L 2 SO 4518/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 4 SO 3773/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 4518/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zu den Voraussetzungen für eine wesentliche geistige Behinderung im Sinne des § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII in Verbindung mit § 2 Eingliederungshilfe-Verordnung unter Berücksichtigung der "Orientierungshilfe für die Feststellungen der Träger der Sozialhilfe zur Ermittlung der Leistungsvoraussetzungen nach dem SGB XII in Verbindung mit der Eingliederungshilfe-Verordnung" der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe. Hier im Zusammenhang mit einem Extra- Schulgeld für Assistenzdienste beim Schulbesuch.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 26. September 2012 und der Bescheid vom 18. Mai 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2012 aufgehoben und der Beklagte verurteilt, dem Kläger ab September 2012 bis 31. Juli 2015 Leistungen in Höhe des pauschalen Beitrags von 235,05 EUR für Assistenzdienste zu gewähren.

Der Beklagte hat die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte dem Kläger Leistungen der Eingliederungshilfe im Zusammenhang mit dem Besuch der Waldorfschule E. ab dem Schuljahr 2012/2013 zu gewähren hat.

Der am 2005 geborene Kläger leidet an einem Klinefelter Syndrom sowie damit verbundenen Entwicklungsverzögerungen, Interaktions- und Integrationsstörungen. Zu seinen Gunsten ist ein Grad der Behinderung von 80 seit dem 11.10.2013 festgestellt (vgl. Bl. 48 LSG-Akte, zuvor GdB 70, anerkannte Funktionsbeeinträchtigungen: Klinefeltersyndrom, Psychomotorische Entwicklungsstörung, Lernbehinderung, Sprachentwicklungsverzögerung, Harninkontinenz). Die Merkzeichen G, B und H sind zuerkannt. Laut ärztlichem Zeugnis vom 22.03.2010 des behandelnden Kinderarztes Dr. N. (Bl. 5 der Verwaltungsakten - VA -) bestand eine senso-/psychomotorisch-perzeptive Entwicklungsverzögerung, eine Sprachentwicklungsverzögerung (rückläufig) sowie sozioemotionale Interaktions- und Integrationsstörungen. Organisch funktionell bestanden grob-/feinmotorische und koordinative Defizite, eine sensomotorisch-perzeptive Integrationsschwäche sowie eine sozio-emotionale Problematik. Entsprechende Befunde und Diagnosen finden sich auch in Berichten des Sozialpädiatrischen Zentrums der Universität Freiburg (SPZ) vom 26.02. und 05.08.2010 (globale psychomotorische Retardierung, Verhaltensauffälligkeiten im Sinne sozialer Ängstlichkeit und Vermeidungsverhalten, Bl. 11 bzw. 49 VA).

Auf einen entsprechenden Antrag der Eltern des Klägers erteilte der Beklagte mit Bewilligungsbescheid vom 09.09.2010 eine befristete Kostenzusage für die Zeit vom 01.09.2010 bis 31.07.2011 für die Gewährung von Eingliederungshilfe nach §§ 53, 54 SGB XII im Kindergarten St. J. in Höhe von monatlich 460,00 EUR für eine pädagogische Hilfe für den Kläger (Bl. 71 VA). Laut Bericht der durchführenden Heilpädagogin vom Juni 2011 wurde die Einzelintegration im Kindergarten St. J. für den Kläger seit Oktober 2010 mit 5,75 Stunden wöchentlich durchgeführt (Bl. 103 VA). Mit Bescheid vom 31.8.2011 (Bl. 123 VA) bewilligte der Beklagte die Vergütung für die pädagogische Hilfe zunächst befristet weiter für die Zeit vom 01.08.2011 bis 31.10.2011 (weiter monatlich 460,00 EUR). Über eine Verlängerung werde entschieden, sobald der neue SPZ-Bericht vorliege und der konkrete Hilfebedarf im Kindergarten ermittelt worden sei. Laut erneutem Bericht des SPZ des Universitätsklinikums Freiburg vom 10.10.2011 (Bl. 155 VA) bestand beim Kläger neben dem Klinefelter Syndrom ein kognitives Leistungsniveau in Höhe einer Lernbehinderung. Er sei sehr zurückhaltend und eher ängstlich in Sozialkontakten. Das im Rahmen der psychologischen Testungen erzielte Ergebnis entspreche einem kognitiven Leistungsniveau in Höhe einer Lernbehinderung an der Grenze zu einer leichten Intelligenzminderung. Besondere Stärken habe der Kläger im Bereich der Fertigkeiten/erworbenen Fähigkeiten gezeigt, was für eine gute Förderung des Kindes spreche. Defizite zeigten sich - trotz erfreulicherweise erreichten Fortschritten - im Bereich der sozialen Kompetenzen und in seinem Arbeits- und Kontaktverhalten. Die Fortführung der Integrationsmaßnahme im Regelkindergarten im letzten Kindergartenjahr werde für dringend indiziert gehalten. Laut Bericht einer Mitarbeiterin des Beklagten (pädagogische Fachkraft) vom 20.10.2011 (Bl. 163 VA) hielt diese nicht zuletzt mit Blick auf die aktuellen Testungen im SPZ rückblickend die seit 2010 bewilligte pädagogische Hilfe für gerechtfertigt. Sie habe im Rahmen eines Besuchs im Kindergarten feststellen können, dass der Kläger mittlerweile ansatzweise integriert sei. Er schaffe es beispielsweise mit anderen Kindern in der Bauecke zu bauen und zu kommunizieren. In Situationen, die für ihn unvorhergesehen eintreten würden, könne er noch nicht zeitnah reagieren (z.B. Kinder wechseln das Spiel, damit den Ort und den Raum). Hier könne der Kläger nicht folgen und verliere den Anschluss an die Gruppe. In Konfliktsituationen schaffe es der Kläger vereinzelt, sich angemessen zu steuern und auch mal nachzugeben, in Interaktion zu treten und den Konflikt zu lösen. Kinder seines Alters seien in ihren Denkleistungen schneller, der Kläger komme da oft einfach noch nicht hinterher. Insgesamt sei er auf einem sehr guten Weg, der mit einem reduzierten heilpädagogischen Hilfsangebot im Kindergarten zu einem guten Ende führen werde. Die Teilhabefähigkeit sei nach einer guten Förderung durch die bisherige Integrationshilfe nur noch in geringem Umfang eingeschränkt, was eine Reduzierung der Maßnahme rechtfertige.

Mit Bescheid vom 06.12.2011 (Bl. 181 VA) erteilte der Beklagte eine Kostenzusage für die heilpädagogische Frühförderung des Klägers für 1,5 Behandlungseinheiten wöchentlich im katholischen Kindergarten St. J. in E. für den Zeitraum 01.11.2011 bis 31.07.2012. Die mit Bescheid vom 31.08.2011 befristete Integration im Kindergarten bis 31.10.2011 werde nicht mehr verlängert. Voraussetzung für die Gewährung einer Integration im Kindergarten sei gemäß § 53 SGB XII das Vorliegen einer nicht nur vorübergehenden wesentlichen geistigen, körperlichen oder seelischen Behinderung und das Vorliegen eines behinderungsbedingten zusätzlichen Mehrbedarfs. Bei dem Kläger sei in einer mehrdimensionalen Bereichsdiagnostik in der Neuropädiatrischen Ambulanz und Sozialpädiatrischen Zentrum F. ein kognitives Leistungsniveau in Form einer Lernbehinderung, Klinefelter Syndrom sowie eine Ängstlichkeit in Sozialkontakten diagnostiziert worden. Aus dem SPZ-Bericht sei zu entnehmen, dass der Kläger in neuen Situationen noch immer verschlossen und zurückhaltend reagiere und häufig Vermeidungs- und Rückzugstendenzen aufzeige. Dieser Bedarf des Klägers aufgrund seiner Lernbehinderung und nicht aufgrund seiner geistigen Behinderung könne am ehesten, auch nach Beurteilung der pädagogischen Fachkraft mit der Zielsetzung von heilpädagogischer Frühförderung entsprochen werden. Laut Berechnung des Kreissozialamts vom 06.12.2011 ergab sich bei 1,5 Behandlungseinheiten pro Woche (42,13 EUR pro Behandlungseinheit) ein monatlicher Betrag von 273,00 EUR (Bl. 185 VA).

Widerspruch und Klage hiergegen waren erfolglos (vgl. Widerspruchsbescheid vom 16.04.2012, Bl. 333 VA; klageabweisendes Urteil des Sozialgerichts Freiburg - S 4 SO 2487/12 - vom 26.9.2012). Sein Begehren hinsichtlich der Leistungen der Eingliederungshilfe im Kindergarten verfolgt der Kläger im (parallel zum vorliegenden Verfahren anhängigen) Berufungsverfahren L 2 SO 4519/12 weiter.

Hinsichtlich des weiteren Förderungsbedarfs des Klägers mit Blick auf die zum Schuljahr 2012/2013 eintretende Schulpflicht wurde in einem Pädagogischen Bericht für das Staatliche Schulamt Freiburg vom 15.3.2012 (Bl. 343 VA) festgestellt, dass der Kläger weiter Förderung in vielen Bereichen benötige (Förderung in allen Wahrnehmungsbereichen, der Selbständigkeit - Toilettengang, Orientierung, Entwicklung Gefahrenbewusstsein im Straßenverkehr -, grobmotorische, feinmotorische und sprachliche Förderung, Stärkung von Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen). Diese schulische Förderung könne mit dem Lehrplan der Schule für Geistigbehinderte verwirklicht werden. Die Förderschule stelle momentan eine Überforderung dar, bei einer inklusiven Beschulung bekäme der Kläger keine ausreichende individuelle sonderpädagogische Förderung. Beim Besuch beispielsweise der von den Eltern bevorzugten Waldorfschule E. könnten sich die Anregung durch die Grundschulkinder und die sonderpädagogische Förderung gut ergänzen. Mit Schreiben vom 24.5.2012 stellte das Staatliche Schulamt Freiburg dementsprechend den Anspruch des Klägers auf ein sonderpädagogisches Förderangebot im Sinne der Schule für geistig Behinderte fest (Bl. 371 VA). Dem Wunsch der Eltern (Beschulung in der Integrativen Waldorfschule E.) werde zugestimmt.

Mit Schreiben vom 20.4.2012 (Bl. 359 VA) beantragte der Vater des Klägers für seinen Sohn Leistungen der Eingliederungshilfe für den Besuch der integrativen Waldorfschule E ... Es gehe insbesondere um die Kostenübernahme für den Fahrdienst sowie die Unterstützungskraft (freiwilliges soziales Jahr) in seiner Klasse.

Mit Bescheid vom 18.5.2012 lehnte der Beklagte den Antrag ab (Bl. 361 VA). Eingliederungshilfe in Form von Extra-Schulgeld für Assistenzdienst und Kostenübernahme für den Fahrdienst sei nach §§ 53 und 54 SGB XII dann zu gewähren, wenn eine wesentliche Behinderung vorliege und ein behinderungsbedingter zusätzlicher Bedarf bestehe. Aufgrund der vorliegenden Diagnostik der Neuropädiatrischen Ambulanz und des SPZ vom 10.10.2011 bestehe beim Kläger weder eine wesentliche Behinderung noch drohe eine solche. Das Klinefelter-Syndrom allein stelle keine wesentliche Behinderung dar. Bei der von der Neuropädiatrischen Ambulanz durchgeführten Testung habe der Kläger ein kognitives Leistungsniveau im Sinne einer Lernbehinderung erzielt. Eine wesentliche Behinderung oder eine drohende wesentliche Behinderung liege somit nicht vor.

Hiergegen erhob der Kläger am 6.6.2012 Widerspruch (Bl. 375 VA). Hinsichtlich der Bezugnahme des Beklagten auf die Diagnostik der Neuropädiatrischen Ambulanz und des SPZ der Uniklinik Freiburg liege ganz offensichtlich ein Missverständnis vor, denn aus diesen Unterlagen ergebe sich gerade die Erforderlichkeit der Eingliederungshilfeleistungen. Das Versorgungsamt habe einen Grad der Behinderung von 70 festgestellt, damit in jedem Fall eine schwere Behinderung. Das Staatliche Schulamt Freiburg habe festgestellt, dass der Kläger einen Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot im Sinne der Schule für geistig Behinderte habe. Dies wäre schlecht möglich, wenn der Kläger nicht tatsächlich geistig behindert wäre. Die Waldorfschule E. habe die Aufnahme zugesagt; erforderlich sei nun noch, dass im Rahmen der Eingliederungshilfe die Zusatzkosten für sog. "integrative Kinder" und die Fahrkosten übernommen würden. Dem Kläger fehle jedes Gefahrenbewusstsein für den Straßenverkehr. Er sei deshalb ohne Frage auf einen Fahrdienst angewiesen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 29.6.2012 wies der Beklagte den Widerspruch zurück (Bl. 389 VA). Er blieb dabei, dass im Fall des Klägers von einer Lernbehinderung auszugehen sei. Der beim Kläger laut pädagogischem Bericht vom 15.3.2012 festgestellte sonderpädagogische Förderbedarf werde vollumfänglich durch die Lehrkräfte der Integrativen Waldorfschule abgedeckt (zweite Lehrkraft/Heilpädagoge für die sonderschulpflichtigen Kinder). Mit Wirkung ab 1.8.2000 habe der Landeswohlfahrtsverband Baden (LWB) Richtlinien für die Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 40 Abs. 1 BSHG in Kindergärten und allgemeinen Schulen (Integrations-RL) herausgegeben. Auf dieser Grundlage habe der LWB auf freiwilliger Basis das von der Freien Waldorfschule von den Eltern erhobene "Extra-Schulgeld" in Höhe von damals 250,00 DM für Schüler und Schülerinnen mit Behinderung als Entgelt für die Assistenzdienste übernommen. Nach Auflösung des LWB zum 31.12.2004 sei vom Landkreis E. als Rechtsnachfolger des LWB die Pauschale für das "Extra-Schulgeld" in Höhe von monatlich 235,05 EUR für Schüler mit Behinderung ebenfalls als freiwillige Leistung weiter übernommen worden. Voraussetzung für die freiwillige Übernahme des "Extra-Schulgeldes" sei dennoch das Vorliegen einer wesentlichen Behinderung oder einer drohenden wesentlichen Behinderung. Die Fahrtkosten seien im Rahmen der Satzung für die Schülerbeförderung zu erstatten. Lediglich bei Vorliegen einer wesentlichen Behinderung oder einer drohenden wesentlichen Behinderung könnten im Rahmen der Eingliederungshilfe die durch die Schülerbeförderung nicht gedeckten Fahrtkosten übernommen werden. Da beim Kläger ein kognitives Leistungsniveau in Höhe einer Lernbehinderung diagnostiziert worden sei, seien die Voraussetzungen weder für die Übernahme des "Extra-Schulgeldes" noch für verbleibende Fahrtkosten erfüllt.

Einen auf vorläufige Verpflichtung des Beklagten zur Gewährung der beantragten Leistungen gerichteten Eilantrag des Klägers lehnte das Sozialgericht Freiburg (SG) mit Beschluss vom 10.8.2012 ab (S 4 SO 3769/12 ER). Es fehle bereits an einem Anordnungsgrund, da nicht glaubhaft gemacht sei, dass es den Eltern des Antragstellers nicht zuzumuten sei, die geltend gemachten Kosten zunächst selbst zu übernehmen und den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Auch ein Anordnungsanspruch sei nicht glaubhaft gemacht, da sich aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen eine wesentliche oder eine drohende wesentliche Behinderung nicht herleiten lasse.

Zur Begründung der am 31.7.2012 beim SG erhobenen Klage hat der Kläger seinen Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und vertieft. Die Eltern des Klägers hätten für ihn einen Schulvertrag mit der Integrativen Waldorfschule E. abgeschlossen (vorgelegt Bl. 17 SG-Akte). Diese Schule erhebe für Kinder mit Behinderungen, die einen besonderen Assistenzbedarf hätten, eine pauschales Entgelt in Höhe von zur Zeit 235,05 EUR monatlich. Die Argumentation des Beklagten sei widersprüchlich. Einerseits stelle er die materielle Richtigkeit des Feststellungsbescheides des Schulamtes mit einem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot im Sinne der Schule für geistig Behinderte vom 24.5.2012 nicht in Frage. Andererseits gehe er selbst von einer Lernbehinderung aus, die keine wesentliche Behinderung im Sinne des § 53 SGB XII sei. Der Beklagte scheine hier letztendlich den Behinderungsbegriff aus der Eingliederungshilfe so auszulegen, dass eine Behinderung, die im Sinne der Feststellungen des Staatlichen Schulamtes die Zuweisung zu einer sog. "G-Schule" erforderlich mache, keine Behinderung im Sinne der Vorschriften der Eingliederungshilfe sei. Zwar werde vertreten, dass lernbehinderte Menschen nicht unbedingt als geistig wesentlich behindert im Sinne von § 2 EinglHV einzustufen seien. Dies könne jedoch nur dann gelten, wenn die Lernbehinderung dergestalt sei, dass der Besuch einer Regelschule ohne besondere Assistenzleistungen möglich sei. Diese Voraussetzung sei vorliegend nicht gegeben. Der Begriff der wesentlichen Behinderung sei im Gesamtkontext der sozialhilferechtlichen Regelungen auszulegen und habe sich insbesondere am Bedarfsdeckungsgrundsatz zu orientieren. Wer in einer Weise behindert sei, die es erforderlich mach, dass er Assistenzleistungen erhalte, die der allgemeinen Legaldefinition von Teilhabeleistungen (§ 4 SGB IX) entsprächen, müsse auch als wesentlich behindert im Sinne der Eingliederungshilfe gelten. Die Eingliederungshilfe könne nicht beschränkt werden auf besonders hohe Bedarfe, wie der Beklagte sich das offenbar vorstelle. Dem stehe auch nicht der Nachrang der Sozialhilfe entgegen, auf den sich der Beklagte möglicherweise inzidenter berufe. Aufgabe der Schule seien die originären schulischen Aufgaben, wie sie für alle Schüler zu erfüllen seien. Besondere Assistenzbedarfe seien jedoch ggf. im Rahmen der Eingliederungshilfe zu decken (Verweis auf LSG Baden-Württemberg, 23.2.2012, L 7 SO 1246/10). Schüler könnten nicht darauf verwiesen werden, im Kosteninteresse des Sozialhilfeträgers eine Sonderschule zu besuchen, wenn sie mit der erforderlichen Assistenz in der Lage seien, eine allgemeine Schule zu besuchen.

Der Beklagte ist der Klage entgegen getreten. Der Kläger gehöre nicht zum Kreis der Personen, die einen Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe nach §§ 53, 54 SGB XII hätten. Diese Rechtsauffassung sei den Eltern des Klägers bei der Unterzeichnung des Schulvertrags mit der Integrativen Waldorfschule E. bereits bekannt gewesen. Im Übrigen sei der Kläger zu keinem Zeitpunkt darauf verwiesen worden, im Kosteninteresse die Sonderschule zu besuchen.

Mit Urteil vom 26.9.2012 hat das SG die Klage als unbegründet abgewiesen. Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers seien die Bestimmungen der §§ 53, 54 SGB XII. Der Anspruch auf Eingliederungshilfe werde u.a. Personen gewährt, die dauerhaft durch eine Behinderung im Sinne des § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzunehmen, eingeschränkt seien. Nach § 2 der EinglHV nach § 60 SGB XII seien geistig wesentlich behindert im Sinne des § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII Personen, die infolge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte in erheblichem Umfang in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt seien. Zu beachten sei, dass der Kläger nach den vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen als lernbehindert anzusehen sei. Lernbehinderte Menschen seien indes im Allgemeinen nicht als geistig wesentlich behindert anzusehen. Lediglich im Einzelfall könnten bei ihnen die Voraussetzungen des § 2 EinglHV gegeben sein (vgl. Schneider, in: Schellhorn u.a., SGB XII, 18. Aufl., § 2 EinglHV, Rn. 4). Insbesondere Prof. K.habe herausgestellt, dass der bei der Testung ermittelte Intelligenzquotient von 72 an der Grenze zur geistigen Behinderung liege. Obwohl Prof. K.der Bericht des Sonderpädagogischen Dienstes vom 15.3.2012, wonach beim Kläger Förderbedarf im Sinne der Schule für geistig Behinderte bestehe, vorgelegen habe, habe er keine geistige Behinderung diagnostiziert. Er habe leidglich aktuell eine Beschulung auf dem Bildungsniveau einer Schule für geistig Behinderte empfohlen, um den Kläger zu Beginn seiner schulischen Laufbahn nicht zu überfordern. Die Kammer schließe sich Prof. K.an und verneine eine geistige Behinderung des Klägers. Zu beachten sei überdies, dass es sich bei dem Klinefelter-Syndrom um eine Chromosomenanomalie handele, die sich auf die kognitive und körperliche Entwicklung und Leistungsfähigkeit der betroffenen Jungen und Männer auswirke. Dabei könne indes nicht generell gesagt werden, welche Symptome sich in welcher Ausprägung bei einem Jungen bzw. Mann ausbildeten. Daher erschiene es unzulässig, bei der Bestimmung der Eingliederungsleistungen allein auf das Vorliegen des Syndroms als solches abzustellen. Vielmehr seien die individuellen Einschränkungen des jeweils Betroffenen zu berücksichtigen.

Gegen das dem Bevollmächtigten des Klägers mit Empfangsbekenntnis am 15.10.2012 zugestellte Urteil hat der Kläger am 30.10.2012 Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Das erstinstanzliche Gericht habe sich mit dem klägerischen Vorbringen nicht substantiiert auseinandergesetzt. Es habe ignoriert, dass das Staatliche Schulamt sehr wohl eine geistige Behinderung festgestellt habe. Es habe sich auch nicht damit auseinandergesetzt, was der Begriff der Behinderung meine. Eine Behinderung liege dann vor, wenn die Teilhabechancen des Betroffenen aus Gründen, die zum Einen in einer Abweichung von einem Normalzustand und zum Zweiten in Kontextfaktoren lägen, signifikant beeinträchtigt seien (§ 2 SGB IX). Der Begriff der wesentlichen Behinderung im Sinne der EinglHV könne nicht (mehr) anders ausgelegt werden. Darüber hinaus weiche die Begründung des SG von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ab, wonach bei der Prüfung einer Behinderung selbst auch ihre Wesentlichkeit wertend auszurichten sei an den Auswirkungen für die Eingliederung in die Gesellschaft. Entscheidend sei mithin nicht, wie stark die die geistigen Kräfte beeinträchtigt seien und in welchem Umfang ein Funktionsdefizit vorliege, sondern wie sich die Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit auswirke (Verweis auf Bundessozialgericht, Urt. v. 22.3.2012, B 8 SO 30/10 R, Rn. 18, 19).

Das im Rahmen der Berufungsbegründung zunächst fortgeführte Begehren betreffend die Übernahme der Fahrtkosten zur Schule hat der Kläger zuletzt nicht mehr aufrecht erhalten, nachdem die Fahrtkosten in voller Höhe vom Amt für den öffentlichen Personennahverkehr des Landkreises E. getragen werden.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 26.September 2012 und den Bescheid des Beklagten vom 18. Mai 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2012 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der Übernahme des pauschalen Beitrags in Höhe von monatlich 235,05 EUR für Assistenzdienste für Kinder mit Behinderungen, wie er von der Integrativen Waldorfschule E. erhoben wird, bis zum 31. Juli 2015 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung verweist er auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid und im erstinstanzlichen Verfahren. Die ärztliche Diagnose der geistigen Behinderung erfolge nach der Klassifizierung ICD 10 der WHO. Danach sei nach F 70 von einer geistigen Behinderung, gleichzusetzen mit einer leichten Intelligenzminderung, bei einem IQ zwischen 50 und 69 auszugehen. Bei einem IQ zwischen 70 und 85 gehe man von einer Lernbehinderung aus. In allen vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen des Universitätsklinikums Freiburg werde von einer deutlichen Lernbehinderung ausgegangen. Auch aus dem pädagogischen Bericht vom 15.3.2012 ergebe sich eine kognitive Entwicklungsstörung im Sinne einer Lernbehinderung. Der Kläger verfüge danach über Lernpotentiale, die er bei entsprechenden Rahmenbedingungen auch entfalten könne. Aus der Empfehlung der Förderung in der Schule für geistig Behinderte könne keine wesentliche geistige Behinderung abgeleitet werden. Nach § 2 der EinglHV seien lernbehinderte Menschen nicht als geistig wesentlich behindert anzusehen. Die Fahrtkosten zur Integrativen Waldorfschule seien im Übrigen seit der Einschulung des Klägers in voller Höhe im Rahmen der Satzung für die Schülerbeförderung des Landkreises E. übernommen worden.

Auf ergänzende Nachfrage durch den Senat hat der Kläger die Zeugnisse nach Abschluss der ersten und zweiten Klasse (Bl. 35, 109 LSG-Akte) sowie eine Stellungnahme der Geschäftsführung der Integrativen Waldorfschule E. (Bl. 43 LSG-Akte) vorgelegt. Danach beinhalte das Konzept der Schule, dass in jeder Klasse ein Assistenzhelfer (FSJ, BfD) sei. Diese Assistenzhelfer hätten in der Regel noch keine Berufsausbildung und begleiteten die Schüler mit Behinderung durch den gesamten Schultag. Die geleisteten Hilfen seien Hilfen zur lebenspraktischen Bewältigung des Schultags. Der Zusatzbeitrag für die Assistenzdienstleistungen werde den Eltern des Klägers derzeit gestundet (vgl. Rechnung Bl. 45 LSG-Akte). Laut weiter vom Kläger vorgelegtem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Privaten Krankenversicherung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit vom 10.6.2013 (Bl. 59 LSG-Akte) besteht weiter Pflegebedürftigkeit nach Pflegestufe I.

Der Senat hat ferner Auskünfte beim Klassenlehrer des Klägers E. B. sowie der heilpädagogischen Lehrerin seiner Klasse S. von D. eingeholt (Bl. 68, 69 LSG-Akte), auf die inhaltlich Bezug genommen wird.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten sowie des Staatlichen Schulamtes (insbes. mit Sonderpädagogischem Bericht vom 30.5.2014 und weitere Feststellung des Anspruchs auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot im Bereich Geistige Entwicklung vom 5.6.2014) und die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gem. §§ 143, 144 SGG zulässig. Sie ist mit dem zuletzt gestellten Antrag auch begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, denn dem Kläger stehen Leistungen der Eingliederungshilfe für Assistenzdienste in der Schule im Zeitraum September 2012 bis Juli 2015 in Höhe von monatlich 235,05 EUR zu.

Streitgegenstand ist der Bescheid vom 18.5.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.6.2012, mit dem der Beklagte Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der Übernahme des "Extra-Schulgeldes" in Höhe von monatlich 235,05 EUR für Assistenzdienste abgelehnt hat.

Nach § 53 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 S. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzunehmen, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Leistungen der Eingliederungshilfe sind neben den Leistungen nach den §§ 26, 33, 41 und 55 des Neunten Buches insbesondere Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu; die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht bleiben unberührt (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII). Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 SGB IX sind erfüllt, wenn - soweit einschlägig - die geistige Fähigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.

Im Fall des Klägers liegt eine Behinderung im Sinne einer geistigen Leistungsstörung vor. Diese Behinderung ist nach der Überzeugung des Senats auch wesentlich.

Wann eine geistige Behinderung wesentlich ist, ergibt sich aus § 2 der Verordnung nach § 60 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch - Eingliederungshilfe-Verordnung - (EinglHV). Geistig wesentlich behindert im Sinne des § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII sind Personen, die infolge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte in erheblichem Umfange in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt sind. Die Prüfung der Wesentlichkeit einer Behinderung ist wertend an deren Auswirkungen für die Eingliederung in der Gesellschaft auszurichten. Entscheidend ist mithin nicht, wie stark die geistigen Kräfte beeinträchtigt sind und in welchem Umfang ein Funktionsdefizit vorliegt, sondern wie sich die Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit auswirkt (BSG, Urt. v. 22.3.2012, B 8 SO 30/10 R, juris Rn. 19). Eine erhebliche Einschränkung liegt nach der Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat anschließt, jedenfalls dann vor, wenn die mit einer Behinderung einhergehenden Beeinträchtigungen der erfolgreichen Teilnahme am Unterricht in einer Grundschule entgegenstehen, weil Lerninhalte ohne zusätzliche Hilfestellung nicht aufgenommen und verarbeitet werden können; denn eine Grundschulbildung bildet die essentielle Basis für jegliche weitere Schullaufbahn (BSG a.a.O. sowie BSG, Urt. v. 3.11.2011, B 3 KR 8/11 R, Rn. 22).

Mithin reicht - hierauf hat der Beklagte zutreffend hingewiesen - allein die Diagnose des Klinefelter-Syndromes beim Kläger nicht aus, das Vorliegen einer wesentlichen Behinderung im dargelegten Sinne zu begründen. Allerdings kann ebenso wenig ausschließlich auf den im Fall des Klägers bei den Testungen im SPZ der Universitätsklinik Freiburg ermittelten Intelligenzquotienten von 72 verwiesen und hierauf die Annahme gestützt werden, beim Kläger liege somit "nur" eine Lernbehinderung vor, die eine wesentliche geistige Behinderung ausschließe. Hiermit würde man der vom BSG geforderten wertenden Betrachtung der Auswirkungen der Beeinträchtigungen auf die Teilhabemöglichkeiten nicht gerecht. Als Kriterien zur Feststellung der Wesentlichkeit müssen vielmehr verschiedene Faktoren herangezogen werden. So erscheint es sinnvoll, in verschiedenen Lebensbereichen zu prüfen, ob die selbständige Ausführung möglich ist, ob Hilfsmittel benötigt werden, ob personelle Hilfe benötigt wird oder die Ausführung gar nicht möglich ist. Wesentliche Lebensbereiche sind Selbstversorgung und Mobilität, Haushaltsführung, Orientierung und Kommunikation sowie das Sozialverhalten. Ohne dass hieran eine Bindung des Gerichts bestünde, wird darauf hingewiesen, dass die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe im Rahmen ihrer "Orientierungshilfe für die Feststellungen der Träger der Sozialhilfe zur Ermittlung der Leistungsvoraussetzungen nach dem SGB XII i.V. m. der EinglHV" vom 24.11.2009 ausdrücklich darauf hinweist, dass eine alleinige Berücksichtigung oder Nutzung von IQ-Werten nicht ausreichend ist (S. 14). Die Orientierungshilfe empfiehlt vielmehr, zur Ausfüllung der gesetzlichen Vorschriften auf die Erläuterungen der ICD-10 sowie des Diagnostischen Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM IV) zurückzugreifen. Nach dem ICD-10 müssen neben einer Minderung der Intelligenz (IQ unter 70) auch Störungen in der Anpassung an die Anforderungen des alltäglichen Lebens vorhanden sein. Nach dem DSM IV liegt eine bedeutsame und wesentliche Minderung intellektueller Fähigkeiten vor, wenn - anders als im ICD-10 - ein IQ-Wert von unter 75 vorliegt (Kriterium A), wenn erhebliche Einschränkungen der Anpassungsfähigkeit in mindestens zwei der Bereiche Kommunikation, eigenständige Versorgung, häusliches Leben, soziale/zwischenmenschliche Fähigkeiten, Nutzung öffentlicher Einrichtungen, Selbstbestimmtheit sowie funktionale Schulleistungen/Arbeit/Freizeit/Gesundheit/Sicherheit vorliegen (Kriterium B) und wenn die Störung vor dem 18. Lebensjahr aufgetreten ist (Kriterium C). Bereits die Tatsache, dass als "Grenz-IQ-Wert" auch von Medizinern unterschiedliche Werte genannt werden, zeigt, dass es hierauf allein nicht ankommen kann.

Im Fall des Klägers liegen wesentliche Defizite in mehreren der genannten Bereiche vor. Insoweit wird für den vorangegangenen Zeitabschnitt (Kindergartenzeit) zunächst auf die Ausführungen in der Entscheidung zum Parallelverfahren (L 2 SO 4519/12) verwiesen. Die dort bereits angeführten Defizite und Beeinträchtigungen, die die Wesentlichkeit der geistigen Behinderung begründen, liegen auch weiterhin vor. Das folgt aus den Ausführungen in den pädagogischen Berichten vom 15.3.2012 (Bl. 343 VA, erstellt vor der Einschulung) und vom 30.5.2014 (erstellt am Ende des 2. Schuljahrs, vgl. VA Staatliches Schulamt) zur Klärung der Frage des Anspruchs auf ein sonderpädagogisches Förderangebot ebenso wie aus den Berichten und Angaben der für den Kläger zuständigen Heilpädagogin seiner Klasse (vgl. insbes. die Zeugnisse nach der ersten und zweiten Klasse, den Entwicklungsbericht vom 25.2.2014 und die Auskunft der Heilpädagogin von D. gegenüber dem Senat vom 21.10.2014, Bl. 69 LSG-Akte). Im kognitiven Bereich liegt das Leistungsniveau des Klägers damit immer noch im Bereich des Bildungsplans der Schule für geistig Behinderte. Der Kläger (inzwischen in der dritten Klasse) erkennt einzelne Großbuchstaben, kann diese in Druckschrift nachbilden und lesen. In den Kleinbuchstaben ist er noch sehr unsicher, schreibt ausschließlich in Großbuchstaben. Das Abschreiben von der Tafel ist nur mit Hilfe, teils mit Handführung möglich. Seine Sprache ist minimalistisch und verwaschen. Rechnen macht ihm große Mühe. Er rechnet im Zehnerraum mit seinen Fingern, mit Rechenplättchen oder Perlenkette. Über den Zehner kommt er beim chorischen Zählen. Insgesamt vergisst er schnell, so z.B. innerhalb einer Aufgabe, wie die Rechenzeichen heißen. Auch einfache Aufgaben bringen ihn schnell an seine Frustrationsgrenze, so dass er intensive Begleitung braucht. Gelegentlich bekommt er bei Nichtgelingen einer Aufgabe oder notwendigen Korrekturen Wutanfälle. Weiterhin auffällig ist eine starke motorische Unruhe. In der Schule braucht er Assistenz beim Toilettengang (nässt und kotet gelegentlich noch ein), auch, um den Weg zurück in das Klassenzimmer zu finden. Er verliert sich nach den Angaben der heilpädagogischen Lehrerin im Schulhaus, kommt auf gefährliche Ideen (rutscht auf Außentreppengeländer, hängt sich aus dem Fenster, hantiert mit Stöcken und hat auch beim Spiel und im Verkehr kein Gefahrenbewusstsein). In Umbruchsituationen (Unterrichtswechsel, Wechsel des Schulgebäudes) braucht er eine begleitende Hand, da er sonst seinen spontanen Ideen folgt und sich im Gelände verliert.

Auch im häuslichen Leben besteht ein hoher Förder- und Betreuungsaufwand. Das wird zum einen in dem genannten Schulentwicklungsbericht bestätigt (71 LSG-Akte). Zum anderen sind auch nach dem zuletzt noch vorgelegten Folgegutachten des medizinischen Dienstes der Privaten Krankenversicherung (Bl. 59 LSG-Akte) weiterhin durchgängig Auffälligkeiten in den psychomentalen Fähigkeiten (Orientierung, Antrieb/Beschäftigung, Wahrnehmung und Denken, Kommunikation/Sprache, verminderte Sozialkompetenz) dokumentiert; die Alltagskompetenz wird abschließend als in erhöhtem Maß eingeschränkt beurteilt. Vom Versorgungsamt wurde - dies sei lediglich ergänzend erwähnt - der Grad der Behinderung zuletzt nicht etwa reduziert, sondern auf 80 erhöht, was insbesondere gegen die vom Beklagten angenommene vor Schulanfang eingetretene Besserung spricht.

In der Gesamtschau hält der Senat mit Blick auf die weiter verminderten kognitiven Fähigkeiten des Klägers, die ihn daran hindern, ohne zusätzliche Hilfe am Unterricht der Grundschule teilzunehmen und die deutlichen Störungen im Hinblick auf die Anforderungen des alltäglichen Lebens das Vorliegen einer wesentlichen Behinderung im oben dargelegten Sinne (weiterhin) für gegeben. Der Kläger gehört daher entgegen der Auffassung des Beklagten grundsätzlich zum leistungsberechtigten Personenkreis i.S.d. §§ 53, 54 SGB XII.

Soweit der Beklagte wiederholt darauf hingewiesen hat, dass der sonderpädagogische Förderbedarf des Klägers durch die Lehrkräfte der Integrativen Waldorfschule (Grundschullehrer und heilpädagogische Kraft in jeder Klasse) abzudecken ist und auch abgedeckt wird, ist dies durchaus zutreffend. Gegenstand der Eingliederungshilfe können wegen des Nachrangs der Sozialhilfe (§ 2 SGB XII) solche Maßnahmen nicht sein, die originäre Aufgabe der Schule und der in ihr tätigen Lehrer sind. Eine Verpflichtung des Sozialhilfeträgers zur Übernahme von Kosten ist daher für Maßnahmen ausgeschlossen, die zum Kernbereich der pädagogischen Arbeit der Lehrkräfte gehören (BSG, Urt. v. 15.11.2012, B 8 SO 10/11 R, juris Rn.15 f. m.w.N.). Denn es kann grundsätzlich nicht Sache des Sozialhilfeträgers sein, das für die sonderpädagogische Förderung von schulpflichtigen Kindern erforderliche fachlich qualifizierte Personal zu stellen und die Kosten hierfür zu tragen (vgl. insoweit nur LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 23.2.2012, L 7 SO 1246/10, juris Rn. 31 und Urt. v. 18.11.2010, L 7 SO 6090/08, juris).

Um derartige Leistungen geht es indes dem Kläger vorliegend nicht. Er verlangt nicht die Übernahme des "Erziehungsbeitrags" in Höhe von monatlich 190,00 EUR, den die Integrative Waldorfschule von allen Schülern erhebt, sondern den zusätzlichen "Beitrag für Assistenzdienste für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf" in Höhe von monatlich 235,05 EUR (vgl. Beitragsordnung Bl. 31a LSG-Akte, dort ausdrücklich als "Eingliederungshilfe" bezeichnet). Bei den streitgegenständlichen Assistenzdienstleistungen, die mit dem "Extra-Schulgeld" von 235,05 EUR abgedeckt werden sollen, handelt es sich klar um Hilfen außerhalb des Kernbereichs der pädagogischen Arbeit, für die Leistungen der Eingliederungshilfe nicht ausgeschlossen sind. Bereits das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass ein Eintreten der Sozialhilfe für solche Bedarfe nicht ausgeschlossen ist, die nicht in der Deckung des unmittelbaren Ausbildungsbedarfs im Rahmen der Schulpflicht bestehen, sondern damit lediglich - mehr oder weniger eng - zusammenhängen (BVerwG, Beschl. v. 2.9.2003, 5 B 259/02). In die genannte Kategorie fallen beispielsweise Schulbegleiter von behinderten Menschen, die eine Regelschule besuchen und einer ständigen Beaufsichtigung zur Vermeidung einer Selbstgefährdung und der Hilfe bei alltäglichen Verrichtungen bedürfen. Auch wenn wie vom Beklagten zutreffend angenommen der zum Kernbereich der pädagogischen Aufgaben der Schule gehörende sonderpädagogische Förderbedarf des Klägers insbesondere durch die in seiner Klasse tätige Heilpädagogin von D. erbracht wird, bestehen wie oben dargelegt seit der Einschulung des Klägers darüber hinaus gehende Hilfenotwendigkeiten: Der Kläger bedarf zu seinem eigenen Schutz (Eigengefährdung durch mangelndes Gefahrenbewusstsein) und zum Schutz seiner Schulkameraden (Fremdgefährdung) besonderer Beaufsichtigung. Er benötigt insbesondere beim Toilettengang, zur Verhinderung unkontrollierten Verlassens des Schulgeländes, beim Unterrichts- und Raumwechsel, beim Spielen mit Kameraden und bei Ausflügen jedenfalls nach aktuellem Stand spezielle Unterstützung und Beaufsichtigung, die von den Lehrkräften allein nicht geleistet werden kann. Dieser Bedarf wird von den in der Klasse des Klägers tätigen Bundesfreiwilligendienst oder freiwilliges soziales Jahr leistenden Assistenzhelfern abgedeckt. Der Höhe nach erscheint der hierfür angesetzte Betrag von derzeit 235,05 EUR bedarfsgerecht. Der Beklagte hat im Übrigen auch selbst zugestanden, dass er - bei Vorliegen der bisher von ihm verneinten und vom Senat nunmehr bejahten personenbezogenen Voraussetzungen - nach bisheriger Verwaltungspraxis den Betrag in der genannten Höhe übernehmen würde.

Im Hinblick auf einen möglicherweise künftig abweichenden eingliederungshilferechtlichen Bedarf ist die Entwicklung des Klägers durch den Beklagten weiter zu beobachten und für den Fall geänderter Verhältnisse in der Zukunft ggf. eine erneute Entscheidung zu treffen. Sachgerecht erscheint insoweit eine schuljahresweise Bewilligung, so dass durch den Beklagten für das 4. Schuljahr eine erneute Beurteilung zu erfolgen hätte. Hieraus erklärt sich die Verurteilung - wie im Übrigen auch von Klägerseite zuletzt beantragt - zur Gewährung der Leistungen der Eingliederungshilfe bis zum 31.7.2015 (Ende des 3. Schuljahres).

Der Kläger hat daher Anspruch auf Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten in Höhe von monatlich 235,05 EUR für die in der Waldorfschule erbrachten Assistenzdienstleistungen, so dass die Berufung insoweit erfolgreich ist.

Fahrtkosten, die über dem vom Amt für ÖPNV übernommenen Betrag liegen, sind dem Kläger tatsächlich nicht entstanden (vgl. Auskunft vom 17.11.2013, Bl. 44 LSG-Akte). Der Kläger hat insoweit sein Begehren auch nicht mehr weiter verfolgt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Nr. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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