L 8 SB 230/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 1 SB 3797/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 230/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 14. Dezember 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) streitig.

Der 1972 geborene Kläger leidet an einem Gardner-Syndrom (ED 1996). Deswegen erfolgte am 12.04.2013 eine laparoskopische Proktokolektomie (= Entfernung Dickdarm) mit ileoanaler Pouchanlage und Anlage eines protektiven Ileostoma mit Ileostomarückverlagerung am 22.10.2013 (Entlassbriefe des Universitätsklinikums M. vom 23.04.2013 und 27.10.2013).

Am 18.10.2013 beantragte der Kläger wegen eines BS-Vorfalls C6/7 sowie dem Gardner-Syndrom beim Landratsamt E. (LRA) die Feststellung des GdB rückwirkend ab 11.04.2013. Das LRA nahm medizinische Befundunterlagen zu den Akten (insbesondere Berichte der radiologischen Gemeinschaftspraxis E. vom 18.05.2011, des Facharztes für Neurochirurgie B. vom 26.05.2011, des Universitätsklinikums M. vom 13.03.2013, 23.04.2013 und 27.10.2013, Diagnosen: Insbesondere Gardner-Syndrom, zahlreiche Adenome mit intraepithelialer Neoplasie und postoperativer Dermatologie; des E. D. Krankenhauses F. vom 29.05.2013, Diagnosen: Insbesondere cholestatische Hepatitis, Kurzdarmsyndrom, Niereninsuffizienz Grad II, Gardner-Syndrom; ärztlicher Entlassungsbericht der Reha S. an die Deutsche Rentenversicherung vom 12.09.2011, Diagnosen: BSV C 6/7 links, Cervicobrachialgie link). In der hierzu eingeholten gutachtlichen Stellungnahme des ärztlichen Dienstes vom 10.01.2014 schlug Dr. E. den GdB mit 30 vor.

Mit Bescheid vom 22.01.2014 stellte das LRA beim Kläger den GdB mit 30 sowie eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit im Sinne des § 33b Einkommensteuergesetz jeweils seit dem 11.04.2013 fest.

Hiergegen legte der Kläger am 10.02.2014 Widerspruch ein. Er schilderte zur Begründung bestehende Einschränkungen im Tagesablauf, insbesondere durch täglich acht bis zehn nicht planbare Toilettengänge, Schmerzen bei durchfallartigem Stuhlgang. Sein jetziges Auftreten in der Öffentlichkeit sei extrem eingeschränkt, da alles, was sich nicht in Reichweite einer Toilette befinde, nicht machbar sei. Er müsse Diät einhalten und benötige Medikamente. Die bestehenden Einschränkungen habe er vor der Darmentnahme nicht gehabt. Die genaue Einschätzung seiner Lebenslage sei nicht mit herangezogen worden. Darauf hinzuweisen sei, dass der Unterschied zwischen einem Ileostomaausgang (künstlicher seitlichen Ausgang), den er ein halbes Jahr gehabt habe, und dem jetzigen Zustand (herkömmlicher Ausgang, wie vor der OP) nur einen äußerlichen (ästhetischen) Aspekt habe. Trotzdem bestünden mindestens Einschränkungen wie bei einem Stoma. Wegen der Toilettengänge sei die Erholung durch den Nachtschlaf nicht ausreichend gegeben. Tagsüber seien zusätzliche Ruhepausen notwendig. Das LRA holte das ärztliche Attest des Dr. von K. vom 12.03.2014 ein, wonach der Kläger trotz Beschwerdebesserung nach wie vor unter einer ausgeprägten Diarrhoe mit acht bis zehn Stuhlgängen pro Tag, mehrfach auch nachts, leide, bei deutlich eingeschränkter Leistungsfähigkeit sowie der körperlichen Belastbarkeit und abdominellen Schmerzen sowie der Notwendigkeit, bestimmte Ernährungsrichtlinien einzuhalten. In der weiteren gutachtlichen Stellungnahme des ärztlichen Dienstes vom 24.04.2014 schlug Dr. Ko. wegen des Verlustes des Dickdarms (GdB 30) und einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Bandscheibenschaden (GdB 10) den GdB weiterhin mit 30 vor.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.07.2014 wurde der Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 22.01.2014 vom Regierungspräsidium Stuttgart - Landesversorgungsamt - zurückgewiesen. Die Behinderungen des Klägers seien in vollem Umfang erfasst und mit einem GdB von 30 angemessen bewertet. Die vorliegende Behinderung erreiche nicht das erforderliche Ausmaß für die Anerkennung als schwerbehinderter Mensch.

Hiergegen erhob der Kläger am 13.08.2014 Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG). Er machte zur Begründung ergänzend geltend, entgegen der Auffassung des Beklagten bestehe eine erhebliche Minderung des Kräfte- und Ernährungszustandes. Er habe seit der Operation 16 kg bei erhaltenem Appetit abgenommen. Weiter sei ein reduzierter Allgemeinzustand festgestellt worden. Deswegen sei ein höherer Einzel-GdB als 30 zu berücksichtigen. Hinzu kämen erhebliche Wirbelsäulenbeschwerden, die zusätzlich zu berücksichtigen seien.

Das SG hörte vom Kläger benannte behandelnde Ärzte - unter Übersendung der gutachtlichen Stellungnahme des Dr. Ko. vom 24.04.2014 - schriftlich als sachverständige Zeugen an. Der Facharzt für Innere Medizin, Gastroenterologie und Infektiologie PD Dr. Ba. teilte in seiner Aussage vom 10.10.2014 (unter Vorlage des ärztlichen Entlassungsberichts der Reha Klinik Bad M. vom 03.01.2014) den Behandlungsverlauf und die Befunde mit und schätzte den GdB auf 50 bis 60 ein. Der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. von K. teilte in seiner schriftlichen Aussage vom 24.10.2014 - unter Vorlage von medizinischen Berichten (insbesondere Dr. R. vom 10.03.2014, Diagnose: Distorsion Daumengrundgrundgelenk rechts nach Verletzung beim Skifahren am 16.02.2014; Ambulanzbrief des Universitätsklinikums M. vom 18.09.2013) - den Behandlungsverlauf, die Befunde (insbesondere stabiler Gewichtsverlauf nach einer Rehamaßnahme, BMI 27) und Diagnosen mit. Der Kläger sei nach der Operation schwerst eingeschränkt gewesen. Zwischenzeitlich könne er seinem Alltag und dem Beruf kräftemäßig wieder nachgehen.

Anschließend holte das SG (von Amts wegen) das Gutachten des Internisten und Gastroenterologen Prof. Dr. A. vom 27.02.2015 ein. Prof. Dr. A. diagnostizierte in seinem Gutachten ein Gardner-Syndrom, seit November 2009 reizlose Drüsenzysten, eine Choleszystolithiasis, eine Laktoseintoleranz, einen Zustand nach Bandscheibenvorfall C 6/7 links 2011, eine sensible Wurzelreizung C8 und C7 links sowie eine Reizung caudaler cervikaler Facetten links. Die Behinderungen ließen sich insgesamt mit einem Kurzdarmsyndrom bezeichnen. Prof. Dr. A. schätzte gastroenterologische den GdB auf 50 bis 60, außerhalb des Fachgebiets den GdB auf 10 und den Gesamt-GdB auf 50 bis 60 ein.

Der Beklagte unterbreitete daraufhin dem Kläger unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. H. vom 16.05.2015 ein Vergleichsangebot dahin, den GdB mit 40 ab 11.04.2013 festzustellen (Schriftsatz vom 20.05.2015), das der Kläger nicht annahm (Schriftsatz vom 19.06.2015).

Mit Gerichtsbescheid vom 14.12.2015 verurteilte das SG den Beklagten, beim Kläger einen GdB von 40 seit 11.04.2013 festzustellen; im Übrigen wies es die Klage ab. Das SG führte zur Begründung aus, es stehe zur Überzeugung des Gerichtes fest, dass beim Kläger ab 11.04.2013 ein GdB von 40 nachgewiesen und damit festzustellen sei. Für den Verlust des Dickdarms sei der Einzel-GdB mit 40 einzuschätzen. Die Einschätzung von Prof. Dr. A. lasse sich nicht mit den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen vereinbaren.

In Ausführung des Gerichtsbescheides vom 14.12.2015 stellte das LRA beim Kläger mit Bescheid vom 12.01.2016 den GdB mit 40 seit dem 11.04.2013 fest.

Gegen den der Prozessbevollmächtigten des Klägers am 21.12.2015 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die vom Kläger durch seine Prozessbevollmächtigte am 18.01.2016 eingelegte Berufung. Der Kläger hat zur Begründung ausgeführt, es bestünden wegen sehr häufiger Durchfälle mit Blut im Stuhl extreme Einschränkungen im Alltag, da sein gesamter Tagesablauf von den starken und häufigen Durchfällen dominiert werde. Ein geregelter Tagesablauf sei nahezu unmöglich. Er müsse seinen kompletten Tagesablauf nach den Toilettengängen ausrichten. Auch nachts sei er massiv beeinträchtigt. Durch diese Umstände bestehe eine deutliche Leistungseinschränkung, die die Anerkennung eines GdB von mindestens 50 rechtfertige. Der Kläger hat mit Schreiben vom 16.03.2016 seinen Krankheitszustand beschrieben. Außerdem hat der Kläger Berichte insbesondere des Dr. M. vom 14.03.2016 und des Universitätsklinikums F. vom 03.04.2016 vorgelegt.

Der Kläger beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 14.12.2015 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 22.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.07.2014 in der Fassung des Ausführungsbescheides vom 14.12.2015 zu verurteilen, den Grad der Behinderung mit mindestens 50 seit dem 11.04.2013 festzustellen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte hat unter Verweis auf seinen Vergleichsangebot zur Begründung ausgeführt, der Verlust des Dickdarms bedinge nur einen Teil-GdB von 40. Unter Berücksichtigung des Wirbelsäulenleidens mit einem Teil-GdB von 10 betrage der Gesamt-GdB 40 ab 11.04.2013.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die angefallenen Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie auf einen Band Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, aber unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 22.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.07.2014 in der Fassung des Ausführungsbescheids vom 12.01.2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG ist nicht zu beanstanden. Dem Kläger steht ein Anspruch auf Feststellung des GdB von über 40 seit dem 11.04.2013 nicht zu.

Maßgebliche Rechtsgrundlagen für die Feststellung des GdB sind die Vorschriften des SGB IX. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach 10er Graden abgestuft festgestellt. Hierfür gelten gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und der aufgrund des § 30 Abs. 16 des BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. In diesem Zusammenhang waren bis zum 31.12.2008 die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) heranzuziehen (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1).

Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der AHP, die im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewendet wurden, die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 16 BVG zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB. Anders als die AHP, die aus Gründen der Gleichbehandlung in allen Verfahren hinsichtlich der Feststellung des GdB anzuwenden waren und dadurch rechtsnormähnliche Wirkungen entfalteten, ist die VersMedV als Rechtsverordnung verbindlich für Verwaltung und Gerichte. Sie ist indes, wie jede untergesetzliche Rechtsnorm, auf inhaltliche Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen - insbesondere § 69 SGB IX - zu überprüfen (BSG, Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - RdNr 27, 30 m.w.N.). Sowohl die AHP als auch die VersMedV (nebst Anlage) sind im Lichte der rechtlichen Vorgaben des § 69 SGB IX auszulegen und - bei Verstößen dagegen - nicht anzuwenden (BSG, Urteil vom 30.09.2009 SozR 4-3250 § 69 Nr. 10 RdNr. 19 und vom 23.4.2009, a.a.O., RdNr 30)

Im Vordergrund der Behinderung des Klägers steht der Verlust des Dickdarms. Nach den VG Teil B 10.2 ist bei organischen und funktionellen Krankheiten des Magen-Darmkanals der GdB nach dem Grad der Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes, der Schwere der Organstörung und nach der Notwendigkeit besonderer Diätkost zu beurteilen. Bei allergisch bedingten Krankheiten ist auch die Vermeidbarkeit der Allergene von Bedeutung. Dabei ist nach den rechtlichen Bewertungsvorgaben der VG Teil B 10.2.2 bei chronischen Darmstörungen (irritabler Darm, Divertikulose, Divertikulitis, Darmteilresektion) mit stärkeren und häufig rezidivierenden oder anhaltenden Symptomen (z. B. Durchfälle, Spasmen) der GdB mit 20 bis 30 und mit einer erheblicher Minderung des Kräfte- und Ernährungszustandes der GdB mit 40 bis 50 zu bewerten. Dem entsprechen auch sonst die rechtlichen Bewertungsvorgaben der VG für organische und funktionelle Krankheiten des Magen-Darmkanals, die einen GdB von (40 bis) 50 erst bei einer erheblichen Minderung des Kräfte- und Ernährungszustandes vorsehen (vgl. Teil B 10.2.1 bei Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwürsleiden oder Teil B 10.2.2 bei Colitis ulcerosa, Crohn-Krankheit).

Hiervon ausgehend kann beim Kläger das Vorliegen einer Schwerbehinderung (GdB mindestens 50), wie er geltend macht, nicht festgestellt werden. Zwar leidet der Kläger nach seinen Angaben an häufigen Durchfällen, die durch die zu den Akten gelangten medizinischen Befundunterlagen sowie die vom SG schriftlich als sachverständige Zeugen gehörten Ärzte PD Dr. Ba. und Dr. von K. bestätigt werden. Weiter muss der Kläger nach seinen von Prof. Dr. A. in seinem Gutachten beschriebenen Angaben blähende, fett- und glukosehaltige Speisen meiden und sich balaststoffarm ernähren, wobei der Kläger nach der Beschreibung der Beschwerdeangaben im ärztlichen Entlassungsbericht der Reha Klinik o. vom 03.01.2014 Mahlzeiten relativ gut verträgt. Dass der Kläger einer besonderen Diätkost bedarf, ist nicht ersichtlich. Hiervon geht auch Prof. Dr. A. in seinem Gutachten vom 27.02.2015 aus, der eine schwere Erkrankung (lediglich) wegen häufiger täglicher und auch nächtlicher Durchfälle annimmt. Dies rechtfertigt nach den dargestellten GdB-Bewertungsgrundsätzen der VG jedoch noch nicht, den vorgegebenen GdB-Rahmen mit 50 auszuschöpfen. Dem steht entgegen, dass beim Kläger eine erhebliche Minderung des Kräfte- und Ernährungszustandes nicht festgestellt werden kann. Soweit streitig sein könnte, ob die für die GdB-Bewertung in Teil B Nr. 10.2.2 der VG maßgebenden funktionellen Einschränkungen bei den Erkrankungen einer Colitis ulcerosa oder Crohn-Krankheiten etc. alternativ oder kumulativ für die Anwendung des jeweiligen GdB-Bewertungsrahmens vorliegen müssen, ist nach systematischer Auslegung davon auszugehen, dass die in der jeweiligen Bewertungsstufe genannten Funktionseinschränkungen zusammen vorliegen müssen, ansonsten bestünde ein Wertungswiderspruch zwischen der Erkrankung an einer chronischen Darmstörung, die bei einer allein angeführten Funktionseinschränkung durch eine erhebliche Minderung des Kräfte- und Ernährungszustandes den GdB von 40-50 rechtfertigt, in der darunterliegenden Bewertungsstufe des GdB von 20-30 dagegen nur stärkere und häufige Symptome, wie z.B. Durchfälle benennt. Diese Auslegung wird bestätigt durch die authentische Auslegung des Normgebers. Denn der Verordnungsgeber, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, hat in einer Stellungnahme hierzu die Überprüfung empfohlen, ob trotz häufiger Durchfälle keine Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes vorliegt, was die kumulative Anwendung bedeutet (zitiert nach VdK, Versorgungsmedizinische Grundsätze, Kommentar, 7. Aufl., Anmerkung zu Teil B 10.2.2. Colitis ulcerosa etc. Nr. 1).

Zwar hat der Kläger nach den Beschreibungen im Befundbericht des E. D. Krankenhauses vom 29.05.2013 eine Adynamie und einen Gewichtsverlust von 16 kg seit der Operation am 12.04.2013 angegeben, was das E. D. Krankenhaus auf ein Kurzdarmsyndrom zurückgeführt hat. Diese im engen zeitlichen Zusammenhang zur Darmoperation stehende Gewichtsabnahme war jedoch nur vorübergehend und von kurzer Dauer. Bereits nach den Beschreibungen im Ambulanzbrief des Universitätsklinikums M. vom 18.09.2013 hatte sich der Kläger gut erholt bei einer Gewichtszunahme von 10 kg. Nach den Beschreibungen im ärztlichen Entlassungsbericht der Reha Klinik o. vom 03.01.2014 besteht ein guter Allgemein- und Ernährungszustand des Klägers (Körpergröße 182 cm, Gewicht 84 kg). Dem entsprechen auch die Aussagen von Dr. von K. in seiner schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage vom 24.10.2014. Danach besteht beim Kläger nach der Rehamaßnahme ein stabiler Gewichtsverlauf (Gewicht von 90 kg, BMI 27). Nach der Aussage von Dr. von K. war der Kläger nur nach der Operation schwerst eingeschränkt. Es kam jedoch zu einer Besserung, die es dem Kläger erlaubt, dem Alltag und im Beruf kräftemäßig wieder nachzugehen. Auch PD Dr. Ba. hat in seiner schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage vom 10.10.2014 eine bedeutsame Minderung des Kräfte- und Ernährungszustandes des Klägers nicht beschrieben, sondern vielmehr ausgesagt, dass das Gewicht des Klägers steigend sei (91 kg). Seit Oktober 2013 habe kein Blutabgang mehr bestanden. Dem entspricht das Gutachten von Prof. Dr. A. vom 27.02.2015. Prof. Dr. A. beschreibt darin einen guten Allgemein- und ordentlichen Kräfte- und Ernährungszustand des Klägers (Gewicht 90 kg). Gegen eine bedeutsame Minderung des Kräftezustandes des Klägers spricht zudem, dass der Kläger nach dem von Dr. von K. vorgelegten Befundbericht des Dr. R. vom 10.03.2014 in der Lage ist, Ski zu fahren, wobei sich der Kläger am 16.02.2014 am rechten Daumen verletzt hat. Dass der Kläger in der Lage ist, Ski zu fahren, lässt Zweifel daran aufkommen, ob er wegen Durchfällen tatsächlich in dem von ihm vorgetragenen Ausmaß beeinträchtigt und die körperliche Belastbarkeit in dem vorgetragenen Ausmaß herabgesetzt ist. Dass der Kläger früher Hochleistungssportler im Rahmen von Tauziehwettbewerben mit Platzierung bei Weltmeisterschaften war und sich nur noch eingeschränkt sportlich betätigen könne, wie Dr. von K. in seiner schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage vom 24.10.2014 mitgeteilt hat, ist nicht maßgeblicher Vergleichsmaßstab hinsichtlich einer Minderung des Kräftezustandes, sondern ob der Kläger durch eine erhebliche Minderung des Kräfte- und Ernährungszustandes an seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Dies kann nach den aktenkundigen Befunden, wie ausgeführt, nicht festgestellt werden. Die vorübergehend angelegte Ileostoma rechtfertigt keine Erhöhung des Einzel-GdB, auch nicht zeitweise. Sie ist nach den hierzu vorliegenden Befundberichten des Universitätsklinikums M. als temporäres Therapiemittel und nicht als dauerhafte Behinderung zu werten, die zeitweise mit einem Einzel-GdB zu berücksichtigen wäre. Zur Überzeugung des Senates ist damit wegen des Verlustes des Dickdarms der Einzel-GdB mit 40 angemessen bewertet. Der abweichenden Ansicht von Prof. Dr. A. in seinem Gutachten vom 27.02.2015 und PD Dr. Ba. in seiner schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage vom 10.10.2014, die wegen des Verlustes des Dickdarms übereinstimmend von einem Einzel-GdB von 50 bis 60 ausgehen, kann nicht gefolgt werden. Diese GdB-Bewertung lässt sich nicht mit den oben dargestellten rechtlichen Bewertungsvorgaben der VG vereinbaren.

Die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule ist beim Kläger mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Nach den VG Teil B 18.9 ist bei Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) ein Teil-GdB von 10, mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) ein Teil-GdB von 20, mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) ein Teil-GdB von 30 und mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten ein Teil-GdB von 30 bis 40 gerechtfertigt. Maßgebend ist dabei, dass die Bewertungsstufe GdB 30 bis 40 erst erreicht wird, wenn mittelgradige bis schwere funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vorliegen. Die Obergrenze des GdB 40 ist danach erreicht bei schweren Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten (Urteil des erkennenden Senats vom 24.01.2014 - L 8 SB 2497/11 -, veröffentlicht in juris und im Internet sozialgerichtsbarkeit.de). Nach den zu den Akten gelangten medizinischen Befundunterlagen bestehen beim Kläger zwar degenerative Veränderungen. So wurde beim Kläger insbesondere ein kleiner BS-Vorfall im Segment C 6/7 (Berichte der Radiologischen Gemeinschaftspraxis E. vom 18.05.2011 und des Neurochirurgen B. vom 26.05.2011) festgestellt. Degenerative Veränderungen sind für die Bewertung des GdB jedoch nicht maßgeblich. Mit Bild gebenden Verfahren festgestellte Veränderungen (z. B. degenerativer Art) rechtfertigen nach den VG Teil B 18.1 allein noch nicht die Annahme eines GdB. Dass die beim Kläger bestehenden Wirbelsäulenschäden über geringe funktionellen Auswirkungen hinausgehen, kann nicht festgestellt werden. Funktionell relevante neurologische Ausfallerscheinungen hat der Facharzt für Neurochirurgie B. in seinem Bericht vom 26.05.2011 verneint. Nach den Beschreibungen im ärztlichen Entlassungsbericht der Reha Klinik o. vom 03.01.2014 ist beim Kläger, bei HWS/LWS-Klopfschmerz und einer mäßig verspannten paravertepralen Muskulatur, die Wirbelsäulenrotation, die Seitwärtsneigung und Inklination bei einem Fingerbodenabstand von 0 cm unauffällig. Dem entsprechen im Wesentlichen auch die im ärztlichen Entlassungsbericht der Reha S. G. vom 12.09.2011 vorbeschriebenen Wirbelsäulenbefunde einer etwas verspannten und druckschmerzhaften Rückenstreckermuskulatur im Nacken- und Schultergürtelbereich bei sonst guter Funktion der sonstigen Wirbelsäulenabschnitte mit einem Fingerbodenabstand von 0 cm und lediglich leicht schmerzhafter Einschränkung der Inklination der HWS mit leichter Funktionseinschränkung der HWS. Auch Prof. Dr. A. beschreibt in seinem Gutachten keine bedeutsame Funktionsbehinderung des Klägers, sondern eine frei bewegliches Skelettsystem. Mittelgradige funktionelle Auswirkungen von Wirbelsäulenschäden in einem Wirbelsäulenabschnitt, die erst einen Einzel-GdB von 20 rechtfertigen, können danach nicht festgestellt werden. Eine wesentliche Verschlimmerung ist nicht ersichtlich. Soweit sich der Kläger nach dem Bericht des Universitätsklinikums F. vom 03.04.2016 am 03.04.2016 in der Notaufnahme wegen Schmerzen in der unteren LWS vorgestellt hat, besteht die Beschwerdeproblematik nach der Beschreibung im Befundbericht nach einer Dreh- und Hebebewegung am Vortrag. Es handelt sich damit um eine akute Beschwerdeproblematik. Dass beim Kläger eine dauerhafte (über 6 Monate andauernde - vgl. VG Teil A 2f) -) Funktionsbehinderung der LWS besteht, die bei der Bildung des Einzel-GdB Berücksichtigung finden könnte, kann derzeit noch nicht festgestellt werden. Vielmehr wurde eine Behandlung in die Wege geleitet, deren Behandlungsergebnis abzuwarten bleibt. Insoweit ist der Kläger, je nach dem Ergebnis der Behandlung, auf einen Neufeststellungsantrag beim Beklagten zu verweisen.

Sonstige GdB-relevante Gesundheitsstörungen können nach den durchgeführten Ermittlungen und den vorliegenden medizinischen Unterlagen nicht festgestellt werden und werden im Übrigen vom Kläger auch nicht geltend gemacht. Insbesondere ist eine Nierenfunktionsstörung bei diagnostizierter Niereninsuffizienz (Bericht E. D. Krankenhaus F. vom 29.05.2013) nicht festzustellen. Vielmehr werden im Bericht des E. D. Krankenhauses intakte Nieren beschrieben. Auch Dr. von K. in seiner schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage vom 24.10.2014 und Prof. Dr. A. in seinem Gutachten haben ein zu berücksichtigendes Nierenleiden nicht genannt.

Danach ist beim Kläger der Gesamt-GdB mit 40 seit dem 11.04.2013 festzustellen. Die Bemessung des Gesamt-GdB erfolgt nach § 69 Abs. 3 SGB IX. Danach ist zu beachten, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB zu bilden, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt-GdB ungeeignet. In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Ein Einzel-GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. A Nr. 3 VG). Der Gesamt GdB ist unter Beachtung der AHP bzw. der VersMedV einschließlich der VG in freier richterlicher Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten zu bilden (BSGE 62, 209, 213; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 und SozR 3-3879 § 4 Nr. 5 zu den AHP). Es ist also eine Prüfung vorzunehmen, wie die einzelnen Behinderungen sich zueinander verhalten und ob die Behinderungen in ihrer Gesamtheit ein Ausmaß erreichen, das die Schwerbehinderung bedingt.

Hiervon ausgehend ist bei der Bildung des GdB der Verlust des Dickdarms mit einem Einzel-GdB von 40 zu berücksichtigen. Die mit einem Einzel-GdB von 10 bestehende Funktionsbehinderung der Wirbelsäule erhöht den GdB nicht.

Anlass zu weiteren Ermittlungen besteht nicht. Der Sachverhalt ist durch die vom SG durchgeführten Ermittlungen und die zu den Akten gelangten medizinischen Befundunterlagen vollständig aufgeklärt und vermitteln dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 ZPO). Der medizinische festgestellte Sachverhalt bietet die Basis für die alleine vom Senat vorzunehmende rechtliche Bewertung des GdB unter Einschluss der Bewertung der sich zwischen den einzelnen Erkrankungen und Funktionsbehinderungen ergebenden Überschneidungen und Wechselwirkungen. Gesichtspunkte, durch die sich der Senat zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen müsste, hat der Kläger im Berufungsverfahren nicht aufgezeigt.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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