L 6 SB 3371/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 5 SB 1233/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 3371/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 15. Juli 2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) mit 50 und damit die Schwerbehinderteneigenschaft.

Der Kläger ist italienischer Staatsangehöriger und gelernter Kraftfahrzeugmeister. Seit 2000 betreut er zusammen mit zwei weiteren Arbeitskollegen den Fuhrpark eines Elektrounternehmens mit 150 Fahrzeugen. 2012 reduzierte er die Arbeitszeit auf 70 %. Nebenher ist er in diesem Bereich auch selbstständig tätig.

Er beantragte am 4. September 2014 unter Hinweis auf einen palindromen Rheumatismus, eine Chondrokalzinose-Arthropathie, eine Muskelatrophie, eine rezidivierende depressive Störung nach dem Tod seiner Tochter Ende November 2007, lumbale Bandscheibenschäden mit Radikulopathie, Zervikobrachialgien, ein Karpaltunnelsyndrom beidseits und den Zustand nach einer Ruptur der Achillessehne die Feststellung des GdB.

Nachdem das Landratsamt G. medizinische Befundunterlagen der den Kläger behandelnden Ärzte beigezogen hatte, ging Dr. H. in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme von Mitte September 2014 davon aus, dass ein palindromer Rheumatismus und eine Chondrokalzinose einen GdB von 20 rechtfertigten. Sämtliche sonstigen angeführten behinderungsbedingten Funktionseinschränkungen erreichten jeweils keinen Einzel-GdB von 10 oder seien bereits nicht nachgewiesen. Daraufhin stellte das Landratsamt G. mit Bescheid vom 24. September 2014 den GdB mit 20 seit 4. September 2014 fest. Der Widerspruch wurde vom Regierungspräsidium St. mit Widerspruchsbescheid vom 2. April 2015 zurückgewiesen.

Hiergegen hat der Kläger am 28. April 2015 beim Sozialgericht Ulm (SG) Klage erhoben. Er hat unter Vorlage eines Attestes von Dr. B., Facharzt für Allgemeinmedizin, sowie Berichten von Dr. A., Facharzt für Anästhesie, die Feststellung des GdB mit 50 weiterverfolgt. Letzterer hat im September 2015 ausgeführt, er habe ein chronisches Schmerzsyndrom mit Betonung der oberen Rumpfhälfte und des Schultergürtels beziehungsweise der Arme diagnostiziert. Es sei eine Schmerztherapie vom Grad II nach dem Stufenschema der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ohne signifikante Besserung der Beschwerden vorgenommen worden. Ein Opioid sei abgesetzt, demgegenüber eine thymoleptische Therapie fortgeführt worden. Es habe eine segmentale Stabilisierung der kleinen Rückenmuskulatur erreicht werden können. Der Kläger habe ein eigenes Übungsprogramm erlernt. Er sei zu einem aeroben Ausdauersport motiviert worden. Die anhaltenden Schmerzzustände seien im Rahmen eines chronischen Schmerzsyndroms mit somatischen und psychischen Faktoren zu sehen. Wegen der chronischen Anpassungsstörung nach dem belastenden Lebensereignis durch den Tod seiner damals 24-jährigen Tochter sei die thymoleptische Therapie fortgeführt worden. Gegebenenfalls werde als Monotherapie auch nur Trevilor, derzeit 75 mg (1-0-0), eingenommen.

Nachdem Dr. H. in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 23. November 2015 neben dem palindromen Rheumatismus und der Chondrokalzinose auch eine seelische Störung und ein chronisches Schmerzsyndrom mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet hat, woraus sich ein Gesamt-GdB von 30 ergebe, hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 3. Dezember 2015 ein Vergleichsangebot dahingehend unterbreitet, den GdB in dieser Höhe ab 4. September 2014 festzustellen.

Dieses hat der Kläger unter Verweis auf seine behandelnde Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. P. abgelehnt, woraufhin diese vom SG als sachverständige Zeugin schriftlich befragt worden ist. Nach ihren Ausführungen von April 2016 habe sie den Kläger Mitte Oktober 2015 ein einziges Mal behandelt. Sie habe damals die Diagnose einer schweren Depression gestellt, welche jedoch bislang nicht adäquat behandelt worden sei.

Das SG hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 15. Juli 2016 die angefochtene Verwaltungsentscheidung teilweise aufgehoben und den Beklagten sinngemäß verpflichtet, den GdB mit 30 ab 4. September 2014 festzustellen, sowie die Klage im Übrigen abgewiesen. Dem Beklagten sind die außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde zu einem Drittel auferlegt worden. Hierbei ist das SG im Wesentlichen der versorgungsärztlichen Einschätzung von Dr. H. gefolgt.

Gegen die seinem Bevollmächtigten am 9. August 2016 zugestellte Entscheidung hat der Kläger am 7. September 2016 unter Vorlage der Bescheinigung von Dr. P. vom 6. Oktober 2016 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Diese hat eine mindestens mittelgradige Depression (ICD-10 F32.1), ausgelöst durch den Tod der Tochter 2007, eine Dysthymie (ICD-10 F34.1), multiple Schmerzen bei multiplen körperlichen Schmerzursachen, einen Koffein- und Nikotinabusus, 800 ml bzw. bis zu acht Zigaretten täglich (ICD-10 F15.1 und F17.1), einen dreitätigen Drehschwindel unklarer Genese im Dezember 2016, einen permanenten Schwindel mit wechselnder "Dumpfheit" im Kopf, Hals- und Oberkörper seit Mitte September 2016 sowie als unerwünschte Arzneimittelwirkung eine Benommenheit bei Einnahme von Mirtazapin in unbekannter Dosis im Mai 2011 diagnostiziert. Der Kläger sei voll orientiert, die Grundstimmung allerdings traurig gewesen. Er habe still geweint, als von seiner Tochter gesprochen worden sei. Er sei affektiv wenig schwingend gewesen. Anamnestisch habe er sich weiterhin als reizbar beschrieben, was sie bei ihrer Untersuchung nicht habe feststellen können. Der Antrieb sei gemindert gewesen. Die Psychomotorik habe sich als verschlossen dargestellt. Die Konzentration und die Merkfähigkeit seien besser gewesen. Es hätten weiter Selbstzweifel und Grübeln bestanden. Sonst hätten keine formalen oder inhaltlichen Denkstörungen vorgelegen. Wahrnehmungsstörungen seien nicht erkannt worden. Eine psychotische Ich-Störung sei nicht festgestellt worden. Es habe ein dauerhafter Lebensüberdruss, aber ohne Suizidabsicht, vorgeherrscht.

Des Weiteren hat der Kläger den Bericht von Dr. C., Leitender Arzt der Tagesklinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Schlössle in N. über seine teilstationäre Behandlung vom 21. November 2016 bis 20. Januar 2017 vorgelegt, wonach eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (ICD-10 F32.2), eine chronische Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren (ICD-10 F45.41), eine sonstige Chondrokalzinose: Schulterregion [Klavikula, Skapula, Akromioklavikular-, Schulter- und Sternoklavikulargelenk] (ICD-10 M11.21) diagnostiziert worden sind. Der Kläger habe sehr verhärmt und verbittert gewirkt. Er habe zunächst sehr rationalisierend und über somatische Beschwerden klagend seine Befindlichkeit geäußert. Er sei bewusstseinsklar und zu allen Qualitäten orientiert gewesen. Das Aufmerksamkeits- und Auffassungsvermögen sei ungestört gewesen. Die Konzentrationsleistungen seien subjektiv vermindert und das formale Denken geordnet gewesen. Paranoide Denkinhalte oder Sinnestäuschungen seien nicht festzustellen gewesen. Er sei jedoch inhaltlich deutlich auf den Verlust seiner Tochter und die damit verbundene Sinnlosigkeit des Daseins eingeengt gewesen. Im affektiven Erleben sei er deutlich depressiv, traurig, niedergeschlagen und wenig schwingungsfähig gewesen. Der Kläger habe sich mit dem klinischen Bild einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome sowie einer chronischen Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren erstmals in die teilstationäre Behandlung begeben. Anhaltende Auslöser seien der unverarbeitete Tod seiner Tochter 2007 am ehesten im Sinne einer komplizierten Trauer sowie Überforderungserlebnisse am aktuellen Arbeitsplatz und soziale Rückzugstendenzen bei generellen Schwierigkeiten im Umgang mit der Durchsetzung eigener Bedürfnisse und im Ausdruck von Gefühlen wie Ärger, Enttäuschung, Frustration und Trauer gewesen. Der Kläger habe sich für eine Weiterbehandlung im Rahmen der psychiatrischen Institutsambulanz entschieden. Eine Therapie mit Psychopharmaka habe er abgelehnt. Empfohlen worden sei zudem eine weiterführende ambulante Psychotherapie nach überlappender Behandlung in der psychiatrischen Institutsambulanz. Der selbstständigen Tätigkeit als Kraftfahrzeugmeister sei er aktuell kaum noch nachgegangen. Seit drei Wochen sei er krankgeschrieben gewesen. Mit der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft verfolge er, früher in Altersrente zu gehen. Früher habe er gerne Fußball gespielt, anschließend sei er als Trainer tätig gewesen. Er habe insgesamt zehn Kraftahrzeuge und fahre gerne Motorrad. Er habe angegeben, aktuell an einer Chondrokalzinose zu leiden, welche mit Kortison behandelt werde. Er habe zudem seit drei Wochen Schwindel. Eine Magnetresonanztomographie der Halswirbelsäule vor einer Woche sei unauffällig gewesen. Vor einem Jahr sei bereits eine Computertomographie des Schädels mit unauffälligem Befund durchgeführt worden. Er habe angeführt, unter Ein- und Durchschlafstörungen zu leiden. Seine Belastungsfähigkeit sei vermindert. Es falle ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen und sich zu konzentrieren. Er fühle sich oft wie alkoholisiert und in seiner Ausdauerfähigkeit eingeschränkt.

Der Berichterstatter hat Dr. W., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, mit Schreiben vom 29. November 2016 zum Sachverständigen bestellt. Nachdem es der Kläger abgelehnt hat, sich einer Begutachtung zu unterziehen, ist Dr. W. mit Schreiben vom 27. Februar 2017 von seinen Pflichten entbunden worden.

Der Kläger trägt im Wesentlichen vor, seine behinderungsbedingten Funktionseinschränkungen rechtfertigten einen GdB von 50.

Er beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 15. Juli 2016 und den Bescheid vom 24. September 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. April 2015 teilweise aufzuheben sowie den Beklagten zu verpflichten, bei ihm den Grad der Behinderung mit 50 ab 4. September 2014 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Er trägt im Wesentlichen vor, die wegen der Erkrankungen beim Kläger vorliegenden Funktionsstörungen rechtfertigten keinen höheren GdB als 30.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie die Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 151 Abs. 1 SGG) sowie im Übrigen zulässig, insbesondere statthaft (§ 143, § 144 SGG), aber unbegründet. Das SG hat die als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG, vgl. zur Klageart BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 SB 6/12 R -, juris, Rz. 25 m. w. N.) zulässige Klage zu Recht in dem von ihm tenorierten Umfang teilweise abgewiesen. Der Kläger hat ab 4. September 2014 keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 30, wozu das SG den Beklagten mit Urteil vom 15. Juli 2016 verpflichtet hat.

Gegenstand der Klage ist ein Anspruch auf Feststellung des GdB mit 50 ab 4. September 2014 aufgrund seiner Erstantragstellung an diesem Tag. Diesem Begehren steht der Bescheid vom 24. September 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. April 2015 entgegen, da ihn das SG nicht im beantragten Sinne aufgehoben hat. Die gerichtliche Nachprüfung richtet sich in Fällen einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage grundsätzlich nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz (Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 12. Aufl. 2017, § 54 Rz. 34), vorliegend am 1. Juni 2017.

Der Anspruch des Klägers gründet auf § 69 Abs. 1 und 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der aktuellen Fassung durch Art. 2 Ziff. 2 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234). Danach stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat (§ 69 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen sind nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Schwerbehindert sind gemäß § 2 Abs. 2 SGB IX Menschen, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach 10er Graden abgestuft festgestellt. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 70 Abs. 2 SGB IX). Von dieser Ermächtigung hat das BMAS Gebrauch gemacht und die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412) erlassen, um unter anderem die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG zu regeln (vgl. § 1 VersMedV). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (BSG, Urteil vom 1. September 1999 - B 9 V 25/98 R -, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.

Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als "Alterskrankheiten" (etwa "Altersdiabetes" oder "Altersstar") bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2 c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2 e). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 69 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Teil-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Teil-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.

Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 - B 9 SB 1/03 R -, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Teil- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 - B 9 SB 35/10 B -, juris, Rz. 5).

Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzel-fall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (BSG, Urteil vom 24. Juni 1998 - B 9 SB 17/97 R -, juris, Rz. 13). Der Teil-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Teil-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.

In Anwendung dieser durch den Gesetz- und Verordnungsgeber vorgegebenen Grundsätze sowie unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die behinderungsbedingten Funktionseinschränkungen des Klägers ab 4. September 2014 mit einem GdB von 30 ausreichend bewertet sind.

Das Funktionssystem "Gehirn einschließlich Psyche" bedingt keinen höheren Teil-GdB als 20.

In Anlehnung an die VG, Teil B, Nr. 3.7, wonach Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Folgen psychischer Traumen bei leichteren psychovegetativen oder psychischen Störungen mit einem GdB von 0 bis 20, bei stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) mit einem GdB von 30 bis 40 sowie bei schweren Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einen GdB von 80 bis 100 zu bewerten sind, rechtfertigen die wegen der von der sachverständigen Zeugin Dr. P. diagnostizierten mindestens mittelgradigen Depression (ICD-10-GM-2017 F32.1), welche Dr. C. nach der teilstationären Behandlung von Ende November 2016 bis Ende Januar 2017 als schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (ICD-10-GM-2017 F32.2) erkannte, und der Dysthymia (ICD-10-GM-2017 F34.1) sowie der chronischen Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren (ICD-10-GM-2017 F45.41) bestehenden Funktionsstörungen keinen höheren GdB als 20. Eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10-GM-2017 F43.1), welche in der Vergangenheit von der Fachärztin für physikalische Medizin Binder fachfremd gesehen wurde, ist von ihr demgegenüber nicht festgestellt worden. Eine Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, welche einen höheren GdB-Rahmen eröffnen würde, ist nicht objektiviert. Der Kläger ist weiterhin, wenn auch mit einer auf 70 % reduzierten Arbeitszeit beruflich tätig. Er ist in der Lage, mit zwei weiteren Arbeitskollegen den Fuhrpark eines Elektrounternehmens mit 150 Fahrzeugen zu organisieren. Daneben ist er als gelernter Kraftfahrzeugmeister, wenn auch mittlerweile deutlich reduziert, selbstständig tätig, wie er gegenüber Dr. C. kundtat. Er unterhält weiterhin zehn Kraftfahrzeuge und fährt gerne Motorrad. Der von Dr. C. erhobene psychopathologische Befund untermauert ebenfalls nur einen GdB von 20, begründet aber keinen höheren. Der Kläger war zwar im affektiven Erleben deutlich depressiv, traurig, niedergeschlagen und wenig schwingungsfähig sowie inhaltlich deutlich auf den Verlust seiner Tochter und die damit verbundene Sinnlosigkeit des Daseins eingeengt. Indes waren das Aufmerksamkeits- und Auffassungsvermögen ungestört. Die subjektiv empfundene verminderte Konzentrationsleistung ließ sich nicht objektivieren. Damit in Einklang steht der von Dr. P. erhobene Befund, wonach der Kläger als wenig schwingend und mit vermindertem Antrieb beschrieben wurde und sich die Psychomotorik als verschlossen darstellte. Eine Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit ergibt sich daraus noch nicht. Der Senat hat zwar weiteren Aufklärungsbedarf in Bezug darauf gesehen. Mangels Mitwirkung des Klägers an einer Begutachtung durch einen forensisch tätigen Sachverständigen, welcher gerade anders als Dr. C. keinen therapeutischen Ansatz verfolgt (vgl. hierzu Urteil des Senats vom 28. Juli 2016 - L 6 U 1013/15 -, juris, Rz. 77), geht die Nichterweislichkeit dieser Tatsache, aus welcher der Kläger ein Recht herleiten will, nach den Grundsätzen über die objektive Feststellungslast jedenfalls zu seinen Lasten (vgl. BSG, Urteil vom 8. Oktober 1964 - 1 RA 63/62 -, juris, Rz. 18). Hierauf ist er bereits mit gerichtlichem Schreiben vom 6. Februar 2017 hingewiesen worden. Das Funktionssystem "Gehirn einschließlich Psyche" erreicht daher keinen höheren Teil-GdB als 20.

Der Senat folgt in Anlehnung an die VG, Teil B, Nr. 18.2.1, wonach entzündlich-rheumatische Krankheiten mit geringen Auswirkungen (leichtgradige Funktionseinbußen und Beschwerden, je nach Art und Umfang des Gelenkbefalls, geringe Krankheitsaktivität) - einen GdB-Rahmen von 20 bis 40 eröffnen, der nachvollziehbaren versorgungsärztlichen Einschätzung von Dr. H. von November 2015, wonach die Funktionsstörungen wegen des palindromen Rheumatismus und der Chondrokalzinose für das Funktionssystem "Rumpf" ebenfalls einen Teil-GdB von 20 begründen.

Sonst sind allerdings, insbesondere mit dem Karpaltunnelsyndrom beidseits und dem in der mündlichen Verhandlung von seinem Bevollmächtigten angeführten verminderten Tastgefühl sowie dem Zustand nach einer Ruptur der Achillessehne, keine Gesundheitsstörungen nachgewiesen worden, derentwegen einem Funktionssystem zuzuordnende Einschränkungen vorliegen, welche überhaupt erst geeignet wären, den Gesamt-GdB zu erhöhen.

Unter Berücksichtigung der Grundsätze für die Bildung des Gesamt-GdB, wonach insbesondere einzelne Teil-GdB-Werte nicht addiert werden dürfen (VG, Teil A, Nr. 3 a) und grundsätzlich leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen (VG, Teil A, Nr. 3 d ee), ist im Falle des Klägers der Gesamt-GdB aus den beiden Teil-GdB von 20 für die Funktionssysteme "Gehirn einschließlich Psyche" und "Rumpf" zu bilden und erreicht daher bis aktuell keinen höheren als 30.

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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