L 11 R 4115/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 14 R 1087/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 4115/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 06.09.2012 sowie der Bescheid der Beklagten vom 23.08.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.03.2011 abgeändert und die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.08.2013 bis 31.01.2016 zu gewähren.

Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

Von den außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Klage- und Berufungsverfahren trägt die Beklagte 3/4.

Tatbestand:

Die Klägerin macht einen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente geltend.

Die 1962 geborene Klägerin ist gelernte Malerin und Lackiererin. Ab 1982 war sie als Fertigungskraft bei der A. AG versicherungspflichtig beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete durch eine vom Arbeitgeber ausgesprochene Kündigung zum 31.12.2010. Ab dem 08.07.2009 war die Klägerin arbeitslos bzw arbeitsunfähig krank. Arbeitslosengeld bezog sie in der Zeit vom 17.04.2010 bis 16.04.2011. In den Jahren von 2008 bis 2013 ist jeder Monat mit einer Pflichtbeitragszeit belegt.

Es ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 anerkannt.

In der Zeit vom 22.12.2009 bis 02.02.2010 wurde eine medizinische Rehabilitation in der Fachklinik für psychische Erkrankungen O. GmbH durchgeführt. Im Entlassbericht vom 03.02.2010 wurde eine schizoaffektive Störung, gegenwärtig depressiv mit Antriebsstörung und sozialem Rückzug diagnostiziert. Die Klägerin sei nach Abschluss der Reha-Maßnahme wieder in der Lage, den Anforderungen am bisherigen Arbeitsplatz vollschichtig gerecht zu werden. Trotz der erreichten guten Besserung bestünden noch leichte Einschränkungen bezüglich Antrieb, Durchhaltevermögen, Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit sowie der Frustrationstoleranz. Eine stufenweise Wiedereingliederung sei in die Wege geleitet worden.

Nach dem Abbruch der Wiedereingliederungsmaßnahme beantragte die Klägerin am 19.04.2010 telefonisch und am 09.06.2010 schriftlich die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung aufgrund einer schizoaffektiven Psychose und Wirbelsäulenschäden verschiedener Art.

Mit Bescheid vom 23.08.2010 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Die vorliegende schizoaffektive Störung und das Wirbelsäulensyndrom führten nicht zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit.

Hiergegen legte die Klägerin am 15.09.2010 Widerspruch ein.

Die Beklagte veranlasste daraufhin die Begutachtung der Klägerin bei Dr. Sch., Arzt für Innere Medizin, Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Dieser stellte in seinem Gutachten vom 26.01.2011 aufgrund der ambulanten Untersuchung der Klägerin vom 25.01.2011 folgende Diagnosen: schizoaffektive Störung, gegenwärtig subdepressiv. Leichte bis mittelschwere Tätigkeiten in Tagschicht ohne vermehrt geistig-psychische Belastungen, ohne emotionale Belastungen ohne erhöhtes Konfliktpotential und ohne erhöhte Anforderungen an Konzentrations- und Reaktionsvermögen könne die Klägerin noch verrichten. Die psychische Symptomatik sei nicht derart ausgeprägt bzw entziehe sich nicht derart der zumutbaren Willensanstrengung, dass es ihr nicht möglich wäre, sich innerhalb von drei Monaten in eine Arbeitsfähigkeit einzuarbeiten, die dem qualitativen Leistungsbild entspricht. Wesentliche Einschränkung der Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit lägen nicht vor. Es habe sich hier auch kein Anhalt für eine sozialphobische Symptomatik ergeben.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10.03.2011 wies die Beklagte daraufhin den Widerspruch als unbegründet zurück. Leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts seien noch sechs Stunden und mehr möglich. Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit käme nur noch für Versicherte in Betracht, die vor dem 02.01.1961 geboren worden seien.

Hiergegen richtet sich die am 22.03.2011 zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhobene Klage. Das Gericht hat die behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen schriftlich vernommen. Der behandelnde Psychiater Dr. M. hat in seiner Stellungnahme vom 01.06.2011 mitgeteilt, die Klägerin sei im zwei- bis vierwöchigen Abstand bei ihm in Behandlung. Sie leide an einer schizoaffektiven Störung, gegenwärtig depressiv, sowie an einer generalisierten Angststörung. Sie könne weder ihre bisherige Tätigkeit noch leichte Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich ausüben. Sie könne nicht einmal ihren Haushalt zufriedenstellend bewältigen. Die Minderung in diesem Ausmaß bestehe seit Januar 2010.

Der Orthopäde Dr. D. hat in seiner Stellungnahme vom 10.06.2011 ausgeführt, dass der letzte Kontakt mit der Klägerin am 01.09.2009 stattgefunden habe, weshalb er zur Leistungsfähigkeit der Klägerin keine Angaben machen könne. Er gehe davon aus, dass Überkopfarbeiten sowie kniende oder hockende Tätigkeiten nicht mehr möglich seien. Lang anhaltende Wirbelsäulenzwangshaltungen, länger andauernde gebückte Tätigkeiten und Tätigkeiten in Nässe, Kälte und Zugluft seien seines Erachtens ebenfalls nicht mehr zumutbar.

Das Gericht hat daraufhin den Neurologen, Psychiater und Psychotherapeuten Dr. W. mit der Begutachtung der Klägerin beauftragt. In seinem nervenärztlichen Gutachten vom 30.11.2011 hat er im Wesentlichen einen langjährigen Alkoholabusus und eine Alkoholabhängigkei diagnostiziert, auch im Zusammenhang mit Bewältigungsversuchen von Ängsten, inzwischen in Verbindung mit halluzinatorischen Symptomen und beginnenden Zeichen des Persönlichkeitsverfalls durch die Suchterkrankung. Erst nach einer Langzeitalkoholentwöhnungsbehandlung sei die Klägerin wieder in der Lage, ihren zuletzt ausgeübten Beruf bzw leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Von einer dauerhaften quantitativen Leistungsminderung sei deshalb nicht auszugehen. Im Vordergrund des psychischen Befundes stünden langjährige erhebliche Ängste und depressive Verstimmungen, die im Rahmen der Biografie geschildert worden seien und bezüglich derer die Klägerin offenbar einen Versuch der Bewältigung mit Alkohol und Medikamenten unternommen habe. Es hätten Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen vorgelegen. Die Klägerin sei in ihren Angaben zeitweise widersprüchlich gewesen bzw habe sich korrigieren müssen. Die Stimmungslage habe nicht der subjektiven Einschätzung entsprochen, da sie weniger depressiv als vielmehr von Gleichgültigkeit und in erster Linie von einer beginnenden depravierten Grundhaltung geprägt gewesen sei. Das Antriebs- und Interessevermögen sowie das Freudevermögen seien deutlich reduziert gewesen. Eine krankheitswertige Grübelneigung habe nicht vorgelegen. Ein deutlich eingeengtes emotionales Schwingungsvermögen habe bestanden. Pathologisch affektive Schwankungen seien nicht aufgetreten und eine verwertbare Tagesverlaufsschwankung sei nicht zu eruieren gewesen, eine Suizidalität habe nicht vorgelegen. Beim Befragen zum Alkoholkonsum sei erst durch Nachfragen und Hinterfragen das gesamte Ausmaß des Alkoholabusus und der Abhängigkeit deutlich geworden. Hierbei hätten sich Hinweise auf eine dependente Persönlichkeit mit Suchtstruktur und Neigung zur Dissimulation bei mangelndem Problembewusstsein für die Suchterkrankung ergeben. Eine medizinische Langzeitrehabilitation sei daher dringen indiziert.

Die Klägerin hat gegen das Gutachten eingewandt, dass ein Alkoholproblem lediglich Ende der 90er Jahre vorgelegen habe. Sie habe ihren Alkoholkonsum im Griff.

Mit Urteil vom 06.09.2012 hat das SG die Klage abgewiesen. Die von Dr. W. in seinem nervenärztlichen Gutachten festgestellte Alkoholabhängigkeit könne nicht als erwiesen angesehen werden. Das Gericht könne sich allein den von Dr. W. erhobenen Befunden anschließen. Nach dem psychischen Befund hätten bei der Klägerin Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen vorgelegen. Die Stimmungslage sei jedoch nicht depressiv, sondern von Gleichgültigkeit und einer beginnenden depravierten Grundhaltung geprägt gewesen. Das Antriebs- und Interessenvermögen sowie das Freudevermögen seien deutlich reduziert gewesen, eine krankhafte Grübelneigung habe nicht vorgelegen. Das emotionale Schwingungsvermögen der Klägerin sei eingeengt und eine verwertbare Tageslaufschwankung nicht feststellbar gewesen. Dies entspreche im Wesentlichen auch dem erhobenen psychischen Befund von Dr. Sch ... Anhaltspunkte dafür, dass sich die psychische Symptomatik derart der zumutbaren Willensanstrengung der Klägerin entziehe, dass sie keine sechs Stunden oder gar drei Stunden täglich leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verrichten können soll, würden sich hieraus nicht ergeben.

Gegen das ihrem Bevollmächtigten am 25.09.2012 zugestellte Urteil richtet sich die am 01.10.2012 beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegte Berufung der Klägerin. Die bei der Klägerin und Berufungsklägerin vorherrschende und mehrfach ärztlicherseits festgestellte schizoaffektive Störung äußere sich insbesondere in einer Verminderung von Antriebs- und Konzentrationsfähigkeit, einer affektiven Verflachung, einer subdepressiven Stimmungslage sowie einer reduzierten psychischen Belastbarkeit und einem reduzierten Durchhaltevermögen. Die Klägerin sei daher nicht mehr in der Lage, längere Zeit konzentriert tätig zu sein. Sie sei aus eigenem Antrieb weder in der Lage, nach einem Arbeitsplatz zu suchen noch sich zu beschäftigen. Selbst die Durchführung von Weiterbildungsmaßnahmen etc scheitere an der bestehenden Unfähigkeit, sich längere Zeit zu konzentrieren und zu motivieren sowie der Antriebsarmut. Dies würden die behandelnden Ärzte der Klägerin bestätigen. Es ergebe sich aber auch aus ihrem Tagesablauf. So sei die Klägerin nicht mehr in der Lage, ihren Haushalt zu erledigen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 06.09.2012 und den Bescheid der Beklagten vom 23.08.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.03.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer, ausgehend von einem Leistungsfall am 12.08.2010, ab 01.09.2010 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die Entscheidung des SG für zutreffend.

Der Senat hat ein nervenärztliches Gutachten bei Dr. S. eingeholt. In dem Gutachten vom 30.01.2013 stellt Dr. S. die Diagnose einer schizoaffektiven Psychose, derzeit überwiegend depressiv mit zeitweilig paranoiden Symptomen. Die vorliegenden Gesundheitsstörungen führten zu Beeinträchtigungen sowohl im körperlichen als auch im psychischen Bereich und im sozialen Umfeld. Die Klägerin sei kaum in der Lage, ihren Haushalt angemessen zu bewältigen. Bei geringer körperlicher Belastung sei sie erschöpft und müde. Depression und Ängste bewirkten Kontakthemmungen und Schwierigkeiten in der sozialen Anpassung. Die psychischen Beeinträchtigungen seien so schwerwiegend, dass sich die Klägerin selbst in alltäglichen Dingen wie der Haushaltsführung überfordert fühle, so dass sie diesen nicht angemessen und selbständig bewältigen könne. Die bestehenden Leistungseinschränkungen ergäben sich insbesondere aus den schwerwiegenden psychischen Störungen, die trotz nervenärztlicher Behandlung vorlägen. So bestehe eine deutlich chronifizierte depressive Symptomatik mit Antriebsmangel, Interessenlosigkeit, Lustlosigkeit, Angstgefühlen, sozialen Anpassungsstörungen und Erschöpfung (Antriebsstörung und Erschöpfung ließen sich dabei nicht zweifelsfrei nur auf die Erkrankung zurückführen und könnten auch Folge der medikamentösen psychiatrischen Behandlung sein). Weitere Belastungen der Leistungsfähigkeit ergäben sich aus einer bestehenden Harninkontinenz. Bei intensiver psychiatrischer Behandlung, auch evtl erneut unter Einschluss einer stationären Maßnahme sei nicht auszuschließen, dass sich in Zukunft ein anderes Zustandsbild ergebe. Aktuell sei die Klägerin jedoch nicht in der Lage, leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt über drei Stunden täglich auszuüben. Die festgestellte Leistungseinschränkung bestehe mindestens seit ca 2009.

Die Beklagte hat auf die Stellungnahme von Dr. De. vom 11.03.2013 verwiesen. Der psychologisch-pathologische Befund, der durch Dr. S. erhoben worden sei, sei bereits in den Vorgutachten von Dr. Sch. und Dr. W. berücksichtigt worden. Diese hätten jedoch ein vollschichtiges Leistungsvermögen angenommen. Da Dr. S. in seinem Fachgutachten im Übrigen versäumt habe, Plausibilitätsprüfungen hinsichtlich der Konsistenz der Angaben der Klägerin vorzunehmen, könne dem nicht gefolgt werden. Darüber hinaus müsse berücksichtigt werden, dass Dr. S. auch mitgeteilt habe, dass die Klägerin pünktlich zum vereinbarten Untersuchungstermin erschienen sei und sich während des gesamten Untersuchungsablaufs kooperativ verhalten habe. Damit habe sie eine mehrstündige Untersuchungsablauf ohne Schwierigkeiten bewältigen können. Selbst wenn man eine Beschwerdeverschlechterung der psychischen Symptomatik der Klägerin annehmen würde, könne nur von einer akuten Verschlechterung ausgegangen werden. Dies müsste jedoch zu einer akuten Krankenbehandlung, wie beispielsweise einer stationären psychiatrischen Behandlung, führen. Eine intensivierte Behandlung der Klägerin sei den medizinischen Dokumenten jedoch nicht zu entnehmen.

Die Ausführungen von Dr. De. sind vom Senat dem Gutachter Dr. S. zur ergänzenden Stellungnahme zugeleitet worden. Dieser hat in seinem Schreiben vom 29.04.2013 mitgeteilt, dass sich bei der Untersuchung am 18.01.2013 eindeutige und plausible Symptome einer schizophrenen Erkrankung, insbesondere Defektsymptome im Sinne von kognitiven Störungen, Antriebsminderung und Einschränkung der affektiven Schwingungsfähigkeit, ergeben hätten. Darüber hinaus habe die Klägerin über nicht simulierte Symptome wie Halluzination und dialogische Gespräche, die sie unter innerem Zwang ausführe, berichtet. Auch das berichtete Gefühl, zeitweilig beobachtet zu werden, sei glaubhaft gewesen und habe zu den übrigen schizophrenen Symptomen gepasst. Im Zusammenhang mit den anamnestischen Angaben und Befundberichten, wie sie den Gesundheitsakten zu entnehmen seien, bestünden keine Zweifel, dass die Klägerin unter schizophrenen Symptomen leide. Darüber hinaus bestünden bei ihr deutliche affektive Veränderungen, sodass insgesamt an der Diagnose einer schizoaffektiven Erkrankung keine Zweifel bestünden. Allein aus der Tatsache, dass die Klägerin pünktlich zum vereinbarten Untersuchungstermin erschienen sei und sich kooperativ verhalten habe, könne nicht geschlossen werden, dass eine leichte Tätigkeit sechs Stunden und mehr ausgeübt werden könnte. Zu berücksichtigen sei, dass die Untersuchung in der Praxis mit mehreren Pausen und Unterbrechungen erfolgt sei. Auch würde eine berufliche Tätigkeit mehr als die Fähigkeit zur Pünktlichkeit und Kooperation voraussetzen.

In ihrer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 10.06.2013 hat Dr. De. demgegenüber darauf hingewiesen, dass entscheidend bei einer schizoaffektiven Störung der gegenwärtige Ausprägungsgrad der Symptomatik sei. Ein entsprechend schwerwiegender Befund lasse sich dem Gutachten im Vergleich zum Gutachten von Dr. W. und Dr. Sch. jedoch nicht entnehmen. Da auch keine Intensivierung der Behandlung vorliege und das Gutachten von Dr. S. auch im Hinblick auf die ergänzende Stellungnahme einer Plausibilitätsprüfung nicht standhalte, sei weiterhin von einem über sechsstündigen Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes auszugehen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß §§ 153 Abs 1, 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat teilweise Erfolg.

Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft, zulässig und teilweise begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 23.08.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.03.2011 ist rechtswidrig (geworden) und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat aufgrund eines im Januar 2013 eingetretenen Leistungsfalles Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.08.2013 bis 31.01.2016. Ein Rentenanspruch bereits ab Rentenantragstellung besteht dagegen nicht; insoweit ist die Berufung der Klägerin unbegründet.

Der geltend gemachte Anspruch der Klägerin richtet sich nach § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in der ab 01.01.2008 geltenden Fassung des Art 1 Nr 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.04.2007 (BGBl I, 554). Versicherte haben nach § 43 Abs 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll bzw teilweise erwerbsgemindert sind (Nr 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr 2) und vereint mit der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser, als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich, bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinn des § 43 Abs 1 und Abs 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs 3 SGB VI).

Nach dem Ergebnis der vom Senat und vom SG durchgeführten Ermittlungen steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin nur noch unter drei Stunden an fünf Tagen in der Woche einer leichten körperlichen Arbeit nachgehen kann. Damit ist die Klägerin voll erwerbsgemindert im Sinne von § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI.

Nachgewiesen ist diese Leistungseinschränkung insbesondere durch das vom Senat eingeholte Gutachten von Dr. S ... Die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit beruht maßgeblich auf einer schizoaffektiven Psychose mit überwiegend depressiven und zeitweilig paranoiden und halluzinatorischen Symptomen. Die von Dr. S. genannte Diagnose lässt sich schlüssig und widerspruchsfrei aus den von ihm erhobenen Befunden ableiten. So bestanden insbesondere Defektsymptome im Sinne von kognitiven Störungen, Antriebsminderung und Einschränkung der affektiven Schwingungsfähigkeit. Darüber hinaus berichtete die Klägerin über nicht simulierte Symptome, wie Halluzination und dialogische Gespräche, die sie unter innerem Zwang führt. Auch das von der Klägerin im Rahmen der Begutachtung berichtete Gefühl, zeitweilig beobachtet zu werden, passt zu den schizophrenen Symptomen. Die von Dr. M. seit längerer Zeit durchgeführte medikamentöse Behandlung weist ebenfalls auf eine schizoaffektive Störung hin und nicht nur auf eine rein affektive Veränderung.

Nachvollziehbar und schlüssig leitet der Gutachter Dr. S. aus den mitgeteilten Befunden und Diagnosen auch eine quantitative Leistungseinschränkung ab. So besteht eine deutlich chronifizierte depressive Symptomatik mit Antriebsmangel, Interesselosigkeit, Lustlosigkeit, Angstgefühl, sozialen Anpassungsschwierigkeiten und Erschöpfung. Dementsprechend ist die Klägerin auch kaum noch in der Lage, ihren Tagesablauf und insbesondere den Haushalt angemessen zu bewältigen. Bei geringer körperlicher Belastung ist sie bereits erschöpft und müde. Depression und Ängste bewirken Kontakthemmung und Schwierigkeiten der sozialen Anpassung. Die psychischen Beeinträchtigungen sind so schwerwiegend, dass selbst alltägliche Arbeiten von ihr nicht mehr angemessen und selbständig bewältigt werden können.

Zwar hat Dr. De. zutreffend darauf hingewiesen, dass bei einer Leistungsbeurteilung aufgrund einer schizoaffektiven Störung der gegenwärtige Ausprägungsgrad der Symptomatik entscheidend ist. Hiervon gehen auch die Leitlinien für die sozialmedizinische Begutachtung der Deutschen Rentenversicherung vom August 2012 aus (S 93f). Bei einem chronifizierten, subdepressiven Syndrom nach langjährigem Krankheitsverlauf kann jedoch die psychomentale Leistungsfähigkeit, Kontaktfähigkeit und Aktivität so reduziert sein, dass es zu einem sozialen Rückzug kommen kann. In diesen Fällen ist nicht nur von einer erheblichen Gefährdung, sondern gar einer Minderung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben auszugehen (Leitlinien für die sozialmedizinische Begutachtung, August 2012, S 93f).

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den erhobenen Befunden ein zwischenzeitlich chronifiziertes depressives Symptom. Auch geht der Gutachter nachvollziehbar und schlüssig davon aus, dass die psychomentale Leistungsfähigkeit, Kontaktfähigkeit und Aktivität reduziert ist. Es kam zum sozialen Rückzug. Damit aber erfüllt die Klägerin ausweislich des Gutachtens von Dr. S. die maßgeblichen Kriterien, sodass seine Einschätzung, die von einem Leistungsvermögen der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für leichte Tätigkeiten von null bis drei Stunden ausgeht, nachvollziehbar und schlüssig ist. Soweit Dr. De. darauf hinweist, dass Dr. W. und Dr. Sch. entsprechende Befunde erhoben haben und zu einem vollschichtigen Leistungsvermögen gekommen sind, ist dies nicht zutreffend. So hat etwa Dr. Sch. noch keine Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen festgestellt. Die Stimmungslage war subdepressiv. Eine tiefgehende oder vitale depressive Stimmungslage lag nicht vor. Demgegenüber ging Dr. W. bereits von einem reduzierten Antriebs- und Interessevermögen sowie des Freudevermögens aus. Nach seiner Einschätzung lag jedoch noch keine Depressivität vor, auch wenn bereits die Klägerin in ihrer Alltagsgestaltung eingeschränkt war. Der Senat folgt insoweit den Ausführungen von Dr. M., der in seiner fachärztlichen Stellungnahme vom 05.11.2013 von einer zunehmenden Verschlechterung der psychischen Konstitution ausgegangen ist. So berichtet auch er von aktuellen Stimmungsschwankungen, Zukunftsängsten, nächtlichen Albträumen, depressiver Verstimmung, Antriebsminderung und einer sich vor allem in jüngster Zeit weiter verschlechternden psychischen Belastbarkeit und Verminderung des Durchhaltevermögens. Danach ist die Klägerin bereits mit den kleinsten Alltagsanforderungen im Haushalt etc überfordert. Daneben bestünden mittel- bis schwergradige Beeinträchtigungen in der Planung und Strukturierung von Aufgaben, Flexibilität und Umstellungsfähigkeit, Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit, Durchhalte-, Selbstbehauptungs- und Gruppenfähigkeit. Damit aber bestätigt auch Dr. M. die Einschätzung des Gutachtens von Dr. S.

Der Senat geht in Übereinstimmung mit dem gerichtlichen Sachverständigen Dr. S. davon aus, dass der Leistungsfall der Erwerbsminderung jedenfalls zum Zeitpunkt der Begutachtung der Klägerin im Januar 2013 eingetreten bzw nachgewiesen ist. Soweit sich der Gutachter für einen früheren Eintritt des Leistungsfalls ausspricht, bestehen angesichts des Gutachtens von Dr. Sch. und Dr. W. keine zwingenden Anhaltspunkte. So konnte Dr. Sch. noch keine entsprechend schwergradige depressive Symptomatik und Merk- und Konzentrationsstörungen feststellen. Merk- und Konzentrationsstörungen finden sich erstmals im Gutachten von Dr. W. Dieser sah jedoch ebenfalls noch keine maßgebliche depressive Symptomatik. Der Annahme eines Leistungsfalls zum Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. W. steht im Übrigen aber auch entgegen, dass dieser seine Leistungseinschätzung maßgeblich auf eine langjährige Alkoholabhängigkeit stützt. Ausweislich den Angaben der Klägerin und den erhobenen Laborbefunden liegen jedoch keine Hinweise auf eine solche vor. Damit ist in Übereinstimmung mit dem SG zum Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. W. weder die Diagnosen nachvollziehbar und schlüssig noch lassen seine Befunde zum Zeitpunkt der Untersuchung eine quantitative Leistungseinschränkung erkennen.

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung aufgrund eines im Januar 2013 eingetretenen Leistungsfalls liegen vor. Die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren (§ 50 SGB VI) ist erfüllt. Im Zeitraum vom 18.01.2008 bis 17.01.2013 hat die Klägerin mehr als drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder aufgrund des Bezugs von Lohnersatzleistungen im Sinn des § 3 Satz 1 Nr 3 SGB VI.

Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden auf Zeit geleistet. Die Befristung erfolgt für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn. Sie kann verlängert werden; dabei verbleibt es bei dem ursprünglichen Rentenbeginn. Verlängerungen erfolgen für längstens drei Jahre nach dem Ablauf der vorherigen Frist. Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann (§ 102 Abs 2 SGB VI).

Im vorliegenden Fall schließt sich der Senat der Einschätzung von Herrn Dr. S. auch hinsichtlich der gesundheitlichen Prognose an. Danach ist davon auszugehen, dass sich die Leistungsminderung in den nächsten Jahren nicht ohne Weiteres verändern wird. Bei intensiver psychiatrischer Behandlung, auch evtl erneut unter Einschluss einer stationären Maßnahme, ist jedoch nicht auszuschließen, dass sich in Zukunft ein positiveres Leistungsbild ergibt. Folglich hat die Klägerin nur einen Anspruch auf eine befristete Rente. Befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet (§ 101 Abs 1 SGB VI). Renten dürfen nur auf das Ende eines Kalendermonats befristet werden (§ 102 Abs 1 Satz 3 SGB VI). Aus den genannten Bestimmungen folgt, dass bei einem Leistungsfall im Januar 2013 die Rente am 01.08.2013 beginnt. Entsprechend den Ausführungen des Gutachters war die Rente auf zweieinhalb Jahre zu befristen. Demnach endet sie mit Ablauf des 31.01.2016.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der Senat erachtet es als sachgerecht, dass die Beklagte von den außergerichtlichen Kosten der Klägerin 3/4 trägt.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved