v. § 253 BGB wegen der von ihm erlittenen Folgen des Autounfalls aus dem Jahr 1991 zugeflossen sind. Aus dem Schreiben der A. vom 13. August 2008 geht weiter hervor, dass die (hier streitgegenständliche) Rentenversicherung Nr. 23 489 027 6 zum 1. November 2001 mit fünfjähriger Beitragszahlungsdauer abgeschlossen worden ist; der Jahresbeitrag habe jeweils 10.226,44 Euro betragen und sei fünf Mal aus einem bei der A. Kapitalanlagegesellschaft angelegten Fonds bezahlt worden. Der so in die Rentenversicherung geflossene Betrag von 51.132,20 Euro entspricht 100.005,89 DM, mithin (fast auf den Euro genau) der Summe, die dem erhaltenen Schmerzensgeld entspricht. Der Umstand, dass der Kläger diesen Betrag zuvor anderweitig angelegt hatte, steht dieser Zuordnung nach Auffassung des Senats nicht entgegen. Den Einwand des Beklagten, dass (formal betrachtet) aufgrund der "Vermengung" der Beträge Schmerzensgeld und die vom Kläger erhaltene Schadensersatzleistung in Höhe von weiteren 325.000,00 Euro nicht unterscheidbar seien und damit das verbleibende Vermögen nicht vollständig als Schmerzensgeld angesehen werden könne, hat das SG zu Recht zurückgewiesen. An einer Unterscheidbarkeit im engeren Sinne fehlt es nämlich in Fällen, in denen - wie hier - der Betroffene das Schmerzensgeld als Teil einer (auch Schadensersatzpositionen enthaltenden) Gesamtzahlung erhält, von Anfang an. Dass in diesen Fällen der Schmerzensgeldanteil nicht zum Schonvermögen gehören kann, nimmt auch der Beklagte nicht an. Der Kläger hat im Übrigen glaubhaft dargelegt, die im Jahr 1995 erhaltenen Schadensersatzleistungen für seinen Lebensunterhalt verwendet und erst dann staatliche Leistungen beantragt zu haben, als nur noch ein Betrag in Höhe des Schmerzensgeldes übrig blieb. Dass zunächst das nicht geschonte Vermögen verbraucht wurde, erscheint dabei lebensnah. Die Annahme des Beklagten, der Kläger habe in der Zeit seit 1995 jeweils anteilig Schadensersatzleistungen und Schmerzensgeld verbraucht, wirkt demgegenüber konstruiert. Der Senat hat auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger anderweitig Einkommen erzielt hat, aus dem er das noch vorhandene Vermögen hätte bilden können. Vielmehr hat er nach seinen Angaben zwar mit Mühe eine Ausbildung zum Kaufmann abgeschlossen, ist im Folgenden aber nie berufstätig gewesen. Auch sonst sind keine Umstände ersichtlich, die auf einen anderweitigen Einkommenszufluss schließen lassen könnten. Im Übrigen ist eine Härte i.S.v. § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII jedenfalls im Hinblick auf die besonderen Umstände des vorliegenden Falls anzunehmen. Zu Recht hat das SG insofern berücksichtigt, dass (wie dem Gutachten von Dr. T. vom 27. Februar 2008 zu entnehmen ist) das bei dem Verkehrsunfall im Jahr 1991 erlittene schwere Schädelhirntrauma mit Hirnblutung beim Kläger zu einer hirnorganischen Wesensveränderung geführt hat, derentwegen er als Schwerbehinderter (GdB 60) anerkannt und voll erwerbsgemindert ist. Eine getrennte Anlegung und Verwaltung von Schmerzensgeld und Schadensersatzleistungen war von ihm vor diesem Hintergrund nicht zu erwarten.

Zutreffend ist das SG schließlich davon ausgegangen, dass das Schmerzensgeld nicht zeitnah zur Kompensation der immateriellen Schäden eingesetzt werden muss. Das Schmerzensgeld ist vielmehr jeweils in seiner ganzen noch vorhandenen Höhe geschützt (BSG, SozR 4-4200 § 12 Nr. 9; BVerwGE 98, 256). Auch "angespartes" Schmerzensgeld ist insofern gemäß § 90 Abs. 3 SGB XII privilegiert.

Da das Vermögen des Klägers bereits als Schmerzensgeld gemäß § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII geschützt ist, kommt es nicht mehr darauf an, ob seine Verwertung (entsprechend dem für Leistungen nach dem Fünften bis Neunten Kapitel SGB XII maßgeblichen Gedanken des § 90 Abs. 3 Satz 2 SGB XII) eine angemessene Alterssicherung des Klägers gefährden würde.

Die Berufung des Beklagten war somit mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass dem Kläger für die Zeit vom 1. April 2008 bis zum 30. September 2010 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu gewähren sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG), liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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