L 6 SB 3503/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 10 SB 503/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 3503/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 9. Juli 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt die Zuerkennung (behördliche Feststellung) eines höheren Grades der Behinderung (GdB) sowie die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (Nachteilsausgleich im Nahverkehr bzw. bei der Kfz-Steuer wegen erheblicher Gehbehinderung).

Die Klägerin ist im Jahre 1944 geboren und als deutsche Staatsbürgerin dauerhaft im Inland wohnhaft. Sie ist geschieden, lebt in fester Partnerschaft und wohnt in einem Haus mit eigenem Garten. Nach ihren Angaben gegenüber den erstinstanzlich gehörten Gutachtern verfügt sie über einen geregelten Tagesablauf, beschäftigt sich neben der Arbeit in Haus und Garten mit "juristischer Hilfestellung" für andere Menschen, geht häufig mit ihrem Partner spazieren und übt regelmäßig Sport aus. Die Klägerin ist schwerhörig. Das Körpergewicht beträgt 122 kg bei einer Größe von 174 cm. An Medikamenten nimmt sie Blutfettsenker und Magenschutztabletten ein, ihre Schmerzen behandelt sie mit nicht verschreibungspflichtigen Schmerzsalben. Ihre Schulter wurde 2001, ihr Sprunggelenk nach Fraktur 2011 operiert. Aus dem Terminsverlegungsantrag ihres Prozessbevollmächtigten vom 3. Juni 2015 geht ferner hervor, dass sie - im Jahre 2015 - mehrfach mehrmonatige Urlaube auf Zypern verbracht hat.

Auf Grund des Vergleichs vom 19. November 2009 in einem vorangegangenen Streitverfahren erkannte der Beklagte bei der Klägerin zuletzt mit Bescheid vom 2. Dezember 2009 einen GdB von 70 seit dem 19. November 2009 zu. Dieser Feststellung lagen folgende Behinderungen zu Grunde: Schwerhörigkeit beidseitig (Teil-GdB 40); Ohrgeräusche (Tinnitus) und Schwindel (Teil-GdB 60); Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden, Kopfschmerzsyndrom (Teil-GdB 30); Schulterarthropathie, Epikonsylopathie, Sehnenscheiden-Carpaltunnelsyndrom beidseits, Bewegungseinschränkung und Nervenschaden am linken Daumen (Teil-GdB 20); Arthropathie der Beingelenke, Bandbeschwerden der Sprunggelenke, Bewegungseinschränkung der rechten Großzehe, Baker-Cyste rechts (Teil-GdB 20); Magenleiden, rezidivierende Colitis (Teil-GdB von 10); Allergie (Teil-GdB von 10).

Am 9. Februar 2012 beantragte die Klägerin die Neufeststellung des GdB sowie die Zuerkennung der Merkzeichen "G", "aG" (außergewöhnlich gehbehindert) und "RF" (Ermäßigung der Rundfunkbeiträge) u.a. wegen der genannten Sprunggelenksfraktur rechts 03/2011 und Verschlimmerung ihrer bisherigen Erkrankungen. Der Beklagte lehnte diesen Antrag nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. E. vom 15. Juli 2012 mit Bescheid vom 18. Juli 2012 ab. Eine wesentliche Änderung sei nicht eingetreten. Die Sprunggelenksfraktur rechts, der Nervenschaden am Fuß, der operierte Hautkrebs, die Blasenstörungen und die Sehbehinderung bedingten keinen Teil-GdB von wenigstens 10. Auch lägen die Voraussetzungen für die beantragten Merkzeichen nicht vor.

Zur Begründung ihres dagegen erhobenen Widerspruchs trug die Klägerin vor, sie könne auch mit Krücken nicht lange laufen, geschweige denn Besorgungen für den Alltag allein und ohne Hilfe machen. Es hätten eine schwerwiegende, eitrige, Monate andauernde Entzündung im rechten Bein mit Nekrose sowie eine Osteochondrose dissecans vorgelegen. Zudem bestehe ein Tarsaltunnelsyndrom mit erheblichen Be¬rührungsschmerzen an den Beinen. Unberücksichtigt geblieben seien bisher die Schwerhörigkeit beidseits, auf einem Ohr mindestens 60 %, der starke Tinnitus beidseits, multiple Hörstürze, Hörtrauma, ein Morbus Meniere, die Fibromyalgie, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, ungenügende Überdachung des Hüftgelenks rechts, Totaloperation der Gebärmutter, Impingement und Arthrose im rechten Schultergelenk, Funktionsunfähigkeit des linken Daumens, Arthrose in den Knien, Magenleiden, vernarbte Magengeschwüre, Refluxkrankheit, kleine Zysten Leber und Niere, Lebensmittelallergien, multiple Allergien sowie diverse Unverträglichkeiten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Februar 2013 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin nach Auswertung der vorliegenden Befundunterlagen, die eine Verschlimmerung nicht begründen ließen, zurück. Eine GdB-bedingende Sehbehinderung bestehe nicht. Auch lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "aG" nicht vor.

Dagegen hat die Klägerin am 27. Februar 2013 Klage beim Sozialgericht Konstanz (SG) mit der Begründung erhoben, die orthopädischen Beeinträchtigungen hätten mittlerweile stark zugenommen und darüber hinaus beständen auch erhebliche Funktionsstörungen aufgrund der erlittenen Sprunggelenksfraktur. Zu berücksichtigen sei auch die Adipositas.

Nachdem der Beklagte der Klage entgegengetreten gewesen ist, hat das SG zunächst die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen.

Dr. R., Internistin und Lungenärztin, hat am 26. August 2013 die Ergebnisse einer Lungenfunktionsuntersuchung mitgeteilt und unter Bezug darauf angegeben, bei der einmaligen Vorstellung der Klägerin im Februar 2013 seien eine exacerbierte obstruktive Atemwegserkrankung, arterielle Hypertonie, ein V.a. (Verdacht auf) eine schlafbezogene Atmungsstörung, Adipositas Grad II sowie anamnestisch eine Zentralvenenthrombose und ein gastroösophagealer Reflux festgestellt worden.

HNO-Arzt Dr. R. hat mit Schreiben vom 26. August 2013 eine mittelgradige symmetrische Schallempfindungsschwerhörigkeit beidseits angegeben. Der errechnete Hörverlust für Töne habe rechts 46 % und links 56 % betragen. Der Befund habe mit dem Ergebnis im Sprachaudiogramm korreliert. Der dadurch begründete GdB betrage 30.

Die Orthopädin Dr. G. hat am 26.08.2013 angeführt, dass bei der Klägerin ein Zervikalsyndrom, Schulterschmerzen, ein chronisches Schmerzsyndrom, ein Z.n. (Zustand nach) OSG-Lu-xationsfraktur rechts, eine Tendinitis calcarea im Schulterbereich rechts und eine Gonarthrose rechts festgestellt worden seien. Die Gehfähigkeit sei insgesamt durch eine fortgeschrittene Varusgonarthrose und posttraumatische Sprunggelenksarthrose rechts nach Sprunggelenksluxationsfraktur mit posttraumatischem Infekt erheblich eingeschränkt. Die Klägerin sei nicht mehr in der Lage, mindestens 2 Kilometer zu Fuß in etwa 30 Minuten zurückzulegen.

Die Fachärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten Dr. B. hat am 27. August 2013 mitgeteilt, dass im Hinblick auf das Hand- und rezidivierende Analekzem unter dauerhafter Basistherapie ein recht stabiler Befund vorliege. Den GdB schätze sie auf 10.

Dr. Z., Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, hat am 17. September 2013 erklärt, dass bei der Klägerin eine Läsion des Nervus peroneus superficialis rechts und ein Z.n. bimalleolärer Sprunggelenksfraktur rechts diagnostiziert worden seien. Die rein sensible, aber nicht motorische Störung im Versorgungsgebiet des N. peroneus rechts begründe lediglich einen GdB von 10.

Der Internist und Kardiologe Dr. S. hat mit Schreiben vom 13. September 2013 angegeben, er behandle die Klägerin seit Januar 2013 wegen einer arteriellen Hypertonie und eines Z.n. Malleolarfraktur rechts. Der Blutdruck sei unter der bisherigen Medikation noch nicht optimal eingestellt gewesen. Zudem leide die Klägerin unter Hyperlipoproterinämie und Adipositas.

Der Augenarzt Prof. Dr. N. hat mit Schreiben vom 16. September 2013 angegeben, das korrigierte Sehvermögen der Klägerin bei Z.n. Kataraktoperation mit Linsenimplantation links hänge davon ab, ob gerade ein Makulaödem bestehe oder nicht. Die Sehschärfe des linken Auges schwanke je nach Ausprägung des Ödems zwischen 0,3 und 0,6. Daraus ergebe sich ein GdB von 0 bis 10. Die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr sei nicht erheblich beeinträchtigt.

Der die Klägerin seit 2001 behandelnde Internist und Rheumatologe Dr. M. hat am 14. Oktober 2013 folgende Diagnosen angegeben: Z.n. Venenastthrombose, derzeit kein sicherer Beleg für das Vorliegen eines Antiphospholipid-Syndroms; Fibromyalgiesyndrom; Reizblase mit Mikrohämaturie - weitere fachärztliche Abklärung erforderlich; anamnestisch irritables Kolon; vorbekannt Rhizarthrose; Hyperurikämie mit Kristallurie; anamnestisch bekanntes allergisches Asthma; Myogelosen; Analfissuren; anamnestisch Morbus Meniere: gastroösophageale Refluxkrankheit; arterielle Hypertonie. Auf internistisch-rheumatologischem Fachgebiet liege aufgrund der mittelgradigen, seit 2001 andauernden Beschwerden und der therapeutisch ungenügend beeinflussbaren Krank¬heitsaktivität des Fibromyalgie-Syndroms ein GdB von 50 vor. Die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr sei nicht erheblich eingeschränkt.

Zu dem Ergebnis dieser Zeugenvernehmungen hat der Beklagte eine versorgungsärztliche Stellungnahmen von Dr. G. vorgelegt, es ergebe sich auch nach den Aussagen der behandelnden Ärzte kein höherer GdB als 70. Bei dem in der früheren versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 15. Juli 2012 dokumentierten Teil-GdB von 60 für die Ohrgeräusche und die Schwindelbeschwerden handle es sich offenbar um einen Übertragungsfehler. Es lägen keine Befunde vor, die eine solch hohe Bewertung allein für die Ohrgeräusche und den Schwindel begründen könnten. Die Auswertung des Sprachaudiogrammes vom 30. Augst 2012 ergebe einen GdB von 30. Wesentliche Beeinträchtigungen durch Ohrgeräusche oder Schwindelbeschwerden habe Dr. R. nicht mitgeteilt.

Daraufhin hat das SG Dr. K. mit der Erstattung eines fachorthopädischen Gutachtens beauftragt. Das gegen ihn gestellte Ablehnungsgesuch hat das SG mit Beschluss vom 3. Februar 2014 zurückgewiesen. Die Klägerin hat die von Dr. K. angebotenen Untersuchungstermine nicht wahrgenommen. Der daraufhin anberaumte Termin zur mündlichen Verhandlung ist aufgehoben worden, nachdem die Klägerin die Begutachtung durch einen Wahlarzt beantragt hat.

Auf Grund dieses Antrags hat der Facharzt für Orthopädie Dr. R. das Gutachten vom 10. Dezember 2014 erstellt. Auf Grund der persönlichen Untersuchung der Klägerin hat der Sachverständige folgende Diagnosen gestellt: chronisch-degeneratives Wirbelsäulensyndrom in drei Abschnitten mittelgradiger bis stärkerer Ausprägung mit häufigen und teilweise lange anhaltenden Schmerzsyndromen bei ausgeprägten Bandscheibendegenerationen multietager, Spinalkanalstenose der HWS, Bandscheibenvorfälle an der Halswirbelsäule (HWS) in den Segmenten C3 bis C6, der Brustwirbelsäule (BWS) bei Th 8/9 und Th 9/10 sowie der Lendenwirbelsäule (LWS) in den Segmenten L2/3 und L4/5; Z. n. Schulterarthroskopie rechts mit knöcherner Dekompression und Rekonstruktion der Supraspinatussehne bei leichten Funktionsminderungen; Epicondylitis humeri radialis beidseits; V.a. Karpaltunnelsyndrom links; Hand¬gelenks- und Handwurzelarthrose beidseits mit regelrechter Funktion; schwere Daumensattelgelenksarthrose mit verminderter Funktion beidseits; Fingerpolyarthrose mit leichten Funktionsminderungen; Coxarthralgie beidseits ohne nennenswerte Funktionsminderung; Gonarthralgie beidseits bei leichten Knorpel- und innenseitigen Weichteilschäden (Meniskus) Grad II ohne Funktionsminderung; schwere Arthrose und Funktionseinschränkung in der Sprunggelenks- und Fußregion rechts nach komplexer Luxationsfraktur mit 4-maliger operativer Revision, trophischen Schäden, starker Berührungsempfindlichkeit und Nervenläsion mit dauerhaftem Belastungs- und Ruheschmerz; Hallux valgus beidseits; Hallux rigidus rechts; Tarsaltunnelsyndrom rechts sowie Fibromyalgie. Für die Wirbelsäulenbeeinträchtigungen hat Dr. R. einen Teil-GdB von 30 vorgeschlagen, für die Einschränkungen an der Hand einen Teil-GdB von 20, für die Beeinträchtigungen am Sprunggelenk und der Fußregion einen Teil-GdB von 30 und für den Hallux rigidus rechts einen Teil-GdB von 10 an. Die übrigen Gesundheitsbeeinträchtigungen bedingten keinen Einzel-GdB von wenigstens 10. Im Hinblick auf das Merkzeichen "G" hat der Sachverständige ausgeführt, dass die Klägerin einen Spaziergang auf weichem, ebenem Boden mit einer Gehzeit von 30 Minuten beschrieben habe, dann habe sie Schmerzen und müsse umkehren. Sie lege diesen Weg wieder selbstständig zurück, habe dabei aber Schmerzen. Eine konkrete Streckenangabe habe die Klägerin nicht getätigt. Im Rahmen der Untersuchung habe sie mit einem leicht kleinschrittigen, leicht verlangsamten Gang den Weg (etwa 18 m) in leicht vermehrter Zeit zurückgelegt (z. B. im Vergleich zu ihm bzw. der Helferin). Auch bei der Fortbewegung zu und auf dem Parkplatz habe sich das gleiche Gangbild wie beschrieben gezeigt. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin die geforderte Wegstrecke zurücklegen könne, jedoch sei dies mit Schmerzen verbunden. Die geforderten 2 km in 30 Minuten seien die längste zumutbare Strecke.

Mit Schriftsatz vom 3. Juni 2015 hat die Klägerin unter anderem die Verordnung einer Hörhilfe durch Dr. N. mit einem Ton- und Sprachaudiogramm vom 18. Dezember 2013 vorgelegt.

Mit Urteil auf Grund mündlicher Verhandlung vom 9. Juli 2015 hat das SG die Klage mit der Begründung abgewiesen die geltend gemachten Ansprüche auf Zuerkennung eines höheren GdB als 70 und des Merkzeichens "G" beständen nicht. Die Teil-GdB-Werte von 30 für das Wirbelsäulenleiden, 20 für Hände und Finger, 20 bis 30 für die Beeinträchtigung am Fuß und von 40 für die Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen führten zu dem anerkannten Gesamt-GdB von 70. Die weiteren Beeinträchtigungen bedingten keine GdB-Werte, die den Gesamt-GdB erhöhen könnten. Die bei der Klägerin bestehende Einschränkung des Gehvermögens sei nicht erheblich.

Gegen dieses Urteil, das ihrem Prozessbevollmächtigten am 17. August 2015 zugestellt worden ist, hat die Klägerin am 19. August 2015 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Würt¬tem¬berg eingelegt. Eine Begründung ist zunächst nicht erfolgt, weswegen der Senat mit Schreiben vom 28. Dezember 2015 unter Hinweisen zur Sach- und Rechtslage Frist nach § 106a Abs. 1 Sozialgerichtgesetz (SGG) bis zum 31. Januar 2016 gesetzt hat. Daraufhin hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 29. Januar 2016 vorgetragen, bereits die anerkannten Teil-GdB-Werte müssten zu einem höheren Gesamt-GdB führen. Insbesondere die Beeinträchtigungen der unteren Gliedmaßen müssten nach den Feststellungen Dr. R.s höher bewertet werden. Bei der Beurteilung des Gehvermögens sei auch die erhebliche Adipositas der Klägerin zu berücksichtigen. Insoweit sei auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24. April 2008 (B 9/9a SB 7/06 R) hinzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 9. Juli 2015 und den Bescheid vom 18. Juli 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Februar 2013 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Bescheid vom 2. Dezember 2009 abzuändern und festzustellen, dass bei ihr ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" vorliegen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat den Beteiligten am 15. Februar 2016 mitgeteilt, dass eine Entscheidung durch Beschluss ohne Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter beabsichtigt sei, und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 14. März 2016 gegeben. Es sind keine Reaktionen erfolgt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten (4 Bände) Bezug genommen.

II.

Der Senat konnte über die Berufung nach § 153 Abs. 4 Satz 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entscheiden da er die Berufung einstimmig für unbegründet hält und der Rechtsstreit keine besonderen Schwierigkeiten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht aufweist, die in einer mündlichen Verhandlung erörtert werden müssten. Die Beteiligten sind zu dieser Verfahrensweise gehört worden.

Die Berufung ist nach § 143 SGG statthaft, insbesondere war sie nicht nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulassungsbedürftig, weil die Klägerin keine Geld-, Sach- oder Dienstleistung im Sinne dieser Vorschrift begehrt, sondern behördliche Feststellungen.

Die Berufung ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben. Sie ist jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) in der Sache abgewiesen. Der angefochtene Bescheid vom 18. Juli 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Februar 2013 (vgl. § 95 SGG) ist rechtmäßig und beschwert die Klägerin nicht (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG), weil es der Beklagte zu Recht abgelehnt hat, unter teilweiser Rücknahme des Bescheids vom 2. Dezember 2008 einen höheren Grad der Behinderung als 70 sowie die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festzustellen.

§ 48 Abs. 1 Zehntes Buch des Sozialgesetzbuches (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Eine wesentliche Änderung ist dann anzunehmen, wenn nunmehr die Voraussetzungen eines Merkzeichens vorliegen und/oder sich durch eine Besserung oder Verschlechterung der bereits festgestellten Behinderung eine Herabsetzung oder Erhöhung des Gesamt-GdB um mindestens 10 ergibt, nicht jedoch bereits bei einer Veränderung eines Teil-GdB beim Vorliegen mehrerer Teil-Behinderungen. Ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist, muss durch einen Vergleich der für die Entscheidung maßgeblichen Verhältnisse mit dem verbindlich festgestellten objektiven Behinderungszustand zum Zeitpunkt der früheren Entscheidung - hier der Bescheid vom 9. Dezember 2009 - ermittelt werden.

Der Anwendung des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X steht insbesondere nicht der beim SG am 19. November 2009 geschlossene Vergleich entgegen. Denn der Vergleich kann nur den Streitgegenstand regeln, der ihm durch den Lebenssachverhalt, also hier die Funktionseinschränkungen zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses, das heißt den gegenwärtigen Gesundheitszustand, vorgegeben wird. Daraus folgt gerade im Sozialrecht der beschränkte Regelungscharakter eines solchen Vergleichs. Durch den Vergleich soll lediglich eine Rücknahme nach § 45 SGB X (so auch Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 10. Auflage 2012, § 101 Rz. 15a; Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 01.09.1999 - L 8 U 23/99 - NZS 2000, 259) beziehungsweise eine Überprüfung nach § 44 SGB X ausgeschlossen werden (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 09.06.2011 - L 10 R 3494/08 - juris), nicht aber eine Neufeststellung nach § 48 SGB X. Wenn sich nämlich der medizinische Lebenssachverhalt - wie häufig - wesentlich ändert, ist der Beklagte sogar nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X verpflichtet, dies mit Wirkung für die Zukunft zu berücksichtigen. Wollten sich die Vertragspartner dieser rechtlichen Verpflichtung begaben, so müsste demzufolge aufgrund des Regel-Ausnahme-Verhältnisses sogar eine entsprechende Klausel in den Vergleich aufgenommen werden, dass keine Abänderung nach § 48 SGB X, sondern nur die Vertragsanpassung nach § 59 SGB X möglich ist, wobei dann weiter zu prüfen wäre, ob die Vertragsparteien überhaupt gesetzliche Pflichten in einem Vergleich abbedingen können. Dem steht nämlich aus Sicht des Senats bereits die Vorschrift des § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB X entgegen, wonach die Behörde nur anstatt eines ansonsten zu erlassenden Verwaltungsakts einen öffentlich-rechtlichen Vertrag schließen kann. Die Behörde darf daher im Vertrag nicht mehr regeln, als ihr an Verwaltungsaktsbefugnis zukommt. Durch Verwaltungsakt kann sie aber nicht die Anwendbarkeit des § 48 SGB X ausschließen. Es wird daher zumindest in einem Vergleich in den üblichen durch Verwaltungsakt geregelten Materien - wie vorliegend bei der Feststellung weiterer Schädigungsfolgen und der Höhe der Beschädigtengrundrente - konkludent die Anwendung des eine Anpassung eines Vergleichsvertrages regelnden § 59 SGB X abbedungen, wenn - wie vorliegend - nichts dafür spricht, dass der Einigung eine höhere Bestandskraft zukommen soll (Steinwedel in Kasseler Kommentar, SGB X, § 48 Rz. 12). Das entspricht auch dem Regelungswillen der Parteien, die nämlich nur eine Einigung über den gegenwärtigen Gesundheitszustand erzielen, aber keine Regelung für die Zukunft treffen und sich insbesondere nicht des Rechts begeben wollen, auf Änderungen durch Herabsetzung oder - wie vorliegend - durch Neufeststellungsantrag zu reagieren. Wenn man dem Vergleich die Bedeutung zumessen wollte, dass sich seine Abänderung nur nach § 59 SGB X richten könnte, hätte das aber zur Folge, dass jeder Neufeststellungsantrag ausgeschlossen wäre und die Parteien ohne die Filterfunktion des Verwaltungsverfahrens eine gerichtliche Klärung der Anpassung und Kündigung vornehmen müssten, was überdies auf besondere Fälle beschränkt wäre und im Ermessen stünde. Das widerspräche auch der jahrzehntelangen Praxis in der Sozialgerichtsbarkeit (vgl. im Einzelnen Urteile des Senats vom 24. Oktober 2013 - L 6 SB 5459/11 - juris - sowie vom 29. April 2014 – L 6 VK 934/12 –, Rn. 20, juris).

Gemäß § 69 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung auf Antrag des behinderten Menschen fest. Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach § 69 Abs. 1 S. 3 SGB IX sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung (GdB) nach Zehnergraden abgestuft festzustellen. Die im Rahmen des § 30 Abs. 1 des BVG geltenden Maßstäbe gelten entsprechend. Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt. Liegen nach § 69 Abs. 3 SGB IX mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Der GdB ist entsprechend der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zu ermitteln, die seit 1. Januar 2009 in Kraft ist. Im Einzelnen gelten insoweit die auf die früheren Anhaltspunkte für die Ärztliche Begutachtung (AHP) zurückgehenden Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG) in der Anlage zu § 2 der VersMedV. Der im Bereich des BVG geltende Grad der Schädigungsfolgen (GdS) und der im Bereich des SGB IX zu ermittelnde Grad der Behinderung (GdB) werden nach gleichen Grundsätzen bemessen; Teil A Ziff. 2 a) VG.

Ferner ist zu beachten, dass bei einer rechtsverbindlichen Entscheidung über den GdB grundsätzlich allein der Gesamtwert, der im Verfügungssatz des Bescheides festgestellt worden ist, bindend wird, nicht dagegen die für die Bildung dieses Gesamt-GdB herangezogenen Einzelwerte für die verschiedenen Behinderungen (BSG - SozR 3100, § 62 BVG Nr. 21). Der Teil-GdB ist keiner eigenen Feststellung zugänglich, weil er nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsakts erscheint und nicht isoliert anfechtbar ist (BSG, SozR 3-3870 § 4 Nr. 5). Der Gesamt-GdB ist in freier richterlicher Beweiswürdigung aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten sowie der Anhaltspunkte (BSGE 62, 209, 213 = SozR 3870 § 3 Nr. 26) bzw. ab 1. Januar 2009 auf Basis der VG, Teil A Ziff. 3, zu bilden. Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so sind zwar Teil-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Bei der Gesamtwürdigung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen sind unter Berücksichtigung aller sozialmedizinischen Erfahrungen Vergleiche mit Gesundheitsschäden anzustellen, zu denen in der Tabelle feste GdB-Werte angegeben sind. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Teil-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird; ein Teil-GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung und auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.

Nach diesen Grundsätzen kann bei der Klägerin ein höherer GdB als 70 auch zur Überzeugung des Senats nicht festgestellt werden. In den gesundheitlichen Verhältnissen der Klägerin ist zeitlich nach Erteilung des Bescheides vom 2. Dezember 2009 keine wesentliche Verschlechterung eingetreten. Der Senat folgert dies wie schon das SG aus dem Gesamtergebnis der Ermittlungen und der Beweisaufnahme und den sachverständigen Zeugenaussagen. Ergänzend stützt sich der Senat auf die Feststellungen und Schlussfolgerungen des Wahlgutachters Dr. R ...

Für das Wirbelsäulenleiden ist ein Teil-GdB von 30 angemessen.

Teil B Nr. 18.9 VG sieht für Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformungen, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz andauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) einen Teil-GdB von 10, für Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkungen oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) einen Teil-GdB von 20, für schwere Wirbelsäulenschäden mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) einen Teil-GdB von 30 sowie für mittelgradige bis schwere funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten einen Teil-GdB von 30 bis 40 vor. Bei besonders schweren Auswirkungen (z.B. Versteifung großer Teile der Wirbelsäule, anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst (z.B. Milwaukee-Korsett); schwere Skoliose (ab ca. 70° nach Cobb)) ist ein Teil-GdB von 50 bis 70 anzunehmen.

Gemessen an diesen Vorgaben liegen bei der Klägerin nach den Aussagen der behandelnden Ärzte und auch nach den Feststellungen Dr. R.s lediglich in zwei Abschnitten, nämlich der HWS und der LWS, mittelgradige Funktionseinbußen vor, während die Beeinträchtigungen an der BWS noch als leicht eingestuft werden können. Die Beschwerden an der HWS beruhen auf der dort bestehenden Spinalkanalstenose und Band¬scheibenvorfällen zwischen den Segmenten C3 bis C6. Bei der Exploration durch Dr. R. zeigte sich in diesem Bereich ein deutlicher Schultertiefstand, ein ungleiches Muskelrelief der Schulter- und Rückenmuskulatur. Direkt an der HWS bestand ein leichter Druck- und Klopfschmerz über der Dornfortsatzreihe. Die paravertebrale Muskulatur dort war mittelgradig verhärtet und verspannt im Sinne von Myogolosen. Die HWS war hinsichtlich der Seitneigung mit 30-0-20° eingeschränkt. Die Extension und Flexion von 45-0-30° sowie die Drehung (Rotation) mit 65-0-75° lagen dagegen unter Berücksichtigung des Alters der Klägerin im Normbereich. Im Hinblick auf die BWS und LWS zeigte sich ein Klopfschmerz über der Domfortsatzreihe sowie ein deutlicher Lendenwulst. Der Finger-Boden-Abstand war mit 12 cm altersentsprechend gut. Die Zeichen nach Schober und Ott für die Entfaltbarkeit der Rumpfwirbelsäule mit 11/11,5 cm und 30/31,5 cm sowie die Seitneigung bzw. Rotation der LWS mit 15-0-20° und 25-0:20° waren eingeschränkt. Diese Messwerte entsprechen den Aussagen der behandelnden Orthopädin Dr. G., welche die Rotationseinschränkung an der HWS in den Vordergrund ihrer Aussage gerückt und mitgeteilt hat, die Tätigkeiten des Alltags könnten - allerdings unter Schmerzen und unter Ausschluss von Über-Kopf-Arbeiten - durchgeführt werden. Der Senat berücksichtigt hierbei auch, dass die Klägerin keine eigentliche (medikamentöse) Schmerzbehandlung durchführt, sondern bedarfsorientiert Schmerzsalben anwendet.

Vor diesem Hintergrund können schwere funktionelle Auswirkungen in mindestens 2 Wirbelsäulenabschnitten, für die ein Teil-GdB von 40 gerechtfertigt wäre, nicht bejaht werden.

Die Beeinträchtigungen der Hände und der Finger bedingen allenfalls einen Teil-GdB von 20, der sich vorliegend nicht Gesamt-GdB erhöhend auswirkt. Nach Teil B Nr. 18.13 VG ist für eine Bewegungseinschränkung des Handgelenks geringen Grades (z.B. Streckung/ Beugung bis 30-0-40°) ein Teil-GdB von 0 - 10, für eine Bewegungseinschränkung des Handgelenks stärkeren Grades ein Teil-GdB von 20 - 30 angemessen. Eine Versteifung des Daumengelenks in günstiger Stellung bedingt einen Teil-GdB von 0 bis 10, eine Versteifung beider Daumengelenke und des Mittelhandwurzelgelenkes in günstiger Stellung einen Teil-GdB von 20. Bei der Klägerin bestehen eine Handgelenksarthrose und Handwurzelarthrose beidseits, eine schwere Daumensattelgelenksarthrose beidseits sowie eine Fingerpolyarthrose. Im Hinblick auf die Handgelenke konnte auch Dr. R. keine nennenswerten Bewegungs- und Funktionseinschränkungen feststellen. Heben und Senken sowie die ellenseitige und speichenseitige Beweglichkeit waren frei. Die Daumensattelgelenke waren dagegen eingeschränkt mit einer Beweglichkeit hohlhandwärts rechts/links von 50° und 45° sowie einer Beweglichkeit speichenseitig rechts/links von 45° und 40°. Die Beweglichkeit im Grundgelenk betrug rechts/links 0-0-25° und 0-0-40°. Allein die Funktionsmaße würden lediglich einen Teil-GdB von 10 ergeben. Unter Berücksichtigung der Schmerzen und wohlwollender Bewertung kann insoweit ein Teil-GdB von 20 angenommen werden. Dies entspricht im Übrigen auch der Einschätzung des Wahlgutachters Dr. R ...

Die Beeinträchtigung am Fuß rechtfertigt einen Teil-GdB von 20 bis 30. Nach Teil B Nr. 18.14 VG ist für eine Versteifung des oberen Sprunggelenks in günstiger Stellung (Plantarflexion um 5° bis 15°) ein GdB von 20, für eine Versteifung des unteren Sprunggelenks in günstiger Stellung (Mittelstellung) ein Teil-GdB von 10, für eine Versteifung des oberen und unteren Sprunggelenks in günstiger Stellung ein Teil-GdB von 30, in ungünstiger Stellung ein Teil-GdB von 40, für eine Bewegungseinschränkung im oberen Sprunggelenk geringen Grades ein Teil-GdB von 0, mittleren Grades (Heben/Senken 0-0-30°) ein Teil-GdB von 10, stärkeren Grades ein Teil-GdB von 20 sowie für eine Bewegungseinschränkung im unteren Sprunggelenk ein Teil-GdB von 0 bis 10 angemessen. Die Klägerin leidet an einer schweren Arthrose sowie einer Funktionseinschränkung der Sprunggelenk- und Fußregion rechts nach komplexer Luxationsfraktur mit 4-maliger operativer Revision, trophischen Schäden, starker Berührungsempfindlichkeit und Nervenläsion mit dauerhaftem Belastungs- und Ruheschmerz. Zuletzt bei der Untersuchung durch Dr. R. fand sich eine deutliche Funktionsminderung bei Heben/Senken rechts (10-0-20°) und Eversion/Inversion rechts (15-0-10°), welche einen Teil-GdB von 20 bedingen. Unter Berücksichtigung der entzündlichen Weichteilveränderung, der schweren Arthrose und "bekannter Knocheninfarkte" im Bereich der körperfernen Tibia kann hierfür ein Teil-GdB von 30 zugrunde gelegt werden. Die Großzehe rechts war klinisch wackelfrei, so dass nur eine passive Beweglichkeit bestand. Da nicht von einer tatsächlichen bzw. gebrauchsfähigen Beweglichkeit auszugehen ist, ist hierfür ein Teil-GdB von 10 befundgerecht.

Weitere auf orthopädischem Fachgebiet bestehende Funktionseinschränkungen, die mindestens einen Teil-GdB von 10 bedingen, sind nicht nachgewiesen. Im Bereich der Schultergelenke fand sich rechts eine sehr gute Beweglichkeit, links eine eingeschränkte Beweglichkeit bei der Vorneigung bis 110° und beim Abspreizen bis 115°, bei allerdings freier passiver Beweglichkeit mit Ausnahme der Außenrotation, so dass nach Teil B Nr. 18.13 der VG kein Teil-GdB von wenigstens 10 besteht. Im Bereich der Ellenbogen zeigten sich ebenfalls keine nennenswerten Muskelatrophien bzw. Funktionsminderungen. Auch im Hinblick auf das Karpaltunnelsyndrom, die Knie- und Hüftgelenke liegen keine nachweisbaren relevanten Funktionsminderungen vor.

Des Weiteren hat der Beklagte die Schwerhörigkeit beidseitig mit Ohrgeräuschen zutreffend mit einem Teil-GdB von 40 bewertet. Maßgebend für die Bewertung des GdB bei Hörstörungen ist die Herabsetzung des Sprachgehörs, deren Umfang durch Prüfung ohne Hörhilfen zu bestimmen ist. Der Beurteilung ist die von der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie empfohlene Tabelle zugrunde zu legen. Nach Durchführung eines Ton- und Sprachaudiogramms ist der Prozentsatz des Hörverlustes aus entsprechenden Tabellen abzuleiten. Die in der GdB-Tabelle enthaltenen Werte zur Schwerhörigkeit berücksichtigen die Möglichkeit eines Teilausgleichs durch Hörhilfen mit. Sind mit der Hörstörung andere Erscheinungen verbunden, z. B. Ohrgeräusche, Gleichgewichtsstörungen, Artikulationsstörungen oder außergewöhnliche Psychoreaktive Störungen, so kann der GdB entsprechend höher bewertet werden (vgl. Teil B Nr. 5 VG). Ohrgeräusche (Tinnitus) ohne nennenswerte psychische Begleiterscheinungen werden mit einem GdB von 0 bis 10, mit erheblichen psychovegetativen Begleiterscheinungen mit einem GdB von 20, mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägte depressive Störungen) mit einem GdB von 30 bis 40 und mit schweren psychischen Störungen und sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdB von mindestens 50 bewertet (Teil B Nr. 5.3 VG). Der HNO-Arzt Dr. R. hat in seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 26. August 2013 auch für den Senat stimmig dargelegt, dass allein die Hörstörung bereits mit einem GdB von 30 zu bewerten ist. Ausweislich des Tonaudiogramms vom 30. August 2013 bestand rechts eine Hörminderung von 46 % und links von 53 %. Hierzu korreliert auch das Sprachaudiogramm. Auch das Ton- und Sprachaudiogramm vom 18. Dezember 2013, das die Klägerin im Jahre 2015 erneut vorgelegt hat, belegt keine GdB-relevante Verschlechterung. Wesentliche Beeinträchtigungen durch Ohrgeräusche oder Schwindelbeschwerden werden von Dr. R. nicht mitgeteilt. Der von dem Beklagten bisher angenommene Teil-GdB von 40 ist somit nach wie vor ausreichend hoch bemessen.

Der Zustand nach Linsenimplantation bei schwankender Sehschärfe des linken Auges von 0,3 bis 0,6 je nach Ausprägung des Makulaödems bedingt nach Teil B Nr. 4.2 VG einen Teil-GdB von 10.

Die Beschwerden aufgrund des gastroösophagealen Reflux sowie aufgrund des Hand- und Analekzems bei recht stabilem Befund unter dauerhafter Basistherapie rechtfertigen einen Teil-GdB von jeweils 10.

Weitere einen Teil-GdB von wenigstens 10 bedingende Funktionsstörungen bestehen bei der Klägerin nicht. Der Blutdruck ist unter der bisherigen Medikation lediglich noch nicht optimal eingestellt gewesen, aber grundsätzlich einstellbar. Die exacerbierte obstruktive Atemwegserkrankung erfordert lediglich eine bedarfsweise Betamimetikainhalationen mit einem Kombinationspräparat. Im Hinblick auf das Fibromyalgiesyndrom fand seit 2012 lediglich eine einmalige Vorstellung bei Dr. M. statt. Eine psychische Erkrankung, etwa aus dem depressiven Formenkreis, kann bei der Klägerin ebenfalls nicht angenommen werden; jedenfalls bestehen insoweit angesichts des geregelten Tagesablaufs, der weiter vorhandenen sozialen Einbindung durch Partner und Familie sowie z.B. durch die mehrmonatigen Urlaube in Zypern keine nennenswerten Funktionseinbußen.

In der Gesamtschau sind die Leiden der Klägerin mit einem Gesamt-GdB von 70 weiterhin befundgerecht bemessen (Teil A Nr. 3 VG).

Es liegen auch nicht die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" vor.

Ob der Klägerin ein Anspruch auf die Zuerkennung dieses Merkzeichens zusteht, bestimmt sich nach §§ 145 Abs. 1 S 1, 146 Abs. 1 S 1 i.V.m. § 69 Abs. 1 und 4 SGB IX, zuletzt geändert durch Art. 1a des am 15. Januar 2015 in Kraft getretenen Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates über einen Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung und zur Aufhebung des Beschlusses 2003/174/EG vom 7. Januar 2015 (BGBl II S. 15).

Danach haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr i.S. des § 147 Abs. 1 SGB IX. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX). In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden (§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX).

Im Übrigen gelten auch für die Feststellung der Voraussetzungen dieses Merkzeichens die Vorgaben der VG. Die Bedenken, die zwischenzeitlich gegen die Wirksamkeit der entsprechenden Regelungen in der VersMedV erhoben worden waren, weil insoweit keine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für eine Regelung durch den Verordnungsgeber bestand (vgl. Urteile des Senats vom 9. Juni 2011 - L 6 SB 6140/09 - und vom 4. November 2010 - L 6 SB 2556/09; jeweils juris) sind inzwischen durch das genannten Gesetz vom 7. Januar 2015 ausgeräumt. Hierdurch wurde der § 159 Abs. 7 SGB IX neu in das SGB IX eingefügt. Danach gelten, soweit noch keine Verordnung nach § 70 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend. Hierdurch konnte zwar nicht die bezüglich der in den VG enthaltenen Regelungen zu den Merkzeichen "G", "B", "aG" und "Gl" teilunwirksame VersMedV neu erlassen oder als Verordnung für anwendbar erklärt werden, da es insoweit schon an der Zuständigkeit des Gesetzgebers hinsichtlich einer vom BMAS zu erlassenden Verordnung fehlt. Mit noch hinreichend bestimmtem Gesetzeswortlaut (vgl. zum rechtsstaatlichen Grundsatz der Normklarheit BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 3. September 2014 - 1 BvR 3353/13 -, juris) hat der Gesetzgeber jedoch mit der in § 159 Abs. 7 SGB IX getroffenen Regelung zum Ausdruck gebracht, dass er sich den insoweit maßgeblichen Verordnungstext in der Anlage zu § 2 VersMedV, mithin die unter VG, Teil D, Nrn. 1 bis 4 getroffenen Bestimmungen, zu eigen macht und bis zum In-Kraft-Treten der neuen Verordnung nach § 70 Abs. 2 SGB IX insoweit die VG Gesetzescharakter haben (vgl. BT-Drucks 18/3190, S. 5, vgl. hierzu auch BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 1/14 R -, juris).

Bei der Prüfung der Frage, ob die in § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX genannten Voraussetzungen vorliegen, ist nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles abzustellen, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein, also altersunabhängig von Menschen ohne Behinderung, noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Teil D Nr. 1 Buchst. b VG). Die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens sind als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, etwa bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40. Auch bei inneren Leiden kommt es bei der Beurteilung entscheidend auf die Einschränkung des Gehvermögens an. Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor allem bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 und bei Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades anzunehmen. Auch bei anderen inneren Leiden mit einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit, etwa chronische Niereninsuffizienz mit ausgeprägter Anämie, sind die Voraussetzungen als erfüllt anzusehen (Teil D Nr. 1 Buchst. d VG). Störungen der Orientierungsfähigkeit, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führen, sind bei allen Sehbehinderungen mit einem GdB von wenigstens 70 und bei Sehbehinderungen, die einen GdB von 50 oder 60 bedingen, nur in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit beiderseits, geistige Behinderung) anzunehmen. Bei Hörbehinderungen ist die Annahme solcher Störungen nur bei Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit im Kindesalter (in der Regel bis zum 16. Lebensjahr) oder im Erwachsenenalter bei diesen Hörstörungen in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (z. B. Sehbehinderung, geistige Behinderung) gerechtfertigt. Bei geistig behinderten Menschen sind entsprechende Störungen der Orientierungsfähigkeit vorauszusetzen, wenn die behinderten Menschen sich im Straßenverkehr auf Wegen, die sie nicht täglich benutzen, nur schwer zurechtfinden können. Unter diesen Umständen ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit bei geistigen Behinderungen mit einem GdB von 100 immer und mit einem GdB von 80 oder 90 in den meisten Fällen zu bejahen. Bei einem GdB unter 80 kommt eine solche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit nur in besonders gelagerten Einzelfällen in Betracht (Teil D, Nr. 1 Buchst. f VG).

Ob die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist, ist Gegenstand tatrichterlicher Würdigung, die sich auf alle verfügbaren Beweismittel, wie Befundberichte der behandelnden Ärzte, Sachverständigengutachten oder einen dem Gericht persönlich vermittelten Eindruck, stützen kann (BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 2/14 R -, juris).

Nach diesen Maßstäben liegt bei der Klägerin keine ausreichende erhebliche Einschränkung der Bewegungsfähigkeit vor. Die bei ihr bestehenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßnahmen und/oder der Lendenwirbelsäule bedingen keinen Teil-GdB von 50. Darüber hinaus sind auch keine Behinderungen nachgewiesen, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken wie z.B. eine Versteifung des Hüft-, Knie- oder Fußgelenkes oder eine arterielle Verschlusskrankheit, die einen GdB von 40 bedingt. Die Klägerin leidet auch nicht an Herzschäden oder Lungenschäden, bei denen ein Teil-GdB von mindestens 50 anzunehmen ist. Ebenso wenig bestehen andere innere Leiden mit einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit oder eine Orientierungsstörung. Auch eine Gehbehinderung mit dem genannten Ausmaß auf Grund der Schmerzproblematik bzw. Fibromyalgie konnte nicht festgestellt werden. Nach den Angaben der Zeugen über die Besuche der Klägerin in den Arztpraxen, aber auch nach den Aussagen Dr. R.s ist davon auszugehen, dass sie noch eine Gehstrecke von mindestens 2 km in etwa 30 min zurückzulegen vermag. Von Gehstrecken dieses Umfangs hat die Klägerin bei der Begutachtung selbst berichtet. Außerdem hat Dr. R. ihr Gehvermögen, wie sie es bei der Begutachtung demonstriert hat, berücksichtigt und danach die Einschätzung bestätigt gefunden, dass die genannte Gehstrecke zurückgelegt werden kann, wenn auch unter gewissen Schmerzen.

An dieser Beurteilung ändert auch der Hinweis der Klägerin auf ihre erhebliche Adipositas nichts. Es trifft zwar ihre Rechtsansicht zu, dass auch ein solches Übergewicht zu den Faktoren gehört, die Bezug zu einer Behinderung haben und daher bei der Beurteilung des Gehvermögens nach § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX berücksichtigt werden müssen (BSG, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1, Rn. 14). Bei der Klägerin liegen jedoch keine Umstände vor, die insoweit zu berücksichtigen wären. Dr. R. hat das Gehvermögen der Klägerin unter Einbeziehung der Adipositas überprüft und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass die geforderte Gehstrecke noch möglich und zumutbar ist.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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