L 12 AS 1968/18 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 6 AS 840/18 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 1968/18 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 30.04.2018 aufgehoben. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig für die Zeit vom 09.03.2018 bis 31.10.2018, längstens bis zur Bestandskraft des Bescheids vom 24.01.2018, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ihre außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.

Der Antragstellerin wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt A., K., Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsanordnung für das Beschwerdeverfahren L 12 AS 1968/18 ER-B bewilligt.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragstellerin hat Erfolg.

Die unter Beachtung der Vorschrift des § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig, insbesondere wäre im Hinblick auf die geltend gemachten Leistungen auch in der Hauptsache die Berufung zulässig, da die Berufungssumme von 750,00 EUR überschritten würde (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG). Die Beschwerde ist auch teilweise begründet. Der Antragsgegner ist im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 09.03.2018 bis 31.10.2018, längstens bis zur Bestandskraft des Bescheids vom 24.01.2018 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Prozessuale Grundlage des im vorläufigen Rechtsschutz verfolgten Anspruchs ist § 86b Abs. 2 SGG. In der Hauptsache kann die Antragstellerin den geltend gemachten Zahlungsanspruch auf eine durch Verwaltungsakt des Antragsgegners verfügte Leistungsbewilligung stützen. Dieser Anspruch ist im Wege der allgemeinen Leistungsklage geltend zu machen; einstweiliger Rechtsschutz wird in einem solchen Fall nach § 86b Abs. 2 SGG gewährt. Nach Satz 1 der Vorschrift kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG).

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der angestrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung [ZPO]); dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 25.07.1996 – 1 BvR 638/96NVwZ 1997, 479; BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02NJW 2003, 1236; BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05NVwZ 2005, 927 = Breithaupt 2005, 803, alle veröffentlicht auch in Juris). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 86b Rdnr. 42). Die Eilbedürftigkeit der erstrebten Regelung ist regelmäßig zu verneinen, soweit Ansprüche für bereits vor Stellung des einstweiligen Rechtsschutzantrags abgelaufene Zeiträume erhoben werden (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 22.11.2011 - L 12 AS 5199/11 ER-B -; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 01.08.2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B - FEVS 57, 72).

Dabei müssen die Gerichte die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02NJW 2003, 1236; BVerfG, Beschluss vom 29.07.2003 – 2 BvR 311/03NVwZ 2004, 95), wenn das einstweilige Rechtsschutzverfahren – wie vorliegend – vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller eines Eilverfahrens nicht überspannen. Die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel, das der Antragsteller mit seinem Begehren verfolgt, und dessen Bedeutung insbesondere im Hinblick auf Fragen des Grundrechtsschutzes zu orientieren. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002, a.a.O.).

Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung vor. Der Antragstellerin sind zur Gewährleistung des Existenzminimums im Wege der Folgenabwägung vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zuzusprechen, denn im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes kann das Bestehen des geltend gemachten Anspruchs nicht abschließend geklärt werden.

Leistungen nach dem SGB II erhalten gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II Personen, die (1.) das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, (2.) erwerbsfähig sind, (3.) hilfebedürftig sind und (4.) ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Nach den §§ 19 ff. SGB erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige als Arbeitslosengeld (Alg) II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Diese Leistungen sind in § 20 (Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts), § 21 (Leistungen für Mehrbedarfe beim Lebensunterhalt) und § 22 SGB II (Leistungen für Unterkunft und Heizung) näher ausgestaltet. Gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden die Leistungen nach diesem Buch (nur) auf Antrag erbracht. Dies gilt nicht für Zeiten vor der Antragstellung; bei Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts wirkt der Antrag allerdings auf den Ersten des Monats zurück (§ 37 Abs. 2 SGB II).

Gemäß § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Zur Bedarfsgemeinschaft gehören nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II auch die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der in § 7 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 SGB II genannten Personen, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können. Diese erhalten nach Maßgabe des § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II Sozialgeld.

Die Antragstellerin erfüllt im streitigen Zeitraum die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II; im Streit steht lediglich, ob sie mit dem vom Sozialgericht Karlsruhe vernommenen Zeugen V. in einer Bedarfsgemeinschaft lebt und wegen dessen Einkommen oder Vermögen nicht hilfebedürftig ist.

Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält (§ 9 Abs. 1 SGB II). Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II sind bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen. Nach § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II gehört als Partner des erwerbsfähigen leistungsberechtigten Hilfebedürftigen die Person zur Bedarfsgemeinschaft, die mit ihm in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen. Das Gesetz knüpft damit an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur eheähnlichen Gemeinschaft an. Diese liegt bei einer Lebensgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau vor, wenn sie auf Dauer angelegt ist, daneben keine weiteren Lebensgemeinschaften gleicher Art zulässt und sich durch innere Bindungen auszeichnet, die ein gegenseitiges Einstehen der Partner füreinander begründen, also über die Beziehungen in einer reinen Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgehen. Erfasst sind nur Gemeinschaften, in denen die Bindungen der Partner so eng sind, dass von ihnen ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann. Nur, wenn sich die Partner einer Gemeinschaft so sehr füreinander verantwortlich fühlen, dass sie zunächst den jeweiligen Lebensunterhalt sicherstellen, bevor sie ihr persönliches Einkommen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse verwenden, ist eine eheähnliche Lebensgemeinschaft anzunehmen. Ob eine solche Gemeinschaft besteht, lässt sich nur anhand von Indizien wie der Dauer des Zusammenlebens, der Versorgung von Kindern und Angehörigen und der Befugnis, über Einkommen und Vermögensgegenstände des Partners zu verfügen, feststellen (Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 22.01.2015 – L 6 AS 214/14 B ER – unter Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 17. November 1992 – 1 BvL 8/86 –, beide in juris). Derartige Indizien hat der Gesetzgeber in § 7 Abs. 3a SGB II aufgegriffen. Danach wird ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, u. a. vermutet, wenn Partner länger als ein Jahr zusammenleben (Nr. 1). Diese Vermutungsregelung führt bei Vorliegen bestimmter Tatbestände zu einer teilweisen Umkehr der Beweislast.

Die Antragstellerin erfüllt im streitigen Zeitraum zwar den Vermutungstatbestand des § 7 Abs. 3a Nr. 1 SGB II (Zusammenleben für länger als ein Jahr), da sie seit August 2016 zusammen mit V. in einer gemeinsam angemieteten Wohnung lebt. Damit wird der wechselseitige Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, vermutet. Die Annahme einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft ist jedoch nicht unwiderleglich. Ob die Antragstellerin im Rahmen des Hauptsacheverfahrens plausible Gründe darlegen kann, durch die die gesetzliche Vermutung entkräftet wird bzw. aufgrund derer das Zusammenwohnen als reine Zweck- oder Wohngemeinschaft einzustufen ist, kann im Rahmen des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes jedenfalls nicht abschließend geklärt werden. Von besonderer Bedeutung ist nach Ansicht des Senats insoweit, dass die Antragstellerin und V. eidesstattlich versichert haben, nur eine reine Wohngemeinschaft zu bilden, nicht gemeinsam zu haushalten oder zu wirtschaften, füreinander keine Verantwortung zu übernehmen und nicht füreinander einstehen zu wollen. Vor allem die Antragstellerin legt in ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 07.03.2018 sehr ausführlich dar, dass und aus welchen Gründen eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft zwischen ihr und V. nicht besteht. Durch die eidesstattliche Versicherung von V. wird dies in vollem Umfang bestätigt. Beide habe gegenüber dem SG, die Antragstellerin im Rahmen einer persönlichen Anhörung und V. als Zeuge, ihre Aussagen weitgehend bestätigt. Soweit das SG im angeführten Beschluss ausgeführt hat, es halte den Vortrag der Antragstellerin und die Aussage des V., anders als die entgegenstehenden Angaben des Außendienstmitarbeiters des Antragsgegners Wallbaum (der nicht als Zeuge vernommen worden ist), nicht für glaubhaft, bleibt es der Beweisaufnahme im Rahmen des Hauptsacheverfahrens vorbehalten, den Sachverhalt insoweit weiter aufzuklären. Jedenfalls genügen die vom SG zur Begründung der angegriffenen Entscheidung angeführten Indizien nach Ansicht des Senats alleine nicht, um die Glaubhaftigkeit der vorliegenden eidesstattlichen Versicherungen und der Aussage des Zeugen V. grundsätzlich zu verneinen. Selbst im Beschwerdeverfahren eine (weitere) umfassende Beweisaufnahme durchzuführen – dies wäre schon zur Wahrung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes erforderlich – hält der Senat im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes und vor allem im Hinblick auf die Dringlichkeit einer Entscheidung über existenzsichernde Leistungen nicht für angezeigt. Vor diesem Hintergrund muss es dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, Art und Intensität des Zusammenlebens abschließend aufzuklären.

Über den geltend gemachten Anspruch der Antragstellerin ist deshalb im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden. Bei dieser Abwägung tritt das Interesse des Antragsgegners, bei nicht abschließend geklärten Anspruchsvoraussetzungen keine finanziellen Aufwendungen zu erbringen, hinter dem Interesse der Antragstellerin an der Sicherung ihrer Existenzgrundlage zurück. Dass dies zu einer faktischen Vorwegnahme der Hauptsache führt, steht dem Erlass der begehrten Regelungsanordnung nicht entgegen, da bei den im Streit stehenden existenzsichernde Leistungen wirksamer Grundrechtsschutz auf andere Weise nicht erlangt bzw. gewährleistet werden kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Der Antragstellerin ist für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsanordnung zu bewilligen und Rechtsanwalt A., K., beizuordnen. Die Antragstellerin ist nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung auch nur zum Teil oder in Raten aufbringen. Darüber hinaus ist die Rechtsverfolgung auch nicht mutwillig; eine hinreichende Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung in der Hauptsache kann angesichts des oben Gesagten nicht verneint werden (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

Diese Entscheidung ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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