L 7 SO 420/17 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 4 SO 120/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 420/17 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Ein Anordnungsgrund besteht nicht, wenn der Antragsteller jedenfalls gegenwärtig auf eigene Mittel oder zumutbare Hilfe Dritter zurückgreifen kann, etwa zur Vorfinanzierung. Zumutbare Hilfe Dritter kann auch in der Beschaffung eines Darlehens zum Zwecke der Vorfinanzierung bestehen.
2. Bei der Frage des Anordnungsgrundes können auch Mittel Berücksichtigung finden, die bei der materiellen Frage der Hilfebedürftigkeit außen vor bleiben müssen, weil es sich um Schonvermögen oder nicht zu berücksichtigendes Einkommen handelt oder weil es sich generell nicht um eine bedarfsabhängige Leistung handelt.
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 20. Januar 2017 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

1. Die Beschwerde der Antragstellerin ist gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt worden und auch im Übrigen zulässig.

2. Die Beschwerde der 2011 geborenen und insbesondere unter einer frühkindlichen Autismusstörung und unter kombinierten Entwicklungsstörungen leidenden Antragstellerin, mit der sie die Verpflichtung des Antragsgegners begehrt, vorläufig Eingliederungshilfe in Form der autismusspezifischen Therapie "nach ABA" (angewandte Verhaltensanalyse) beim Anbieter Bautismus zu gewähren, ist aber unbegründet. Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Ergebnis zu Recht abgelehnt.

a) Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist Voraussetzung, dass ein dem Antragsteller zustehendes Recht oder rechtlich geschütztes Interesse vorliegen muss (Anordnungsanspruch), das ohne Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes vereitelt oder wesentlich erschwert würde, so dass dem Antragsteller schwere, unzumutbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund müssen glaubhaft gemacht sein (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Glaubhaftmachung liegt vor, wenn das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds überwiegend wahrscheinlich sind. Dabei dürfen sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss des Ersten Senats vom 13. April 2010 – 1 BvR 216/07 – juris Rdnr. 64; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 – juris Rdnr. 9). Eine Folgenabwägung ist nur ausnahmsweise zulässig, wenn eine Prüfung der materiellen Rechtslage nicht möglich ist (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. September 2016 – 1 BvR 1335/13 – juris Rdnr. 20).

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen nicht isoliert nebeneinander; es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt (vgl. Landessozialgericht [LSG] Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER – juris Rdnr. 18; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Januar 2007 – L 7 SO 5672/06 ER-B – juris Rdnr. 2). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER – juris Rdnr. 18; Hessisches LSG, Beschluss vom 5. Februar 2007 – L 9 AS 254/06 ER – juris Rdnr. 4). Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. Auch dann kann aber nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER – juris Rdnr. 18; Hessisches LSG, Beschluss vom 5. Februar 2007 – L 9 AS 254/06 ER – juris Rdnr. 4).

b) Es kann dahinstehen, ob ein Anordnungsanspruch besteht. Ein solcher ist jedenfalls nicht überwiegend wahrscheinlich. Gegen das Bestehen eines Anordnungsanspruchs spricht insbesondere die Stellungnahme der Dr. K. vom M.-P. D. des K. J. und S. Baden-Württemberg vom 12. September 2016, wonach in einer ABA-Therapie keine notwendige Hilfe zur angemessenen Schulbildung der Antragstellerin erkannt werden könne. Für die Antragstellerin seien Formen der Förderung unabdingbar, die ihrem individuellen und spezifischen Förderbedarf entsprechen, nicht aber eine operante Konditionierung wie es das Konzept der ABA-Therapie vorsehe. Die hochstrukturierte Einzelförderung nach dem ABA-Konzept widerspreche den sonderpädagogischen Ansätzen einer ganzheitlichen Förderung.

Ob dieser Einschätzung in einem Hauptsacheverfahren zu folgen ist, muss hier nicht entschieden werden. Jedenfalls steht sie der Annahme entgegen, dass ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht ist.

Entscheidend ist indes, dass jedenfalls ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht ist. Hinsichtlich des Anordnungsgrundes muss der Antragsteller darlegen, welche Nachteile zu erwarten sind, wenn er auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens verwiesen wird (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21. September 2015 – L 7 SB 48/14 B ER – juris Rdnr. 21).

aa) Ein Anordnungsgrund besteht nicht, wenn der Antragsteller jedenfalls gegenwärtig auf eigene Mittel oder zumutbare Hilfe Dritter zurückgreifen kann (LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 4. September 2014 – L 5 KR 147/14 B ER – juris Rdnr. 17; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 28. März 2011 – L 5 KR 20/11 B ER – juris Rdnr. 10), etwa zur Vorfinanzierung (LSG Thüringen, Beschluss vom 26. November 2015 – L 6 KR 1266/15 B ER – juris Rdnr. 14 f.; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 4. September 2014 – L 5 KR 147/14 B ER – juris Rdnr. 17). Dies ist auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfG, Beschluss vom 21. September 2016 – 1 BvR 1825/16 – juris Rdnr. 4; BVerfG, Beschluss vom 27. Juli 2016 – 1 BvR 1241/16 – juris Rdnr. 7). Zumutbare Hilfe Dritter kann auch in der Beschaffung eines Darlehens zum Zwecke der Vorfinanzierung bestehen.

Bei der Frage des Anordnungsgrundes können auch Mittel Berücksichtigung finden, die bei der materiellen Frage der Hilfebedürfigkeit außen vor bleiben müssen, weil es sich um Schonvermögen (§ 60a, § 90 Abs. 2 SGB XII) oder nicht zu berücksichtigendes Einkommen (§§ 85 ff. SGB XII) handelt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. März 2007 – 1 BvR 535/07 – n.v.) oder weil es sich (etwa gemäß § 92 Abs. 2 SGB XII) generell nicht um eine bedarfsabhängige Leistung handelt.

Ein Antragsteller muss substantiiert und plausibel vortragen, dass ihm solche Möglichkeiten nicht offen stehen. Trägt der Antragsteller zu seiner eigenen Einkommens- und Vermögenssituation nichts vor, ist ein Anordnungsgrund bereits deswegen nicht glaubhaft gemacht (vgl. LSG Thüringen, Beschluss vom 20. Juni 2014 – L 6 R 512/14 B ER – juris Rdnr. 26). Ein Minderjähriger kann sich nicht darauf beschränken, auf seine eigene Vermögenslosigkeit hinzuweisen; er muss vielmehr glaubhaft machen, dass auch Einkommen oder Vermögen der unterhaltspflichtigen Personen nicht hinreichend vorhanden ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. September 2016 – 1 BvR 1825/16 – juris Rn. 5; BVerfG, Beschluss vom 27. Juli 2016 – 1 BvR 1241/16 – juris Rdnr. 8).

bb) Nach diesen Maßstäben ist ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Die anwaltlich vertretene Antragstellerin hat hinsichtlich vorhandenen Vermögens trotz entsprechenden Hinweises des Senats weder zu ihren eigenen Verhältnissen noch zu denjenigen ihrer unterhaltspflichtigen Eltern Angaben gemacht, sondern hat zuletzt lediglich Lohnnachweise ihrer Eltern für Januar 2017 vorgelegt, aus denen sich ein Auszahlungsbetrag von 4.032,67 Euro für ihren Vater und von 386,12 Euro für ihre Mutter ergibt. Die Antragstellerin hat damit nicht dargelegt, dass ihr die Vorfinanzierung – ggf. auch durch Kreditaufnahme – der begehrten Leistung nicht zumindest bis zum Abschluss des Vorverfahrens oder eines erstinstanzlichen Hauptsacheverfahrens möglich wäre.

Auch aus der Akte des Antragsgegners lassen sich Angaben zu den finanziellen Verhältnissen der Antragstellerin und ihrer unterhaltsverpflichteten Eltern nicht entnehmen, wohl weil gemäß § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 SGB XII eine Einkommens- und Vermögensberücksichtigung bei der Bewilligung der bislang gewährten Eingliederungsleistungen nicht in Betracht kam. Dies steht aber – siehe oben – der Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen im Rahmen der Prüfung, ob ein Anordnungsgrund vorliegt, nicht entgegen. Deswegen kann die Antragstellerin nicht mit Erfolg darauf verweisen, dass eine "umfängliche Privilegierung der Kosten" der begehrten Leistung besteht.

Es ist auch mit Blick auf die begehrte Leistung nicht von vorneherein ausgeschlossen oder auch nur fernliegend, dass der Antragstellerin bzw. ihren unterhaltspflichtigen Eltern eine Vorfinanzierung zumindest für einen gewissen Zeitraum möglich ist. Nach dem von der Antragstellerin erstinstanzlich vorgelegten Schreiben des Gesellschafters der B.-Gesellschaft, Herrn H., vom 7. Juni 2016 betragen die Kosten für Bautismus monatlich 1.350,00 EUR (elf Abrechnungsmonate pro Jahr) zuzüglich Fahrtkosten (ab 50 km Entfernung) sowie Kosten für die Tutoren (je nach Ausbildungsgrad), insgesamt nach dem Vortrag der Antragstellerin monatlich ca. 2.000,00 EUR. Hierbei handelt es sich um einen Betrag, der bei entsprechenden Einkommens- und Vermögensverhältnissen der unterhaltspflichtigen Eltern jedenfalls vorübergehend aufzubringen zumutbar ist. Dies kann durch die allein vorgelegten Lohnnachweise der Eltern schon deswegen nicht entkräftet werden, weil sich daraus hinsichtlich des Vermögens nichts ergibt.

Ob der Verweis auf die vorübergehende Finanzierung aus eigenen Mitteln dann nicht in Betracht kommt, wenn die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes reduziert sind, weil das Vorliegen des materiellen Anspruchs feststeht, kann hier dahinstehen, da das Vorliegen des materiellen Anspruch gerade nicht feststeht und auch nicht – siehe oben – überwiegend wahrscheinlich ist.

Die Antragstellerin trüge im Übrigen selbst dann das Risiko, die Kosten der ABA-Therapie letztendlich zu tragen, wenn zu ihren Gunsten eine einstweilige Anordnung erginge. Denn würde sich die einstweilige Anordnung im Hauptsacheverfahren nicht bestätigen, stünde dem Antragsgegner ein Rückerstattungsanspruch gegen die Antragstellerin zu (vgl. BSG, Urteil vom 13. Dezember 2016 – B 1 KR 1/16 R – juris Rdnr. 8). Die Antragstellerin könnte daher auch mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht argumentieren, Rechtssicherheit hinsichtlich des Kostenrisikos erlangen zu wollen. Denn dieses Kostenrisiko würde ihr durch eine Entscheidung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gerade nicht abgenommen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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