L 12 AL 1709/09

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 12 AL 1283/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AL 1709/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 2. März 2009 abgeändert und die Klage vollständig abgewiesen.

Die Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rücknahme der Bewilligungen von Arbeitslosenhilfe (Alhi) und eine damit verbundene Erstattungsforderung der Beklagten für die Zeit vom 8. Februar 2002 bis zum 31. Dezember 2004 in Höhe von 25.990,96 EUR (Alhi) und 5.237,92 EUR (Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung), insgesamt 31.228,88 EUR.

Der 1945 geborene Kläger schied zum 31. Juli 1999 aus seinem Beschäftigungsverhältnis als Betonwerker aus. Er bezog vom 24. Oktober 1999 bis zum 7. Februar 2002 Arbeitslosengeld bzw. Krankengeld. Am 21. Januar 2002 beantragte der Kläger, der mit seiner Ehefrau (geboren am 15. Mai 1947) zusammenlebte, die Gewährung von Alhi und gab hierbei an, dass er über Vermögen in Form eines Girokontos mit einem Guthaben von 300,00 DM verfüge und Mitglied einer Eigentümergemeinschaft bezüglich eines selbst bewohnten Gebäudes sei. Die Fragen nach Vermögen, insbesondere nach Sparbüchern, Sparbriefen, sonstigen Wertpapieren, Kapitallebensversicherungen bzw. privaten Rentenversicherungen, Bausparverträgen und sonstigem Vermögen verneinte er. Er bestätigte mit seiner Unterschrift, das Merkblatt 1 für Arbeitslose erhalten und von dessen Inhalt Kenntnis genommen zu haben.

Die Beklagte bewilligte beginnend ab 8. Februar 2002 Alhi nach einem Bemessungsentgelt von wöchentlich 750,47 EUR bzw. ab 8. Februar 2003 in Höhe von 345,- EUR. Auch in den Fortzahlungsanträgen gab der Kläger keine Kapitalanlagen an. Im Dezember 2002 erhielt die Beklagte davon Kenntnis, dass der Kläger über einen Freistellungsauftrag verfügte. Die anschließenden Ermittlungen ergaben, dass der Kläger am 8. Februar 2002 auf seinem Girokonto ein Guthaben in Höhe von 532,01 EUR, auf dem Bonus-Sparen-Konto von 5.116,05 EUR und auf einem Sparkonto von 112,56 EUR hatte (vgl. Schreiben der D Bank AG vom 11. März 2003). Seinen Bausparvertrag mit einem Guthaben von 4.509,32 EUR übertrug er im März 2003 auf seine Tochter B. S. (Schreiben der D. Bank Bauspar AG vom 13. März 2003).

Die Beklagte gewährte bis zum 31. Dezember 2004 Alhi. Im April 2005 teilte das Hauptzollamt Stuttgart der Beklagten mit, dass der Kläger die leistungsrechtlich relevanten Fragen zu Kapitalanlagen und Zinseinkünften zumindest bezüglich Anlagen bei der Türkischen Nationalbank (TCMB) wahrheitswidrig verneint habe und übermittelte Auszüge der TCMB über verschiedene Konten der Ehefrau des Klägers sowie über Einzahlungsbelege der D. Bank AG. In den Unterlagen ist u.a. verzeichnet, dass im Mai 1995 90.000,00 DM bei der TCMB angelegt wurden. Das Guthaben betrug am 22. Mai 2001 62.445,85 EUR, am 6. Juni 2003 erfolgte eine Zinsgutschrift von 9.775,93 EUR netto (Konto-Nr. k 6212985). Auszahlungen sind auf dem Kontoauszug nicht verzeichnet.

Nach erfolgter Anhörung vom 5. September 2006 hob die Beklagte mit Bescheid vom 31. Oktober 2006 ihre Entscheidung über die Bewilligung von Alhi für die Zeit vom 8. Februar 2002 bis zum 31. Dezember 2004 ganz auf und forderte die Erstattung der gewährten Alhi in Höhe von 25.990,96 EUR nebst Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von insgesamt 5.237,92 EUR, mithin zusammen 31.228,88 EUR. Der Kläger habe Vermögen bei der TCMB nicht angegeben, das im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung zu einer Ablehnung der Alhi geführt hätte. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein (Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten vom 9. November 2006), der keinen Erfolg hatte (Widerspruchsbescheid vom 28. Februar 2007).

Dagegen hat der Kläger am 2. April 2007 Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. Die Entscheidung über die Bewilligung von Alhi hätte gemäß § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X nicht zurückgenommen werden dürfen. Ein Fall des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X liege nicht vor. Der Kläger habe keine falschen Angaben über seine Vermögenssituation gemacht. Zudem habe er nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt. Wenn man unterstelle, dass der Kläger das Zusatzblatt Bedürftigkeitsprüfung unrichtig ausgefüllt habe, so sei zu berücksichtigen, dass er als türkischer Staatsangehöriger der ersten Einwanderungsgeneration die deutsche Sprache so gut wie überhaupt nicht beherrsche und daher den Inhalt des Zusatzblattes Bedürftigkeitsprüfung nicht richtig erkannt habe. Im Übrigen müsse die Beklagte beweisen, dass dem Kläger ohne weitere Überlegung klar gewesen sei, dass er die betreffenden Umstände der Beklagten mitteilen musste. Gemäß der bis zum 31. Dezember 2002 gültigen Arbeitslosenhilfeverordnung habe dem Kläger und seiner Ehefrau ein Vermögensfreibetrag in Höhe von insgesamt 58.240,00 EUR zugestanden. Der Kläger habe im Februar 2002 über ein Guthaben von 532,01 EUR auf seinem Girokonto, 112,56 EUR auf seinem Sparkonto und 5.116,05 EUR auf einem Konto "Bonussparen" verfügt. Bei dem Konto "Bonussparen" habe es sich nicht um Vermögen des Klägers gehandelt. Vielmehr habe er dieses für seine Kinder gespart, um diesen die Ausbildung bzw. das Studium zu ermöglichen. Der Bausparvertrag sei von Anfang an für die Tochter B. S. angelegt worden. Kurz vor ihrem 18. Geburtstag im Jahr 2003 sei dieser Bausparvertrag dann auf sie umgeschrieben worden. Das auf dem Konto bei der TCMB angelegte Geld sei für die Altersvorsorge des Klägers angespart worden, da er nicht in der Lage sein werde, von seiner zu erwartenden sehr geringen Rente leben zu können. Zudem sei zu berücksichtigen, dass den in Deutschland lebenden türkischen Mitbürgern seitens der türkischen Regierung immer wieder vermittelt worden sei, dass in der Türkei liegende Gelder in Deutschland keinerlei Berücksichtigung fänden. Dementsprechend habe der Kläger nicht davon ausgehen können, dass diese Gelder anzugeben seien. Unter Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten und Sprachkenntnisse des Klägers sowie der ihm vorliegenden Informationen könne mit Sicherheit nicht davon ausgegangen werden, dass dieser in besonders schwerem Maße die erforderliche Sorgfalt verletzt habe und einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt habe.

Das SG hat mit Urteil vom 2. März 2009 den Bescheid vom 31. Oktober 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Februar 2007 insoweit aufgehoben, als die Beklagte darin die Rückforderung von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung verfügt hat, und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zu Recht habe die Beklagte die ergangenen Bewilligungen von Alhi zurückgenommen und die zu Unrecht erhaltene Alhi zurückgefordert. Rechtsgrundlage für die Rücknahme der bewilligten Alhi mit Wirkung für die Vergangenheit seien die §§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und Nr. 3, Abs. 4 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III. Nach § 45 Abs. 1 SGB X dürfe ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt habe, im Falle seine Rechtswidrigkeit nur unter den Einschränkungen der Abs. 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Mit Wirkung für die Vergangenheit dürfe der Verwaltungsakt gemäß § 45 Abs. 4 SGB X in den Fällen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 bis 3 SGB X zurückgenommen werden, wenn die Rücknahme innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen erfolge, welche die Rücknahme für die Vergangenheit rechtfertigten. Die Voraussetzungen für die Rücknahme seien erfüllt, da die Bewilligungsbescheide der Beklagten, mit denen dem Kläger Alhi in der Zeit vom 8. Februar 2002 bis zum 31. Dezember 2004 bewilligt worden seien, von Anfang an rechtswidrig gewesen seien, der Kläger sich nicht auf Vertrauen habe berufen können, die Beklagte die für die Rücknahmeentscheidung erforderlichen Fristen eingehalten habe und die Beklagte zutreffend davon ausgegangen sei, dass die Rücknahme vorliegend keiner Ermessensentscheidung bedurfte. Die Entscheidungen über die Bewilligung von Alhi in der Zeit vom 8. Februar 2002 bis zum 31. Dezember 2004 stellten sich jeweils als rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt dar. Rechtswidrig seien die Bewilligungsentscheidungen deshalb gewesen, da dem Kläger mangels Bedürftigkeit von Anfang an kein Anspruch auf Alhi zugestanden habe. Ob ein Anspruch auf Alhi bestehe, bestimme sich nach § 190 Abs. 1 SGB III. Danach habe Anspruch auf Alhi, wer arbeitslos sei, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet habe, einen Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht habe, weil er die Anwartschaftszeit nicht erfüllt habe, in der Vorfrist Arbeitslosengeld bezogen habe, ohne dass der Anspruch wegen des Eintritts von Sperrzeiten mit einer Dauer von insgesamt 24 Wochen erloschen sei und bedürftig sei. Nach § 193 Abs. 1 SGB III sei ein Arbeitsloser bedürftig, soweit er seinen Lebensunterhalt nicht auf andere Weise als durch Alhi bestreite oder bestreiten könne und das zu berücksichtigende Einkommen die Alhi nicht erreiche. Der Arbeitslose sei nicht bedürftig, solange mit Rücksicht auf sein Vermögen, die Erbringung von Alhi nicht gerechtfertigt sei (§ 193 Abs. 2 SGB III). Gemäß § 206 Nr. 1 SGB III könne durch Verordnung bestimmt werden, inwieweit Vermögen zu berücksichtigen und unter welchen Voraussetzungen anzunehmen sei, dass der Arbeitslose seinen Lebensunterhalt auf andere Weise bestreite oder bestreiten könne. Von dieser Ermächtigung habe das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung durch die vorliegend anzuwendende AlhiV 2002 vom 13. Dezember 2001, geändert durch Art. 11 des 1. Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002 (BGBl. I, S.4607) Gebrauch gemacht. Nach § 1 Abs. 1 AlhiV 2002 sei das gesamte verwertbare Vermögen des Arbeitslosen und seines nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten, seines Lebenspartners oder einer Person, die mit dem Arbeitslosen in eheähnlicher Gemeinschaft lebe, zu berücksichtigen, soweit der Wert des Vermögens den Freibetrag übersteige. Hierzu sei zunächst anzumerken, dass seit Inkrafttreten der AlhiV 2002 keine Umrechnung auf einen fiktiven Verbrauchszeitraum mehr erfolge. Das Regelungskonzept des § 1 AlhiV 2002 sei demnach so zu verstehen, dass keine Bedürftigkeit bestehe, solange Vermögen vorhanden sei, das den Freibetrag übersteige. Die Kammer sei der Überzeugung, dass der Kläger im gesamten Bezugszeitraum nicht bedürftig gewesen sei, da durchgehend Vermögen vorhanden gewesen sei, das den Freibetrag übersteige. Der Freibetrag für den Kläger und dessen Ehefrau habe gemäß § 1 Abs. 2 AlhiV in der bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Fassung unstreitig 58.240,00 EUR betragen. Inwieweit sich dieser Freibetrag infolge der Änderung der AlhiV zum 1. Januar 2003 reduziert habe oder ob der Kläger die Übergangsvorschrift des § 4 Abs. 2 AlhiV in der ab 1. Januar 2003 geltenden Fassung für sich geltend machen könne, könne dahinstehen, da bereits das auf der TCMB angelegte Vermögen im Januar 2001 62.445,85 EUR betragen habe und damit den höchstmöglichen Freibetrag deutlich überstiegen habe. Hinzugekommen seien am 22. Mai 2003 Zinsen in Höhe von weiteren 9.775,93 EUR. Dass dieses Vermögen im Bezugszeitraum verbraucht worden sei bzw. unter den maßgeblichen Freibetrag gefallen sei, habe der Kläger nicht plausibel dargetan. Dass der Kläger im Übrigen dieses Vermögen subjektiv zur Alterssicherung bestimmt haben möge, stehe dessen Verwertbarkeit nicht entgegen. Nach § 1 Abs. 3 Nr. 3 AlhiV sei nach § 10a oder dem 11. Abschnitt des Einkommenssteuergesetzes gefördertes Altersvorsorgevermögen ("Riester-Rente") nicht als Vermögen zu berücksichtigen. Gleiches gelte nach § 1 Abs. 3 Nr. 4 AlhiV für nachweislich zur Alterssicherung bestimmte Sachen und Rechte desjenigen Arbeitslosen, der nach § 231 SGBVI von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit sei. Diese Tatbestände seien nicht erfüllt. Weder handele es sich bei den Vermögensanlagen des Klägers um ein "Riester"-Produkt noch erfülle der Kläger den Befreiungstatbestand des § 231 SGB VI. Auch Anhaltspunkte für eine offensichtliche Unwirtschaftlichkeit der Verwertung des Vermögens bestünden nicht. Eine Bedürftigkeit des Klägers ergebe sich auch nicht unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG, wonach ein Anspruch auf Alhi nicht allein deshalb verneint werden dürfe, weil der Wert des beim Arbeitslosen vorhandenen Vermögens die Freibeträge der AlhiV übersteige. Das BSG halte die AlhiV 2002 insofern nicht für ermächtigungskonform, als diese keine Härtefallklausel enthalte. Es sei daher im Einzelfall zu prüfen, ob ein besonderer Härtefall vorliege, wobei zu berücksichtigen sei, dass die ab 1. Januar 2005 durch das SGB II eingeführten Freibetragsgrenzen bei einer Anrechnung von Vermögen ein Maßstab für die Beurteilung einer nicht zumutbaren Verwertung von Vermögen bildeten. Dies gelte insbesondere für die über die AlhiV hinaus gewährten zusätzlichen Freibeträge in Höhe von 200,00 EUR pro Lebensjahr bei einer Altersvorsorgebildung des Vermögens. Diese Freibeträge könnten im Rahmen einer Härtefallprüfung auch in den Jahren 2003 und 2004 der Verpflichtung zur Auflösung von Lebensversicherungsverträgen mit Altersvorsorgebindung entgegenstehen. In entsprechender Anwendung von § 12 Abs. 2 Nr. 3 SGB II seien daher vom Vermögen auch geldwerte Ansprüche abzusetzen, die der Altersvorsorge dienten, soweit der Inhaber sie vor dem Eintritt in den Ruhestand aufgrund einer vertraglichen Vereinbarung nicht verwerten könne und der Wert der geldwerten Ansprüche 200,00 EUR je vollendetem Lebensjahr des Hilfebedürftigen, höchstens jedoch 13.000,00 EUR nicht überstiegen. Da ein Verwertungsausschluss bei der TCMB-Anlage nicht bestanden habe und im Übrigen sonstige Anhaltspunkte für eine besondere Härte nicht ersichtlich seien, könne vorliegend kein weiterer Freibetrag berücksichtigt werden. Lediglich ergänzend sei anzumerken, dass auch das bei der Deutschen Bank vorhandene Vermögen in Form eines Bonussparvertrages sowie eines Bausparvertrages dem Kläger zuzurechnen sei. Dass dieser das Vermögen für seine Kinder angespart habe, führe nicht zu dessen Unverwertbarkeit. § 1 Abs. 3 AlhiV 2002, der die Unverwertbarkeit von Vermögen regele, kenne keinen derartigen Tatbestand. Auch die im Jahr 2003 erfolgte Übertragung des Bausparvertrages an die Tochter führe zu keiner maßgeblichen Änderung. In diesem Fall trete nämlich an die Stelle des Bausparguthabens der dann bestehende Rückforderungsanspruch gemäß § 528 BGB. Die Beklagte habe gemäß § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X die Bewilligungsentscheidungen auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurücknehmen dürfen, da die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und 3 SGB X erfüllt seien. Auf Vertrauen könne sich der Kläger nicht berufen, da er zum einen zumindest grob fahrlässig falsche oder zumindest unvollständige Angaben hinsichtlich seiner Vermögensverhältnisse gemacht habe und zum anderen die Rechtswidrigkeit der ihm bewilligten Alhi gekannt oder zumindest grob fahrlässig nicht gekannt habe. Die zurückgenommenen Bewilligungsbescheide beruhten jeweils auf Angaben, die der Kläger zumindest grob fahrlässig unvollständig gemacht habe. Grobe Fahrlässigkeit sei gegeben, wenn der Kläger als Begünstigter die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt habe. Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletze, wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstelle und daher nicht beachte, was im gegebenen Fall jedem einleuchten müsse. Dabei sei das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie den besonderen Umstände des Falles zu beurteilen (sogenannter subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff). Im Hinblick auf den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit sei zu beachten, dass dem Kläger im Antragsvordruck ganz einfache Fragen über vorhandene Vermögenswerte gestellt worden seien. Auch in Anbetracht der vom Kläger geltend gemachten Sprachschwierigkeiten sei es dem Kläger zur Überzeugung der Kammer - gegebenenfalls unter Einschaltung einer Hilfsperson - ohne Weiteres möglich gewesen, die Fragen auf dem Antragsvordruck wahrheitsgemäß zu beantworten. Wer hingegen Angaben mache, obwohl er infolge mangelnder Sprachkenntnisse die Fragen nicht verstanden habe, könne sich nicht vom Vorwurf der groben Fahrlässigkeit exkulpieren. Würden nämlich Angaben "ins Blaue hinein" gemacht, so liege jedenfalls grob fahrlässiges Handeln vor. Aus den zuvor genannten Gründen habe der Kläger zur Überzeugung der Kammer auch erkennen müssen, dass ein Anspruch auf Alhi nicht bestanden habe. Der Rücknahme der Alhi-Bewilligung stehe auch nicht die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X entgegen. Nach dieser Vorschrift müsse die Behörde innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigten, über die Rücknahme entscheiden. Nach ständiger Rechtsprechung der Sozialgerichte beginne die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X erst nach erfolgter Anhörung des Betroffenen. Eine Entscheidung, ob die Rücknahme "gerechtfertigt" sei, könne erst nach der Reaktion des Betroffenen auf die Anhörung erfolgen, da erst ab diesem Zeitpunkt überhaupt entschieden werden könne, ob die subjektiven Maßstäbe der positiven Kenntnis bzw. groben Fahrlässigkeit vorlägen. Eine Anhörung sei im September 2006 erfolgt, sodass die Jahresfrist zur Zeit der Entscheidung im Oktober 2006 noch nicht abgelaufen gewesen sei. Nach § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X könne ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung u.a. dann bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden, wenn die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 SGB X vorliegen. Dies sei der Fall. Gemäß § 330 Abs. 2 SGB III sei die Beklagte verpflichtet gewesen, die rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakte mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Die Pflicht zur Erstattung der rechtswidrig bewilligten Alhi ergebe sich aus § 50 Abs.1 SGB X. Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte den Rückerstattungsbetrag nicht richtig beziffert habe, seien nicht ersichtlich und seien im Übrigen auch nicht geltend gemacht worden. Die Klage habe jedoch Erfolg, soweit die Beklagte die geleisteten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge in Höhe von 5.237,92 EUR zurückfordere. Für eine Erstattung der geltend gemachten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge gebe es keine Rechtsgrundlage mehr. Durch das Hartz-IV-Gesetz vom 24. Dezember 2003 sei in der vormals maßgeblichen Rechtsgrundlage § 335 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 mit Wirkung vom 1. Januar 2005 das Wort "Arbeitslosenhilfe" gestrichen worden. Wegen dieser Änderung bestehe ab dem 1. Januar 2005 keine Rechtsgrundlage für die Rückforderung von Beiträgen bei aufgehobener Alhi-Bewilligung, auch wenn sich die Aufhebung auf Zeiträume vor dem 31. Dezember 2004 beziehe. Dies vom Gesetzgeber wohl kaum beabsichtigte Ergebnis sei vom Wortlaut des Gesetzes her nicht zu vermeiden.

Gegen das seinen Prozessbevollmächtigten am 2. April 2009 zugestellte Urteil richtet sich die am Montag, den 4. Mai 2009 eingelegte Berufung des Klägers. Die Beklagte hat gegen das ihr am 1. April 2009 zugestellte Urteil Berufung am 14. April 2009 eingelegt.

Der Kläger trägt zur Begründung seiner Berufung vor, dass er keine grob fahrlässigen falschen oder zumindest unvollständigen Angaben hinsichtlich seiner Vermögensverhältnisse gemacht habe und er auch die Rechtswidrigkeit der ihm bewilligten Alhi nicht gekannt oder grob fahrlässig nicht gekannt habe. Grobe Fahrlässigkeit setze voraus, dass der Kläger unter Berücksichtigung seiner individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit seine Sorgfaltspflicht in außergewöhnlich hohem Maße verletzt habe. Der Kläger sei türkischer Staatsangehöriger der ersten Einwanderungsgeneration. Er sei der türkischen Sprache nahezu überhaupt nicht mächtig. Im Rahmen des Merkblattes bzw. des Antrages auf Bedürftigkeitsprüfung seien ausländische Vermögenswerte explizit nicht angegeben. Dem Kläger wie auch dem Großteil der türkischen Mitbürger sei zum damaligen Zeitpunkt nicht bekannt gewesen, dass in der Türkei angelegtes Vermögen zu berücksichtigen sei. Dem Kläger sei nicht klar gewesen, dass ausländisches Vermögen sowohl bei der Steuer als auch bei sonstigen Behörden in Deutschland berücksichtigungsfähig sei. Dies sei dem Kläger auch von der türkischen Regierung und der Türkischen Zentralbank in Werbevideos mitgeteilt worden.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 2. März 2009 abzuändern, den Bescheid der Beklagten vom 31. Oktober 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Februar 2007 ganz aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Reutlingen vom 2. März 2009 abzuändern und die Klage ganz abzuweisen und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Die Beklagte trägt zur Begründung ihrer Berufung vor, dass das SG der Klage zu Unrecht teilweise stattgegeben habe. Der Kläger müsse die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge erstatten. Die Rechtsgrundlage dafür bilde § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg, die Berufung der Beklagten ist erfolgreich.

Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegten Berufungen sind statthaft (§ 143 SGG), da der Wert des Beschwerdegegenstands jeweils 750,- EUR übersteigt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Die Berufung des Klägers ist nicht begründet, denn die Beklagte war berechtigt, die Leistungsbewilligung in vollem Umfang für den hier streitigen Zeitraum zurückzunehmen und die erbrachten Leistungen nebst der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zurückzufordern. Entsprechend ist die Berufung der Beklagten begründet, denn die Aufhebung der Bescheide durch das SG hinsichtlich der Rückforderung der Beiträge erfolgte zu Unrecht.

Die Voraussetzungen für eine Rücknahme der Bescheide über die Bewilligung von Alhi für die Zeit vom 8. Februar 2002 bis zum 31. Dezember 2004 hat das SG zutreffend angenommen. Es hat unter Darstellung der maßgeblichen Rechtsvorschriften überzeugend ausgeführt, dass die Bewilligungsbescheide rechtswidrig waren, weil der Kläger wegen des bei der TCMB angelegten Vermögens keinen Anspruch auf Alhi hatte, die Bewilligungsbescheide auf seinen Angaben beruhten, die er jedenfalls grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung hinsichtlich der Anlage bei der TCMB unrichtig oder unvollständig gemacht hat und die Beklagte die für die Rücknahmeentscheidung erforderlichen Fristen eingehalten hat sowie die Rücknahme vorliegend keiner Ermessensentscheidung bedurfte. Der Senat nimmt insofern auf die Darlegungen des SG Bezug und weist die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Urteils zurück (§ 153 Abs. 2 SGG).

Ergänzend zu den ausführlichen Darlegungen in dem angefochtenen Urteil ist im Hinblick auf das Vorbringen des Klägers im Berufungsverfahren noch auszuführen, dass er sich nicht auf Vertrauensschutz berufen kann. Der Kläger hatte in den jeweiligen Antragsformularen das vorhandene, bei der TCMB angelegte Vermögen nicht angegeben. Damit hat er zumindest grob fahrlässig unrichtige bzw. unvollständige Angaben gemacht. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X), also wenn die in der Personengruppe herrschende Sorgfaltspflicht in ungewöhnlich hohem Maße verletzt worden ist. Das ist der Fall, wenn außer Acht gelassen worden ist, was im gegebenen Falle jedem hätte einleuchten müssen. Auch dem Kläger hätte einleuchten müssen, dass vermögens- und einkommensabhängige Sozialleistungen auch von einem im Ausland befindlichen Vermögen beeinflusst werden. Im Antragsformular wird insoweit auch ohne geographische Einschränkung nach sämtlichen Vermögenswerten gefragt, sodass es jedem eingeleuchtet hätte, auch ausländisches Vermögen anzugeben. Auch dem aus der Türkei stammenden Kläger hätte einleuchten müssen, dass vermögens- und einkommensabhängige Sozialleistungen, insbesondere dann, wenn diese Sozialleistungen wie die Alhi sozialhilfegleichen Charakter haben, auch von einem im Ausland befindlichen Vermögen beeinflusst werden. Dieser jedem einleuchtenden Einsicht und dem sich jedem aufdrängenden entsprechenden Verhalten hat sich der Kläger verschlossen. Die dahingehende Sorglosigkeit und Pflichtwidrigkeit des Klägers stellt eine Sorgfaltspflichtverletzung in einem besonders schweren Maße dar und begründet zumindest grobe Fahrlässigkeit. Der Annahme grober Fahrlässigkeit steht auch nicht entgegen, dass der Kläger aus dem türkischen Kulturkreis stammt und auch nicht in türkischer Sprache belehrt worden war. Zwar mag die soziokulturelle Herkunft des Klägers dessen Vorstellungswelt beeinflussen. Bei der Obliegenheitspflicht, richtige und vollständige Angaben bei der Beantragung einer Sozialleistung zu machen, kann dies jedoch nicht berücksichtigt werden (Senatsurteil vom 26. Juni 2008 - L 12 AL 4809/07 -; so auch bspw. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 9. November 2010 - L 13 AL 1806/08 - (juris)). Die Obliegenheit, vollständige und wahrheitsgemäße Angaben zu machen, gilt für jeden Leistungsempfänger in gleichem Umfang, deshalb ist auch eine Verletzung dieser Obliegenheit für jeden Leistungsempfänger gleich zu beurteilen. Dabei durfte sich der Kläger nicht auf Einlassungen von Seiten der TCMB und des türkischen Staates, wie von ihm behauptet, verlassen, dass ausländisches Vermögen sowohl bei der Steuer als auch bei sonstigen Behörden in Deutschland nicht berücksichtigungsfähig sei. Denn solche Dritten sind erkennbar weder befugt noch in der Lage, vertrauenswürdige Informationen über die Berücksichtigungsfähigkeit des bei der TCMB angelegten Vermögens im Rahmen der Gewährung vermögens- und einkommensabhängiger Sozialleistungen in der Bundesrepublik Deutschland zu geben. Der Kläger konnte sich ohne vorherige Rücksprache bei der für die Leistungsgewährung zuständigen Beklagten oder einer vergleichbaren innerstaatlichen Stelle nicht auf die Richtigkeit der von ihm behaupteten Informationen verlassen. Auch ist eine Belehrung in türkischer Sprache nicht erforderlich gewesen. Gemäß § 19 Abs.1 SGB X ist deutsch die Amtssprache. Wenn ein Leistungsempfänger dieser Sprache nicht so ausreichend mächtig wäre, um ein Antragsformular korrekt auszufüllen und entsprechende Belehrungen zu verstehen, ist dieser verpflichtet, Hilfspersonen hinzuzuziehen oder weitere Erkundigungen einzuholen (bspw. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 9. November 2010 - L 13 AL 1806/08 - (juris)). Falls er dies unterlässt, handelt er in der Regel grob fahrlässig. Den jeweiligen Antragsteller trifft die Pflicht, Verständnisprobleme auszuräumen. Selbst wenn man unterstellen wollte, dass der Kläger vorliegend nur über geringe Deutschkenntnisse verfügt hätte, würde ihn dies nicht entlasten. Denn in der Rechtsprechung ist anerkannt, dass einem Ausländer ein Sorgfaltsverstoß anzulasten ist, wenn er in Kenntnis seiner Verständigungsprobleme nicht das Erforderliche unternimmt, um das Verständigungsproblem auszuräumen (z.B. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 6. Dezember 2000 - L 5 AL 4372/00 - (juris)). Der Sorgfaltsverstoß liegt dann nicht darin, dass der Kläger den Inhalt eines amtlichen Formulars nicht verstanden hätte, sondern darin, dass er sich nicht ausreichend um die Verfolgung seiner Interessen gekümmert hat, obwohl er nach Lage des Falles hierzu Anlass hatte und dazu in der Lage gewesen war. Sollte der Kläger tatsächlich nicht verstanden haben, was in den vorgedruckten Belehrungen der Beklagten stand, trifft ihn der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit schon allein deswegen, weil er sich nicht darum bemüht hat, die Belehrung zu verstehen oder gegebenenfalls einen Dolmetscher hinzuzuziehen. Auch in der Parallelwertung in der Laiensphäre muss sich einem der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Bezieher von Alhi bei naheliegender Überlegung ohne Weiteres aufdrängen, dass er nicht verstandene Fragen und Belehrungen nicht ins Blaue hinein beantworten oder unbeachtet lassen darf. Damit waren die Bewilligungsentscheidungen der Beklagten zurückzunehmen (§ 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III); Ermessen war nicht auszuüben.

Der Kläger ist daher nach § 50 Abs. 1 SGB X verpflichtet, die im Zeitraum vom 8. Februar 2002 bis 31. Dezember 2004 überzahlte Alhi zu erstatten. Der Rückforderungsbetrag für diesen Zeitraum ist von der Beklagten zutreffend mit 25.990,96 EUR festgesetzt worden.

Rechtsgrundlage für die Rückforderung der in diesem Zeitraum von der Beklagten geleisteten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung ist § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III. Zwar wird in der ab 1. Januar 2005 geltenden Fassung des § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III (Gesetz vom 24. Dezember 2003 - BGBl I S. 2954) Alhi nicht mehr genannt, nach der Rechtsprechung des BSG ist die durch die versehentliche Streichung des Gesetzgebers entstandene planwidrige Gesetzeslücke im Rahmen der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung dadurch zu schließen, dass die Bezieher von Alhi den sonstigen Leistungsbeziehern im Sinne des § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III gleichzustellen sind (vgl. BSG, Urteil vom 7. Oktober 2009 - B 11 AL 31/08 R - (juris)). Der Kläger ist daher auch zur Erstattung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von insgesamt 5.237,92 EUR verpflichtet. Die Erstattungsforderung ist von der Beklagten zutreffend berechnet worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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