L 6 SB 3571/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 9 SB 1975/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 3571/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 9. August 2011 abgeändert und die Klage auch im Übrigen abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) streitig.

Das ehemalige Versorgungsamt R. hatte unter Zugrundelegung der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. Sch. vom 23.12.2003, in der als Behinderungen degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen und eine Funktionsbehinderung beider Schultergelenke (Einzel-GdB 20) sowie eine Gebrauchseinschränkung des linken Fußes, Krampfadern und Coxalgien (Einzel-GdB 20) berücksichtigt wurden und der Gesamt-GdB mit 30 eingeschätzt wurde, mit Bescheid vom 12.01.2004 den GdB des am 18.04.1950 geborenen Klägers mit 30 seit 14.11.2003 festgestellt.

Der Kläger beantragte am 30.03.2009 die Neufeststellung des GdB. Er machte eine Verschlimmerung der orthopädischen Leiden sowie Schmerzzustände, Durchschlafstörungen und Konzentrationsschwächen geltend. Das zuständig gewordene Landratsamt R. holte den Befundbericht der Allgemeinmedizinerin und Herzchirurgin Dr. G.-W. vom 21.08.2009 ein. Sie beschrieb unter Vorlage der Arztbriefe des Orthopäden Dr. K. vom 17.11.2008 (Einschränkung der Lendenwirbelsäule ohne neurologische Ausfälle, altersentsprechende Bewegbarkeit der Hüft- und Kniegelenke) und vom 27.07.2009 (keine wesentliche Wirbelsäulenskoliose, Hüftbeweglichkeit beidseits endgradig eingeschränkt, keine Sensibilitätsstörungen, keine Paresen, volle Bewegung gegen starken Widerstand), eine chronisch rezidivierende Lumboischialgie, eine lumbale Instabilität L4/5, eine Osteochondrose multipler Etagen, ein chronisches Cervicalsyndrom, eine Bursitits an der linken Ferse, ein Impingement der rechten Schulter, eine Bursitis subacromialis links, ein chronisches Schmerzsyndrom, Durchschlafstörungen, Konzentrationsstörungen und eine Sehschwäche. Dr. M. berücksichtigte in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 26.10.2009 als Behinderungen degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, eine Instabilität, eine Funktionsbehinderung beider Schultergelenke, ein Schulter-Arm-Syndrom und ein chronisches Schmerzsyndrom (Einzel-GdB 30), eine Gebrauchseinschränkung des linken Fußes, Krampfadern und Coxalgien (Einzel-GdB 20) sowie psychovegetative Störungen (Einzel-GdB 10) und bewertete den Gesamt-GdB mit 40. Mit Bescheid vom 04.11.2009 hob das Landratsamt den Bescheid vom 12.01.2004 auf und stellte den GdB des Klägers mit 40 seit 30.03.2009 fest.

Hiergegen legte der Kläger am 23.11.2009 Widerspruch ein. Er legte den Befundbericht des Dr. K. vom 16.12.2009 (deutlich eingeschränkte Leistungsfähigkeit) vor. Dr. M. hielt in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 11.03.2010 an der bisherigen GdB-Beurteilung fest. Sodann legte der Kläger den Arztbrief des Neurologen und Psychiaters Dr. E. vom 11.02.2010 (chronische Kreuzschmerzen) vor. Dr. A.-F. führte in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 24.04.2010 aus, es seien alle Behinderungen erfasst und wohlwollend bewertet worden, so dass eine höhere GdB-Einstufung nicht zu begründen sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 17.05.2010 wies das Regierungspräsidium Stuttgart den Widerspruch zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 14.06.2010 Klage beim Sozialgericht Reutlingen erhoben. Das Sozialgericht hat zunächst Dr. E. unter dem 02.08.2010, Dr. G.-W. unter dem 20.08.2010 und Dr. K. unter dem 23.08.2010 schriftlich als sachverständige Zeugen gehört. Dr. E. hat ausgeführt, die Funktionseinschränkungen des Klägers seien versorgungsärztlich ausreichend erfasst. Dr. G.-W. und Dr. K. haben einen Gesamt-GdB von 50 für gerechtfertigt gehalten.

Der Kläger hat daraufhin den Arztbrief der Neurologin W. vom 28.09.2010 (degenerative Wirbelsäulenbeschwerden, chronische Schmerzen, beginnende Polyneuropathie unklarer Genese) vorgelegt.

Sodann hat das Sozialgericht von Amts wegen das Gutachten der Orthopädin Dr. K. vom 13.10.2010 eingeholt. Sie hat die Funktionsbehinderung und die Verschleißerkrankung der Wirbelsäule sowie das chronische Schmerzsyndrom mit einem Einzel-GdB von 40, die Funktionsbehinderung beider Schultergelenke mit einem Einzel-GdB von 10 sowie die Fußdeformität und die Polyneuropathie beider Fußsohlen (seitengleich abrollender Gang auch barfuß) mit einem Einzel-GdB von 10 und den Gesamt-GdB mit 40 bewertet. Sie hat ferner ausgeführt, diese Einschätzung könne nur unter Anerkennung eines chronischen Schmerzsyndroms begründet werden und sei tendenziell eher positiv, um nicht eine weitere Rückstufung vornehmen zu müssen. Dem Gutachten beigefügt war der Arztbrief des Radiologischen Zentrums R. vom 02.09.2010 (Osteochondrose L4/5, Bandscheibendegeneration mit Protrusion).

Daraufhin hat das Sozialgericht auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das Gutachten des Neurologen und Psychotherapeuten Dr. N., Chefarzt am Vinzenz von Paul Hospital R., vom 07.04.2011 eingeholt. Er hat ausgeführt, der Einschätzung der Dr. K., das Wirbelsäulenleiden unter Berücksichtigung des chronischen Schmerzsyndroms mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten, schließe er sich an. Auf neurologischem Fachgebiet komme eine schmerzhafte Polyneuropathie, die einem Einzel-GdB von 20 unter Berücksichtigung beeinträchtigender Reizerscheinungen bedinge, hinzu, so dass sich ein Gesamt-GdB von 50 ergebe. Der Kläger habe berichtet, ein altes Bauernhaus selbst ausgebaut zu haben. Seine Hobbies seien Elektronikbasteln und Motorradfahren. Er befinde sich in einem guten körperlichen Allgemein- und Ernährungszustand und wirke eher jünger bei guter affektiver Schwingungsfähigkeit und ausgeglichener Stimmungslage. Es habe Zeichen einer Polyneuropathie gegeben bei leicht reduziertem Vibrationsempfinden und problemlosem Zehen- und Fersengang.

Dr. W. hat in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 15.06.2011 als Behinderungen degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen und eine Instabilität (Einzel-GdB 30) eine Polyneuropathie und ein chronisches Schmerzsyndrom (Einzel-GdB 20), eine Funktionsbehinderung beider Schultergelenke und ein Schulter-Arm-Syndrom (Einzel-GdB 10), Krampfadern und eine Funktionsstörung durch Fußfehlform (Einzel-GdB 10) sowie psychovegetative Störungen (Einzel-GdB 10) berücksichtigt und den Gesamt-GdB weiterhin mit 40 bewertet. Zur Begründung ist ausgeführt worden, objektiv ließen sich dem Gutachten der Dr. K. allenfalls mittelgradige Funktionseinschränkungen in der Hals- und Rumpfwirbelsäule entnehmen, so dass man damit bei mittelgradigen Funktionseinschränkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten für das Wirbelsäulenleiden allenfalls einen Einzel-GdB von 30 feststellen könne. Ein außergewöhnliches Schmerzsyndrom, welches bei der GdB-Bewertung zusätzlich zu berücksichtigen wäre, müsse auch eine regelmäßige Schmerztherapie zur Folge haben. Dem Gutachten lasse sich jedoch entnehmen, dass Medikamente nicht eingenommen würden und auch zur Zeit keine physikalische Therapie stattfinde. Der im Gutachten von Dr. N. angegebene Einzel-GdB von 20 für eine schmerzhafte Polyneuropathie sei zumindest vertretbar. Würde man der Ansicht des Dr. N. folgen, für das Wirbelsäulenleiden unter Einbeziehung von Schmerzen einen Einzel-GdB von 40 anzuerkennen, entspräche ein weiterer Einzel-GdB von 20 für die Polyneuropathie bei einem chronischen Schmerzsyndrom einer teilweisen Doppelbewertung, so dass entgegen der Einschätzung des Dr. N. der Gesamt-GdB nicht mit 50, sondern mit 40 zu bewerten sei.

Mit Gerichtsbescheid vom 09.08.2011 hat das Sozialgericht den Beklagten unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verpflichtet, den GdB mit 50 ab 06.04.2011 festzustellen, und die Klage im Übrigen abgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt, die Funktionsstörungen der Wirbelsäule und beider Schultergelenke bedingten einen Einzel-GdB von 40. Soweit sei den Gutachten der Sachverständigen Dr. K. und Dr. N. zu folgen. Im Bereich der Wirbelsäule handle es sich um mittelgradige bis schwere funktionelle Auswirkungen in der Hals- und Lendenwirbelsäule und mithin in zwei Wirbelsäulenabschnitten. Den versorgungsärztlich vorgetragenen Einwendungen gegen die Annahme eines chronischen Schmerzsyndroms sei nicht zu folgen. Behinderungen im Funktionssystem Beine seien mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Dabei sei die von Dr. N. beschriebene schmerzhafte Polyneuropathie mit zu berücksichtigen. Der versorgungsärztlich vorgeschlagenen getrennten Bewertung der Polyneuropathie einerseits und der übrigen Funktionsstörung der Beine andererseits sei nicht zu folgen. Es ergebe sich ein Gesamt-GdB von 50. Dass dabei im Zusammenhang mit den Wirbelsäulenveränderungen ein chronisches Schmerzsyndrom einerseits und bei den Behinderungen im Funktionssystem Beine eine schmerzhafte Polyneuropathie andererseits in die Gesamt-GdB-Beurteilung eingeflossen seien, führe entgegen der versorgungsärztlich geäußerten Befürchtung nicht zu einer unzulässigen Doppelbewertung.

Gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts hat der Beklagte am 22.08.2011 Berufung eingelegt und zur Begründung ausgeführt, die von Dr. N. angenommene wesentliche Änderung und damit ein Gesamt-GdB von 50 liege nicht vor.

Dr. W. hat in der vom Beklagten vorgelegten versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 16.08.2011 ausgeführt, die vom Sozialgericht vorgenommene zusammenfassende GdB-Bewertung der Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und beider Schultergelenke mit einem Einzel-GdB von 40 sei unzutreffend, da die Funktionssysteme Rumpf und Arme getrennt zu bewerten seien. Würde man die Behinderungen seitens des chronischen Schmerzsyndroms zusammen mit dem Wirbelsäulenleiden erfassen und dann den diesbezüglichen Einzel-GdB auf 40 erhöhen, müsse man konsequenter Weise für die Polyneuropathie allenfalls einen Einzel-GdB von nur noch 10 feststellen. Ein höherer Einzel-GdB für die Polyneuropathie alleine könne ohne bestehende Paresen nicht festgestellt werden.

Der Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 9. August 2011 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er vertritt die Ansicht, aus der Berufungsbegründung ergäben sich keine neuen Gesichtspunkte, die zu einer Änderung des bisherigen Standpunktes führen könnten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akten des Beklagten, des Sozialgerichts und des Senats verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG zulässige Berufung des Beklagten, über die der Senat aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist begründet, so dass das Urteil des Sozialgerichts abzuändern und die Klage auch im Übrigen abzuweisen war.

Zu Recht hat der Beklagte mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 04.11.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.05.2010 den einen GdB von 30 feststellenden Bescheid vom 12.01.2004 nur insoweit abgeändert, als ein GdB von 40 festzustellen war. Denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50. Das Sozialgericht hat insoweit zu Unrecht der Klage teilweise stattgegeben.

Rechtsgrundlage für eine Aufhebung von Verwaltungsakten wegen einer Verschlimmerung des Gesundheitszustandes ist § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X).

Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben (§ 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zu Gunsten des Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X). Eine wesentliche Änderung im Ausmaß der Behinderung liegt nur vor, wenn eine dauerhafte Änderung des Gesundheitszustands zu einer Änderung des GdB um wenigstens 10 führt.

Maßgebliche Rechtsgrundlagen für die Beurteilung des GdB sind die Vorschriften des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX).

Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest (§ 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, wobei eine Feststellung nur dann zu treffen ist, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt (§ 69 Abs. 1 Sätze 3 und 6 SGB IX). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Die Feststellung des GdB ist eine rechtliche Wertung von Tatsachen, die mit Hilfe von medizinischen Sachverständigen festzustellen sind. Dabei ist die seit 01.01.2009 an die Stelle der bis zum 31.12.2008 im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewandten "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX) 2008" (AHP) getretene Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG vom 10.12.2008 - BGBl. I. S. 2412 (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) anzuwenden.

Ausgehend hiervon ist den Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers für das Funktionssystem Rumpf ausreichend mit einem Einzel-GdB von 30 Rechnung getragen.

Nach den VG, Teil B, Nr. 18.9 beträgt bei Wirbelsäulenschäden ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität der GdB 0, mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) der GdB 10, mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) der GdB 20, mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) der GdB 30 und mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten der GdB 30 bis 40. Bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen kann auch ohne nachweisbare neurologische Ausfallerscheinungen (beispielsweise Postdiskotomiesyndrom) ein GdB über 30 in Betracht kommen.

Beim Kläger liegen mittelgradige funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vor. Der Senat stützt sich dabei auf das überzeugende Gutachten der Dr. K ... Im Bereich der Halswirbelsäule haben sich Bewegungsmaße bei der Kopfvor- und rückneigung von 50/0/50 Grad (Normalmaß 45-70/0/35-45 Grad), bei der Seitdrehung von 40/0/50 Grad (Normalmaß 60-80/0/60-80 Grad) und bei der Seitneigung von 20/0/20 Grad (Normalmaß 45/0/45 Grad) gezeigt. Dies sind lediglich Einschränkungen leichteren Grades bei der Seitdrehung und mittleren Grades bei der Seitneigung, so dass es sich in diesem Wirbelsäulenabschnitt angesichts der freien Beweglichkeit bei der Kopfvor- und rückneigung um Bewegungseinschränkungen geringen Grades handelt. Ferner sind von der Halswirbelsäule ausgehende neurologische Symptome mit Gefühlsstörungen und Lähmungen nicht gesichert worden. Da sich allerdings radiologisch deutliche Verschleißerscheinungen im Bereich der gesamten Halswirbelsäule mit deutlichen Verformungen und Zwischenwirbelgelenkarthrosen bestätigt haben, erscheint es vertretbar, im Bereich der Halswirbelsäule von mittelgradigen funktionellen Auswirkungen auszugehen. Im Bereich der Lendenwirbelsäule haben sich Bewegungsmaße nach Ott von 30/31 cm (Normalmaß 30/32 cm) und nach Schober von 10/13 cm (Normalmaß 10/15 cm), bei der Seitneigung von 20/0/20 Grad (Normalmaß 30-40/0/30-40 Grad) und bei der Seitwärtsdrehung von 20/0/20 Grad (Normalmaß 30-40/0/30-40 Grad) und mithin Bewegungseinschränkungen mittleren Grades gezeigt. Unter Berücksichtigung der nur geringen neurologischen Symptome ohne gesicherte Gefühlsstörungen und Lähmungen einerseits und den von Dr. K. beschriebenen radiologisch gesicherten Verschleißerscheinungen handelt es sich auch in diesem Wirbelsäulenabschnitt allenfalls um mittelgradige, keinesfalls um schwere funktionelle Auswirkungen. Mithin ist der von den VG für mittelgradige bis schwere funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten eröffnete GdB-Rahmen zwischen 30 und 40 nicht nach oben auszuschöpfen und daher der Einzel-GdB für das Funktionssystem Rumpf mit 30 zu beurteilen.

Eine Erhöhung dieses GdB-Wertes wegen der vom Kläger geklagten Schmerzen kommt nicht in Betracht. Denn nach den VG, Teil A, Nr. 2 j schließen die in der GdB-Tabelle angegebenen Werte die üblicherweise vorhandenen Schmerzen mit ein und berücksichtigen auch erfahrungsgemäß besonders schmerzhafte Zustände. Ist nach Ort und Ausmaß der pathologischen Veränderungen eine über das übliche Maß hinausgehende Schmerzhaftigkeit nachgewiesen, die eine ärztliche Behandlung erfordert, können höhere Werte angesetzt werden. Dr. W. hat aber in der versorgungsärztlichen Beurteilung vom 15.06.2011 zu Recht darauf hingewiesen, dass die Einnahme von Schmerzmedikamenten oder eine physikalische Therapie nicht stattfindet. Auch ist eine schmerztherapeutische Behandlung weder vorgetragen noch nachgewiesen. Nach der Rechtsprechung des Senats belegt aber die fehlende Behandlung, dass das Ausmaß der Beschwerden nicht so gravierend sein kann, weil es an einem entsprechenden Leidensdruck fehlt (so auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.12.2010 - L 8 SB 1549/10 - zit. nach juris). Gegen ein außergewöhnliches Schmerzsyndrom spricht im Falle des Klägers das unauffällige Berufs- und Freizeitverhalten. So kann der Kläger neben einer Vollzeitberufstätigkeit Teile der anfallenden Hausarbeit übernehmen, ein Bauernhaus in Eigenregie renovieren sowie in Zwangshaltung seinem Hobby Elektronikbasteln nachgehen und traut sich trotz Schmerzen auch Motorradfahren zu. Trotz des angeblich gestörten Schlafes vermochte er sich nicht nur in gutem Allgemeinzustand deutlich jünger wirkend zu präsentieren, sondern auch seine Konzentrationsfähigkeit war überhaupt nicht beeinträchtigt. Diese auch von Dr. N. beschriebene Verfassung des Klägers spricht aus Sicht des Senats nicht für einen stark Schmerzgeplagten.

Für das Funktionssystem Arme ist ein Einzel-GdB von 0 anzusetzen.

Nach den VG, Teil B, Nr. 18.13 beträgt bei einer Bewegungseinschränkung des Schultergelenks, sofern weder eine Versteifung noch eine Instabilität vorliegt, mit entsprechender Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit bei einer Armhebung nur bis 120 Grad der GdB 10 und nur bis 90 Grad der GdB 20. Vorliegend hat Dr. K. bei der ihrem Gutachten zugrunde liegenden Untersuchung in den Schultergelenken eine Armhebung körperwärts/seitwärts von 20/0/180 Grad beidseits sowie rückwärts/vorwärts von 30/0/180 Grad beidseits gemessen. Mithin hat sie eine freie Beweglichkeit beschrieben, so dass diesbezüglich entgegen der gutachterlichen und versorgungsärztlichen Bewertung kein GdB zu vergeben ist, zumal Dr. K. in ihrem Gutachten eine freie Beweglichkeit der Ellenbogengelenke, Unterarme sowie Hand- und Fingergelenke attestiert hat.

Für das Funktionssystem Beine beträgt der Einzel-GdB 10.

Nach den VG, Teil B, Nr. 3.11 ergeben sich bei den Polyneuropathien die Funktionsbeeinträchtigungen aufgrund motorischer Ausfälle (mit Muskelatrophien), sensibler Störungen oder Kombinationen von beiden und ist der GdB motorischer Ausfälle in Analogie zu den peripheren Nervenschäden einzuschätzen. Bei den sensiblen Störungen und Schmerzen ist zu berücksichtigen, dass schon leichte Störungen zu Beeinträchtigungen - beispielsweise bei Feinbewegungen - führen können. Nach den VG, Teil B, Nr. 18.14 werden nur vollständige Nervenausfälle mit einem GdB bewertet. Nach dem Gutachten des Dr. N. liegen beim Kläger lediglich Zeichen einer Polyneuropathie mit insgesamt schwachem Reflexniveau, aufgehobenem Achillessehnenreflex beidseits und einer Pallhypästhesie an den Füßen vor. Dieser Zustand ist nicht mit einem vollständigen Nervenausfall vergleichbar und mithin, da auch aus sensiblen Störungen herrührende wesentliche Funktionsbeeinträchtigungen nicht gegeben sind, allenfalls mit einem GdB von 10 zu bewerten. Insoweit war aus Sicht des Senats zu berücksichtigen, dass beide Sachverständige ein völlig unauffälliges, intaktes Gangbild beschrieben haben, der Kläger konnte sogar problemlos den Zehen- und Fersengang ausführen, so dass es letztlich an greifbaren funktionellen Ausfällen fehlt.

Nach den VG, Teil B, Nr. 18.14 beträgt bei Fußdeformitäten ohne wesentliche statische Auswirkungen (beispielsweise Senk-Spreizfuß, Hohlfuß, Knickfuß, auch posttraumatisch) der GdB 0, mit statischer Auswirkung je nach Funktionsstörung geringen Grades der GdB 10 und stärkeren Grades der GdB 20. Beim Kläger liegt nach dem Gutachten der Dr. K. lediglich eine geringfügige Verbreiterung des Vorfußes mit abgesunkenem Quergewölbe vor. Da hiervon keine statischen Auswirkungen ausgehen, ist für diese Erscheinung kein GdB zu vergeben.

Angesichts der von Dr. K. beschriebenen freien Beweglichkeit der unteren Extremitäten und fehlender funktioneller Auswirkungen des aktenkundigen Krampfaderleidens beträgt der Einzel-GdB für das Funktionssystem Beine mithin allenfalls 10.

Für die beim Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche zu berücksichtigende von Dr. K. und Dr. N. umschriebene Schmerzerkrankung beträgt der Einzel-GdB allenfalls 10.

Nach den VG, Teil B, Nr. 18.4 sind die Fibromyalgie und ähnliche Somatisierungs-Syndrome (beispielsweise CFS/MCS) jeweils im Einzelfall entsprechend der funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen. Da vorliegend die funktionellen Auswirkungen der von Dr. K. und Dr. N. beschriebenen Schmerzerkrankung gering sind, wendet der Senat zur Beurteilung dieser Schmerzerkrankung die für seelische Erkrankungen aufgestellten Grundsätze an. Nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 beträgt bei Neurosen, Persönlichkeitsstörungen oder Folgen psychischer Traumen bei leichteren psychovegetativen oder psychischen Störungen der GdB 0 bis 20, stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (beispielsweise ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) der GdB 30 bis 40, schweren Störungen (beispielsweise schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten der GdB 50 bis 70 sowie mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten der GdB 80 bis 100.

Vorliegend liegen beim Kläger noch keine stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, sondern aufgrund seiner Klagsamkeit allenfalls leichtere psychovegetative oder psychische Störungen vor. Dies schließt der Senat daraus, dass beim Kläger keine schmerztherapeutische Behandlung durchgeführt wird und Dr. N. keine psychische Erkrankung festgestellt hat. Daher überzeugen auch die Ausführungen des Dr. N., der einen Gesamt-GdB von 50 annimmt, nicht.

Unter Berücksichtigung der dargelegten Einzel-GdB-Werte (Einzel-GdB 30 für das Funktionssystem Rumpf, Einzel-GdB 10 für das Funktionssystem Beine, Einzel-GdB 10 für das Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche) beträgt der Gesamt-GdB jedenfalls nicht mehr als 40.

Der Berufung war daher stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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