L 3 U 74/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 11 U 1031/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 U 74/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 01. Dezember 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 20 v.H. streitig.

Die am 22.03.1958 geborene Klägerin war ab dem 01.02.1980 als Bedienung/Service im Gasthaus J. in T. beschäftigt. Am 22.10.1984 stürzte sie während eines Betriebsausfluges um 18:30 Uhr beim Aussteigen aus dem Bus. Hierbei zog sie sich eine infraglenoidale Schulterluxation rechts sowie eine Rißwunde im rechten Oberschenkel zu. Wegen einer Wundinfektion befand sie sich vom 25.10.1984 bis 06.11.1984 in stationärer Behandlung im Kreiskrankenhaus T ...

Im November 2006 verspürte die Klägerin beim Rommé-Spielen einen heftigen Schmerz im Bereich der rechten Schulter beim Ausspielen einer Spielkarte. Am 11.01.2007 wurde sie in der Helios-Klinik T. operativ behandelt. Im Arztbrief des dortigen Chefarztes Unfallchirurgie Dr. H. vom 11.01.2007 wurden als Diagnosen eine Bewegungseinschränkung im Schultergelenk rechts bei alter Bankart-Läsion sowie ein Impingementsyndrom der Schulter rechts genannt. Es sei eine offene AC-Plastik, eine Bankart-Operation sowie Kapsel-shifting rechts durchgeführt worden.

Die Krankenkasse der Klägerin teilte der Beklagten mit, die Klägerin sei bei ihr Mitglied seit 01.11.1986, die Vorkasse sei nicht bekannt. Es habe Arbeitsunfähigkeit vom 11.01.2007 bis 02.04.2007 bestanden wegen Impingementsyndrom und Bankart-Läsion der Schulter rechts.

Der damalige Arbeitgeber der Klägerin teilte mit, ihm lägen keine Unterlagen bezüglich des Vorgangs aus dem Jahr 1984 mehr vor.

Nachdem Dr. O. in der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 07.05.2008 ausgeführt hatte, die stationäre Behandlung vom 11.01. bis 17.01.2007 sei mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf Unfallfolgen des Unfalls im Jahr 1984 zurückzuführen, es handele sich um eine typische Schädigung bei Schulterluxation, stellte die Beklagte mit Bescheid vom 09.05.2008 fest, dass die Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit der Klägerin vom 11.01.2007 bis 02.04.2007 auf die Folgen des Arbeitsunfalles vom 22.10.1984 zurückzuführen seien.

Die Klägerin bezog Verletztengeld bis zum 02.04.2007.

Im Zwischenbericht vom 07.04.2008 teilte Dr. H. als Durchgangsarzt mit, nach Bankart-OP rechts bestünden noch Bewegungs- und Druckschmerzen über der vorderen Gelenkkapsel mit Bewegungseinschränkung in Außendrehung Außen-/Innenrotation 30-0-90°, Rückwärts-/Vorwärtshebung (Retro-/Anteversion) 40-0-120° und Seitwärts-/Körperwärtsheben (Ab-/Adduktion) 40-0-100°. Die Gelenkführung sei klinisch stabil, es bestehe keine wesentliche Kraftminderung.

Am 14.07.2008 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Bewilligung einer Verletztenrente. Die Beklagte beauftragte daraufhin Prof. Dr. S., Geschäftsführender Direktor der Universitätsklinik Freiburg, Department Orthopädie und Traumatologie, mit der Erstattung eines Gutachtens. Im Gutachten vom 17.12.2008 führte dieser aus, an Unfallfolgen bestünden eine Bewegungseinschränkung der rechten Schulter vornehmlich bei Abduktion sowie Anteversion (jeweils bis 90°), geringer der Innenrotationsfähigkeit, eine alte Bankartläsion, eine Hill-Sachs-Delle im Bereich Schulter bzw. Oberarm rechtsseitig sowie Narbenbildung im Bereich der rechten Schulter nach operativer Revision der Bankartläsion sowie im Bereich des rechten dorsolateralen Oberschenkels. Hinsichtlich der Bewegungseinschränkung bestehe Übereinstimmung zwischen den Angaben der Klägerin und dem objektiven Untersuchungsbefund. Die subjektiv empfundene massive Schmerzhaftigkeit der rechten Schulter sei klinisch nur bedingt nachvollziehbar. Die MdE betrage ab dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit 10 v.H.

Die Beklagte zog weitere Berichte des behandelnden Orthopäden Dr. H. bei. Im Bericht vom 16.02.2009 gab dieser an, es bestehe noch Kraftminderung 3/5 und Schmerzen sowie Bewegungseinschränkung ab 90° Abduktion und 100° Anteversion. Es wurde Physiotherapie verordnet. Im Zwischenbericht vom 07.04.2009 wurde die Abduktion bis 90° angegeben, es wurde weiter Physiotherapie verordnet. Ausweislich des Zwischenberichts vom 04.05.2009 betrug die Abduktion 100°. Im Zwischenbericht vom 06.07.2009 wird ausgeführt, die Klägerin habe sich zur Weiterverordnung von Physiotherapie vorgestellt, es bestehe Schmerzverstärkung bei Abduktion über 100° und bei Abduktion und Außenrotation. Im Zwischenbericht vom 27.07.2009 stellte Dr. H. die Diagnosen einer Supraspinatus-Insertionstendinose rechts bei stabiler Schulter und Zustand nach Bankart-Operation der rechten Schulter. Bezüglich Verlauf und Befund gab er an, die Klägerin berichte über nachlassende Kraft und Bewegungsschmerzen bei Überkopfarbeiten mit der rechten Schulter. Klinisch sei die rechte Schulter stabil geführt, die Impingementtests und Rotatorenmanschettentests seien jedoch schmerzhaft, mit subjektiver Kraftminderung, im Widerstandstest dem M. Supraspinatus zugeordnet. Die Bewegungsmaße betrugen Retro-/Anteversion 40-0-140°, Abduktion/Adduktion 120-0-40°, Außenrotation/Innenrotation 50-0-80° aktiv und passiv. Unfallunabhängig bestehe eine SSP-Insertionstendinose. Die Behandlung sei voraussichtlich abgeschlossen am 17.08.2009. In einer Kernspintomographie der rechten Schulter diagnostizierte Dr. A. am 10.08.2009 eine leichte Insertionstendopathie der Supraspinatussehne bei subacromialem Impingement ohne Anhalt für einen Einriss sowie eine geringe ACG-Arthrose mit Kapsulitis.

Nachdem die Klägerin zwischenzeitlich Untätigkeitsklage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben hatte (S 8 U 3898/09) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26.08.2009 die Bewilligung einer Verletztenrente ab. Als unfallbedingte Erkrankungen stellte sie eine schmerzhaft eingeschränkte Beweglichkeit der rechten Schulter, eigentätig stärker als fremdtätig, vornehmlich Abduktion sowie Anteversion, geringer bei der Innenrotationsfähigkeit, Narbenbildung im Bereich der rechten Schulter nach operativer Revision der Bankartläsion sowie des rechten dorsalen Oberschenkels fest. Hiergegen legte die Klägerin am 28.09.2009 Widerspruch ein.

Die Beklagte zog weitere Zwischenberichte von Dr. H. bei. Im Zwischenbericht vom 31.08.2009 teilte dieser mit, die Klägerin habe sich bei aktuell mäßigen Bewegungs- und Belastungsschmerzen im rechten Schulterhauptgelenk zur MRT-Befundbesprechung vorgestellt. Klinisch sei das Kapselmuster in Abduktion und beidseits bei Rotation schmerzhaft, die Gelenkführung stabil. Es bestehe eine Kraftminderung nach OP der rechten Schulter. Im Zwischenbericht vom 28.09.2009 gab Dr. H. an, die Klägerin habe sich bei verstärkten Bewegungs- und Belastungsschmerzen im rechten Schulterhauptgelenk nach Fensterputzarbeiten wieder vorgestellt. Im Zwischenbericht vom 04.01.2010 empfahl Dr. H. erneut eine Vorstellung in der BG-Klinik T. bei formal bestehender Arbeitsfähigkeit.

Mit Widerspruchsbescheid vom 28.01.2010, auf den Bezug genommen wird, wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 26.02.2010 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben, ohne diese zu begründen und ohne einen Klageantrag zu stellen.

Das SG hat den klägerischen Antrag sinngemäß dahingehend ausgelegt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 26.08.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.01.2010 zu verurteilen, als Verletztenrente eine Teilrente in Höhe von mindestens 20 v.H. der Vollrente zu gewähren. Mit Gerichtsbescheid vom 01.12.2011 hat es die so gefasste Klage unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. S. im Gutachten vom 17.12.2008 abgewiesen.

Gegen den am 06.12.2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 05.01.2012 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, im Gutachten von Prof. Dr. S. sei ihr Gesundheitszustand nicht korrekt wieder gegeben. Vor dem Hintergrund des Umfangs der Erkrankungen sei es vollkommen ausgeschlossen, unterhalb einer MdE von 20 v.H. zu verbleiben. Da das SG auch keine Ermittlungen angestellt habe, sei der Rechtsstreit an dieses zurück zu verweisen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 01. Dezember 2012 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26. August 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Januar 2010 zu verurteilen, ihr Verletztenrente nach einer MdE von wenigstens 20 v.H. ab dem 03. April 2007 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Insbesondere sei die Bewertung des Sachverständigen Prof. Dr. S. aufgrund der mitgeteilten Funktionswerte nachvollziehbar.

Der Senat hat die bei der Beklagten geführten Verwaltungsakten beigezogen. Diese enthalten einen Zwischenbericht der BG-Klinik T. vom 02.02.2010, in welchem ein lokaler Druckschmerz punktförmig über dem Coracoid bei der klinischen Untersuchung beschrieben wird. Die Beweglichkeit der rechten Schulter sei mit ca. 150° Anteversion und Abduktion deutlich eingeschränkt, die Außenrotation bis 40° ausführbar. Die Impingement-Tests seien bei der schmerzgeplagten Patientin nicht aussagekräftig durchführbar. Die Verwaltungsakten enthalten weitere Durchgangsarztberichte des Dr. H. vom 08.03.2010, 10.05.2010, 13.09.2010, 25.10.2010, 03.01.2011, 02.05.2011 und 05.09.2011, auf die insgesamt Bezug genommen wird. Im Zwischenbericht vom 05.09.2011 wird angegeben, es bestehe ein klinisch unveränderter Befund mit endgradigem Bewegungsschmerz, es werde weiterhin mobilitätserhaltende Physiotherapie rezeptiert, weitere Präventivmaßnahmen seien nicht erforderlich.

Der Senat hat weiter ein im Verfahren L 6 SB 3884/11 gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von Prof. Dr. S. erstattetes fachorthopädisches Gutachten vom 24.05.2012 beigezogen. Dieser hat hinsichtlich der Unfallfolgen die Diagnose einer endgradig schmerzhaften Funktionsbeeinträchtigung der rechten Schulter bei Zustand nach Operation wegen posttraumatischem Impingementsyndrom nach Arbeitsunfall 1984 gestellt. Gegenüber Prof. Dr. S. hat die Klägerin angegeben, es bestünden ständig wechselnd starke Beschwerden von Seiten der rechten Schulter. Die Schulterbeweglichkeit sei schmerzhaft eingeschränkt. Deswegen könne sie z.B. nicht mehr wie früher mehrere Fenster hintereinander putzen. Beim Versuch ausholender Schulterbewegungen komme es zu einem mit Schmerz verbundenen Spannungsgefühl in der rechten Schulter. Die aktiven Bewegungsausmaße gab Prof. Dr. S. wie folgt an: Ante-/Retroversion 90-0-50 Ab-/Adduktion 100-0-40 Innen-/Außenrotation 80-0-30. Den GdB für die Schulter bewertete er mit 20.

Den mit Schriftsatz vom 14.09.2012 gestellten Antrag, ein "fachorthopädisches Gutachten vom Amts wegen einzuholen, hilfsweise gem. § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Prof. Dr. S. im Hinblick auf die Unfallversicherungsleitlinien zu hören", hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung nicht mehr gestellt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten sowie der Gerichtsakten beider Rechtszüge, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Bewilligung einer Verletztenrente nach einer MdE von wenigstens 20 v.H.

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VII]). Die MdE richtet sich gem. § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Die Bemessung der MdE hängt danach von zwei Faktoren ab, nämlich den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend hierbei ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten (BSG, Urteil vom 22.06.2004, B 2 U 14/03 R - juris).

Die Bemessung des Grades der MdE, also die aufgrund § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII durch eine Schätzung vorzunehmende Festlegung des konkreten Umfangs der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Dies gilt für die Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ebenso wie für die auf der Grundlage medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen zu treffende Feststellung der verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind (BSG, Urteil vom 30.06.1998, B 2 U 41/97 R - juris). Die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem unfallversicherungsrechtlichen und unfallversicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel (BSG, Urteil vom 22.06.2004 - B 2 U 14/03 R - in juris Rn. 12).

Dementsprechende Erfahrungswerte sind beispielhaft angegeben bei Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, Ziff. 8.4.7. Danach bedingt eine Bewegungseinschränkung der Schulter vorwärts/seitwärts bis 90 Grad und freier Rotation eine MdE von 20 v.H. Bei einer Bewegungseinschränkung vorwärts/seitwärts bis 120 Grad und freier Rotation ist eine MdE von 10 v.H. angemessen (Rn 8.4.7). Die gleichen Erfahrungswerte finden sich bei Kranig in Hauck/Noftz, Gesetzliche Unfallversicherung, § 56 SGB VII Rz. 70/17.1.

Allein unter Zugrundelegung der von Prof. Dr. S. bei der gutachterlichen Untersuchung der Klägerin am 01.12.2008 gemessenen Bewegungsmaße der rechten Schulter käme zwar eine MdE von 20 v.H. in Betracht. Denn die Klägerin konnte bei der gutachterlichen Untersuchung den rechten Arm seitwärts und vorwärts aktiv nur bis 90° heben. Allerdings war bei der passiven Testung der Beweglichkeit des rechten Schultergelenks sowohl Abduktion als auch Anteversion bis ca. 150° möglich. Maßgeblich sind zwar die aktiven Bewegungsausmaße, wobei jedoch zu berücksichtigen ist, dass diese auch von der Mitarbeit des Patienten abhängig sind und die passiven Bewegungsmaße deshalb als Indiz für die Mitwirkungsbereitschaft herangezogen werden können.

Zu berücksichtigen ist jedoch weiter, dass die durch Dr. H. dokumentierten aktiven Bewegungsmaße vor und nach der gutachterlichen Untersuchung durch Prof. Dr. S. jeweils besser waren. So hat Dr. H. im Zwischenbericht vom 07.04.2008 die Abduktion mit 100° und die Anteversion mit 120° angegeben. Auch im zur gutachterlichen Untersuchung zeitnächsten Zwischenbericht vom 16.02.2009 hat Dr. H. die Anteversion mit 100° angegeben. In der Folgezeit ist eine weitere Besserung der Bewegungsfähigkeit eingetreten, wie den in den weiteren Zwischenberichten von Dr. H. mitgeteilten Bewegungsmaßen entnommen werden kann. Im Bericht vom 08.03.2010 hat dieser die Abduktion mit 130°, die Anteversion mit 140° angegeben. Bei der Untersuchung am 03.01.2011 hat die Abduktion 110°, die Anteversion 120° betragen. Auch bei den sonstigen Untersuchungen durch Dr. H. haben, soweit von ihm dokumentiert, gleiche Bewegungsmaße vorgelegen.

Etwas anderes folgt nicht aus dem von Prof. Dr. S. am 24.05.2012 im Rahmen des Berufungsverfahrens L 6 SB 3884/11 erstatteten Gutachten, das der Senat im Wege des Urkundenbeweises verwertet. Denn auch Prof. Dr. S. hat die Abduktion rechts aktiv mit 100° und damit mit mehr als 90° angegeben. Soweit er für die Funktionsbehinderung des rechten Schultergelenks einen Einzel-GdB von 20 für angemessen erachtet hat, steht dies zum einen nicht in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG), die einen GdB von 20 für Bewegungseinschränkungen des Schultergelenks mit Armhebung nur bis zu 90° vorsehen, ohne bezüglich der Seit- bzw. Vorwärtshebung zu differenzieren, für eine darüber hinaus mögliche Armhebung bis zu 120° jedoch lediglich einen GdB von 10 vorsehen. Zum anderen sind die Vorgaben der VMG für die hier zu treffende Bewertung der MdE nicht maßgeblich. Denn die Bewertung des GdB richtet sich nach anderen Maßstäben, da nicht nur Funktionsausfälle, die sich auf das gesamte Gebiet des Erwerbslebens beziehen, zu berücksichtigen sind, sondern auch die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen in allen Lebensbereichen (BSG, Urteil v. 22.06.2004 - B 2 U 14/03 R - juris; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 56 Rn. 10).

Für eine zwischenzeitliche Besserung spricht darüber hinaus, dass die Klägerin bei der Untersuchung durch Prof. Dr. S. noch angegeben hatte, Tätigkeiten über Augenhöhe seien ihr mit dem rechten Arm grundsätzlich nicht möglich. Bei der gutachterlichen Untersuchung durch Prof. Dr. S. am 23.05.2012 hat die Klägerin dagegen angegeben, wegen einer schmerzhaften Schulterbeweglichkeit könne sie z.B. nicht mehr wie früher mehrere Fenster hintereinander putzen. Daraus schließt der Senat, dass die Klägerin, wenn auch nicht über längere Zeit, Tätigkeiten mit einer Anhebung des Armes über 90° wieder ausüben kann, da das Putzen von Fenstern dies voraussetzt.

Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. liegen damit nicht vor. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Klägerin eine massive Schmerzhaftigkeit der rechten Schulter schildert. Dies ist nämlich, wie Prof. Dr. S. ausgeführt hat, klinisch nur bedingt nachvollziehbar. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin gegenüber Prof. Dr. S. als maßgebliche Beschwerden die nicht unfallbedingten Rückenschmerzen nach lumbaler Bandscheiben-OP sowie lumbaler segmentaler Versteifung 2002 angegeben hat und dieser die Funktionsbeeinträchtigung der rechten Schulter nur als endgradig schmerzhaft beschrieben hat.

Die Berufung der Klägerin war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG). Der im Schriftsatz vom 14.09.2012 gestellte Antrag, ein fachorthopädisches Gutachten "im Hinblick auf die Unfallversicherungsleitlinien" einzuholen, stellt keinen ordnungsgemäßen Beweisantrag dar, da weder ein bestimmtes Beweismittel noch die zu beweisende Tatsache benannt sind. Auch der hilfsweise gestellte Antrag auf gutachtliche Anhörung von Prof. Dr. S. gem. § 109 SGG stellt keinen Beweisantrag im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG dar (BSG, Urteil v. 22.06.2004 - B 2 U 78/04 B - juris Rn. 3). Zudem hat die Klägerin die Anträge in der mündlichen Verhandlung nicht mehr gestellt.
Rechtskraft
Aus
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