Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 28 KR 4501/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 850/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 05.03.2020 wird als unzulässig verworfen. 2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Schreibens der Beklagten vom 14.10.2019.
Mit Schreiben vom 14.10.2019 unterbreitete die Beklagte Herrn C. H., dem Sohn der Klägerin als deren Vertreter, das Angebot, die Klägerin für das Jahr 2020 vorab von den Zuzahlungen zu befreien. Die Beklagte würde der Klägerin für eine Einmalzahlung von 200,79 EUR eine Befreiungskarte ausstellen. Weiterhin wies die Beklagte darauf hin, dass bei Annahme dieses Angebotes eine Rückerstattung des geleisteten Betrages nicht möglich sei, da insoweit keine Belege über den tatsächlich zuzuzahlenden Betrag bestünden.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer am 16.10.2019 zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhobenen Klage. Zur Begründung führt sie an, mangels Rückerstattungsoption sei das Angebot der Beklagten rechtswidrig. Außerdem sei die durch die Beklagte verwendete Berechnungsmethode unbekannt. Darüber hinaus beruft sie sich auf die Störung der Totenruhe und die zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften. Die Verfolgung dieser Sache sei zudem eine Grundsätzliche. Wörtlich hat die Klägerin, vertreten durch ihren Sohn, beantragt, "die Beklagte zu verpflichten, umgehend darzulegen, wie sie auf so einen Humbug überhaupt kommen kann".
Das SG hat den Antrag ausgelegt auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Vorgehens der Beklagten und die Klage mit Gerichtsbescheid vom 05.03.2020 abgewiesen. Die Klage sei unzulässig, da kein Feststellungsinteresse bestehe. Es bedürfe keines gerichtlichen Verfahrens, um Feststellungen zu den Bedingungen des konkreten Angebotes zu treffen. Das Schreiben der Beklagten vom 14.10.2019 stelle keinen Verwaltungsakt dar. Es enthalte keinen Regelungsinhalt, sondern diene lediglich der Unterbreitung eines Angebotes. Es stehe der Klägerin frei, dieses anzunehmen oder abzulehnen.
Gegen den am 11.03.2020 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am gleichen Tag eingelegte Berufung der Klägerin, die inhaltlich nicht begründet worden ist.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 05.03.2020 aufzuheben und festzustellen, dass das Vorgehen der Beklagten mit Schreiben vom 14.10.2019 rechtswidrig war.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Parallel zu ihrer Berufung hat die Klägerin am 12.03.2020 Nichtzulassungsbeschwerde (NZB) beim Landessozialgericht (LSG) eingelegt (L 11 KR 1851/20 NZB).
Mit Schreiben vom 15.06.2020 hat der Senat eine Entscheidung nach § 158 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Aussicht gestellt und den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die beigezogenen Verwaltungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist nicht statthaft und daher gemäß § 158 Satz 1 SGG als unzulässig zu verwerfen.
Der Senat macht von dem ihm in § 158 Satz 2 SGG eingeräumten Ermessen dahingehend Gebrauch, dass die Entscheidung vorliegend durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung ergeht. Die Beteiligten sind hierzu angehört worden. Nach den Grundsätzen über die Gewährung rechtlichen Gehörs ist die Klägerin vor der Entscheidung darauf hinzuweisen, dass die Berufung unzulässig sein könnte, aus welchem Grund dies der Fall und dass eine Entscheidung durch Beschluss beabsichtigt ist. Ihr ist hierzu Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (s hierzu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 158 Rn 8 mwN). Dies ist vorliegend mit den Schreiben des Gerichts vom 15.06. und 18.06.2020 erfolgt.
Dem steht nicht entgegen, dass damit weder in der ersten noch in der zweiten Instanz eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat. Zwar gebietet es das Recht auf eine mündliche Verhandlung auch mit Blick auf Art 6 Abs 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) im Grundsatz, von einer Entscheidung durch Beschluss nach § 158 Satz 2 SGG abzusehen, wenn sich die Berufung gegen einen Gerichtsbescheid richtet, auch wenn dies in § 158 Satz 2 SGG – anders als in § 153 Abs 4 Satz 1 SGG – nicht ausdrücklich geregelt ist (ständige Rspr, vgl Bundessozialgericht (BSG) vom 30.10.2019, B 14 AS 7/19 B; vom 08.11.2005, B 1 KR 76/05 B, SozR 4-1500 § 158 Nr 2 Rn 7 ff; vom 12.07.2012, B 14 AS 31/12 B, SozR 4-1500 § 105 Nr 3 Rn 5; vom 08.04.2014, B 8 SO 22/14 B). Auf der anderen Seite ist in der Rspr des BSG anerkannt, dass eine Entscheidung nach § 158 Satz 2 SGG ausnahmsweise zulässig sein kann, wenn sicher feststeht, dass in der Sache noch eine mündliche Verhandlung vor dem SG stattfinden wird (BSG 30.10.2019 aaO mwN). Auch wenn vorliegend keine mündliche Verhandlung vor dem SG mehr stattfinden wird, ist das Recht der Klägerin auf eine mündliche Verhandlung gewahrt, weil sie - entsprechend der zutreffenden Belehrung im Gerichtsbescheid vom 05.03.2020 - die Möglichkeit hatte, mündliche Verhandlung zu beantragen und damit ihren Anspruch auf eine mündliche Verhandlung durchzusetzen. Dass die Klägerin von dieser Möglichkeit tatsächlich keinen Gebrauch gemacht hat, liegt allein in ihrem Verantwortungsbereich und führt dazu, dass sie sich auf eine Verletzung ihres Rechtes auf mündliche Verhandlung nicht berufen kann. Insofern ist auch in diesem Fall eine Entscheidung durch Beschluss nach § 158 Satz 2 SGG statthaft (so auch Senatsbeschluss vom 17.04.2020, L 11 R 3832/19; LSG Niedersachsen-Bremen vom 09.05.2019, L 11 AS 13/19; LSG Berlin-Brandenburg vom 18.06.2010, L 10 AS 779/10; Keller in Meyer-Ladewig ua aaO § 158 Rn 6; Wolff-Dellen in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Auflage 2014, § 158 Rn 6; offengelassen in BSG vom 12.07.2012 aaO und vom 30.10.2019 aaO; aA Sommer in Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Auflage 2014, § 158 Rn 9).
Vorliegend war die Berufung zu verwerfen, weil sie mangels Erreichens der Berufungssumme nicht statthaft ist. Nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro nicht übersteigt. Dies gilt nach § 144 Abs 1 Satz 2 SGG nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes bestimmt sich nach dem Umfang, in dem das SG dem Begehren des Rechtsmittelführers nicht gefolgt ist und was von diesem mit seinen Berufungsanträgen weiterverfolgt wird. Im hier anhängigen Berufungsverfahren hat die Klägerin bisher keinen Antrag gestellt. Zur Bestimmung der Beschwer kann der Senat daher nur auf den Antrag im erstinstanzlichen Verfahren zurückgreifen. Danach geht es um die Rechtswidrigkeit des Schreibens der Beklagten vom 14.10.2019. Für die Auslegung prozessualer Anträge bzw Begehren gilt § 123 SGG, wonach das Gericht über die erhobenen Ansprüche entscheidet, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei der Auslegung von Erklärungen ist nach den §§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nicht allein an ihrem Wortlaut zu haften. Vielmehr sind alle tatsächlichen Begleitumstände der Erklärung zu berücksichtigen, die dafür von Bedeutung sein können, welchen Willen der Erklärende bei seiner Erklärung gehabt hat und wie die Erklärung von ihrem Empfänger zu verstehen war (BSG vom 05.09.2019, B 8 SO 20/18 R; vom 08.12.1993, 10 RKg 19/92, SozR 3-1300 § 34 Nr 2). Demnach war das Begehren, wie vom SG völlig zutreffend ausgelegt, als Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Schreibens der Beklagten vom 14.10.2019 zu verstehen.
Der Sache nach ging es damit um eine Zahlung iHv 200,79 EUR, die bei Abschluss der von der Beklagten angebotenen Vereinbarung zu entrichten gewesen wäre ohne Möglichkeit der Rückforderung. Die gewählte Klageart ist für die Anwendung von § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG bedeutungslos, wenn das Rechtsverhältnis – wie hier – gleichwohl eine Geldleistung zum Gegenstand hat (BSG 24.08.2017, B 4 AS 223/17 B und 18.02.2019, B 14 AS 117/18 B; vgl auch Keller in Meyer-Ladewig ua, aaO, § 144 Rn 9c).
Auch stehen wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr nicht im Streit, denn es ging um die Befreiung von der Zuzahlungspflicht für das Jahr 2020. Das SG hat die Berufung auch nicht zugelassen, sondern ausdrücklich in den Gründen des Gerichtsbescheides darauf hingewiesen, die Berufungssumme sei nicht erreicht. Dementsprechend ist auch die zutreffende Rechtsmittelbelehrung angefügt worden.
Das Begehren der Klägerin kann nicht als NZB oder als Antrag auf mündliche Verhandlung an das SG ausgelegt oder in eine derartige Erklärung umgedeutet werden. Hier hat die Klägerin am 11.05.2020 ausdrücklich "Berufung" gegen den Gerichtsbescheid des SG eingelegt, obwohl im angefochtenen Gerichtsbescheid die fehlende Berufungsfähigkeit begründet und in der Rechtsmittelbelehrung die Voraussetzungen für eine NZB sowie einen Antrag auf mündliche Verhandlung im Einzelnen erläutert worden sind. Erst im nachfolgenden, am 12.03.2020 eingegangenen Schriftsatz (Blatt 28 Senatsakte) finden sich Anhaltspunkte, die eine Auslegung des Rechtsmittels als NZB ermöglichen. Entsprechend ist auch dieses Schreiben zusätzlich als NZB berücksichtigt worden, die unter dem Aktenzeichen L 11 KR 1851/20 NZB geführt wird.
Auch eine Umdeutung kommt nicht in Betracht. Der Begriff der Umdeutung wird im Gesetz für fehlerhafte Verwaltungsakte (vgl § 43 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), § 47 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG)) und für nichtige Rechtsgeschäfte verwendet (vgl die Überschrift zu § 140 BGB in der seit 01.01.2002 geltenden Fassung). Da es sich bei einem unzulässigen Rechtsmittel weder um das eine noch um das andere handelt, ist bei der Annahme von Umdeutungsmöglichkeiten Zurückhaltung geboten (s hierzu und zum Folgenden ausführlich BSG vom 20.05.2003, B 1 KR 25/01 R, SozR 4–1500 § 158 Nr 1 mwN). Dennoch ist insbesondere für den Zivilprozess anerkannt, dass in besonderen Konstellationen eine unzulässige Prozesshandlung und ausnahmsweise auch eine Rechtsmittelerklärung in ein nach Intention und rechtlicher Wirkung vergleichbares Pendant umzudeuten ist, wenn dessen Voraussetzungen eingehalten sind, die Umdeutung dem Parteiwillen entspricht und kein schutzwürdiges Interesse des Prozessgegners entgegensteht (BSG vom 20.05.2003 unter Verweis auf Bundesgerichtshof (BGH) vom 01.06.1983, IVb ZR 365/81, FamRZ 1983, 892; BGH vom 25.11.1986, VI ZB 12/86, NJW 1987, 1204). Für das Verhältnis von Berufung und NZB kann das aber schon wegen der unterschiedlichen Zielrichtung der beiden Rechtsmittel nicht gelten. Beide zielen zwar im Ergebnis auf eine Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung durch die höhere Instanz. Unmittelbar richtet sich die NZB aber nicht gegen den Ausgang des erstinstanzlichen Verfahrens, sondern gegen eine prozessuale Teilentscheidung; dementsprechend ist der Prüfungsgegenstand ein anderer als im Berufungsverfahren. Gleiches gilt für das Verhältnis von Berufung und Antrag auf mündliche Verhandlung. Hinzu kommt nach der Rspr des BSG, dass im Verwaltungsprozess und speziell im sozialgerichtlichen Verfahren die Umdeutung eines unzulässigen Rechtsmittels in das zulässige auch wegen der allen anfechtbaren Entscheidungen beizufügenden Rechtsmittelbelehrung ausscheidet, durch die Irrtümer oder Verwechslungen bei der Bezeichnung des Rechtsmittels weitgehend ausgeschlossen sind (BSG vom 20.05.2003 aaO).
Nach alledem handelt es sich bei dem als "Berufung" bezeichneten Rechtsmittel der Klägerin auch tatsächlich um eine solche. Mangels Erreichens der Berufungssumme ist diese aber nicht statthaft und war folglich als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 SGG nicht vorliegen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Schreibens der Beklagten vom 14.10.2019.
Mit Schreiben vom 14.10.2019 unterbreitete die Beklagte Herrn C. H., dem Sohn der Klägerin als deren Vertreter, das Angebot, die Klägerin für das Jahr 2020 vorab von den Zuzahlungen zu befreien. Die Beklagte würde der Klägerin für eine Einmalzahlung von 200,79 EUR eine Befreiungskarte ausstellen. Weiterhin wies die Beklagte darauf hin, dass bei Annahme dieses Angebotes eine Rückerstattung des geleisteten Betrages nicht möglich sei, da insoweit keine Belege über den tatsächlich zuzuzahlenden Betrag bestünden.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer am 16.10.2019 zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhobenen Klage. Zur Begründung führt sie an, mangels Rückerstattungsoption sei das Angebot der Beklagten rechtswidrig. Außerdem sei die durch die Beklagte verwendete Berechnungsmethode unbekannt. Darüber hinaus beruft sie sich auf die Störung der Totenruhe und die zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften. Die Verfolgung dieser Sache sei zudem eine Grundsätzliche. Wörtlich hat die Klägerin, vertreten durch ihren Sohn, beantragt, "die Beklagte zu verpflichten, umgehend darzulegen, wie sie auf so einen Humbug überhaupt kommen kann".
Das SG hat den Antrag ausgelegt auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Vorgehens der Beklagten und die Klage mit Gerichtsbescheid vom 05.03.2020 abgewiesen. Die Klage sei unzulässig, da kein Feststellungsinteresse bestehe. Es bedürfe keines gerichtlichen Verfahrens, um Feststellungen zu den Bedingungen des konkreten Angebotes zu treffen. Das Schreiben der Beklagten vom 14.10.2019 stelle keinen Verwaltungsakt dar. Es enthalte keinen Regelungsinhalt, sondern diene lediglich der Unterbreitung eines Angebotes. Es stehe der Klägerin frei, dieses anzunehmen oder abzulehnen.
Gegen den am 11.03.2020 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am gleichen Tag eingelegte Berufung der Klägerin, die inhaltlich nicht begründet worden ist.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 05.03.2020 aufzuheben und festzustellen, dass das Vorgehen der Beklagten mit Schreiben vom 14.10.2019 rechtswidrig war.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Parallel zu ihrer Berufung hat die Klägerin am 12.03.2020 Nichtzulassungsbeschwerde (NZB) beim Landessozialgericht (LSG) eingelegt (L 11 KR 1851/20 NZB).
Mit Schreiben vom 15.06.2020 hat der Senat eine Entscheidung nach § 158 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Aussicht gestellt und den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die beigezogenen Verwaltungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist nicht statthaft und daher gemäß § 158 Satz 1 SGG als unzulässig zu verwerfen.
Der Senat macht von dem ihm in § 158 Satz 2 SGG eingeräumten Ermessen dahingehend Gebrauch, dass die Entscheidung vorliegend durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung ergeht. Die Beteiligten sind hierzu angehört worden. Nach den Grundsätzen über die Gewährung rechtlichen Gehörs ist die Klägerin vor der Entscheidung darauf hinzuweisen, dass die Berufung unzulässig sein könnte, aus welchem Grund dies der Fall und dass eine Entscheidung durch Beschluss beabsichtigt ist. Ihr ist hierzu Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (s hierzu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 158 Rn 8 mwN). Dies ist vorliegend mit den Schreiben des Gerichts vom 15.06. und 18.06.2020 erfolgt.
Dem steht nicht entgegen, dass damit weder in der ersten noch in der zweiten Instanz eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat. Zwar gebietet es das Recht auf eine mündliche Verhandlung auch mit Blick auf Art 6 Abs 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) im Grundsatz, von einer Entscheidung durch Beschluss nach § 158 Satz 2 SGG abzusehen, wenn sich die Berufung gegen einen Gerichtsbescheid richtet, auch wenn dies in § 158 Satz 2 SGG – anders als in § 153 Abs 4 Satz 1 SGG – nicht ausdrücklich geregelt ist (ständige Rspr, vgl Bundessozialgericht (BSG) vom 30.10.2019, B 14 AS 7/19 B; vom 08.11.2005, B 1 KR 76/05 B, SozR 4-1500 § 158 Nr 2 Rn 7 ff; vom 12.07.2012, B 14 AS 31/12 B, SozR 4-1500 § 105 Nr 3 Rn 5; vom 08.04.2014, B 8 SO 22/14 B). Auf der anderen Seite ist in der Rspr des BSG anerkannt, dass eine Entscheidung nach § 158 Satz 2 SGG ausnahmsweise zulässig sein kann, wenn sicher feststeht, dass in der Sache noch eine mündliche Verhandlung vor dem SG stattfinden wird (BSG 30.10.2019 aaO mwN). Auch wenn vorliegend keine mündliche Verhandlung vor dem SG mehr stattfinden wird, ist das Recht der Klägerin auf eine mündliche Verhandlung gewahrt, weil sie - entsprechend der zutreffenden Belehrung im Gerichtsbescheid vom 05.03.2020 - die Möglichkeit hatte, mündliche Verhandlung zu beantragen und damit ihren Anspruch auf eine mündliche Verhandlung durchzusetzen. Dass die Klägerin von dieser Möglichkeit tatsächlich keinen Gebrauch gemacht hat, liegt allein in ihrem Verantwortungsbereich und führt dazu, dass sie sich auf eine Verletzung ihres Rechtes auf mündliche Verhandlung nicht berufen kann. Insofern ist auch in diesem Fall eine Entscheidung durch Beschluss nach § 158 Satz 2 SGG statthaft (so auch Senatsbeschluss vom 17.04.2020, L 11 R 3832/19; LSG Niedersachsen-Bremen vom 09.05.2019, L 11 AS 13/19; LSG Berlin-Brandenburg vom 18.06.2010, L 10 AS 779/10; Keller in Meyer-Ladewig ua aaO § 158 Rn 6; Wolff-Dellen in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Auflage 2014, § 158 Rn 6; offengelassen in BSG vom 12.07.2012 aaO und vom 30.10.2019 aaO; aA Sommer in Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Auflage 2014, § 158 Rn 9).
Vorliegend war die Berufung zu verwerfen, weil sie mangels Erreichens der Berufungssumme nicht statthaft ist. Nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro nicht übersteigt. Dies gilt nach § 144 Abs 1 Satz 2 SGG nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes bestimmt sich nach dem Umfang, in dem das SG dem Begehren des Rechtsmittelführers nicht gefolgt ist und was von diesem mit seinen Berufungsanträgen weiterverfolgt wird. Im hier anhängigen Berufungsverfahren hat die Klägerin bisher keinen Antrag gestellt. Zur Bestimmung der Beschwer kann der Senat daher nur auf den Antrag im erstinstanzlichen Verfahren zurückgreifen. Danach geht es um die Rechtswidrigkeit des Schreibens der Beklagten vom 14.10.2019. Für die Auslegung prozessualer Anträge bzw Begehren gilt § 123 SGG, wonach das Gericht über die erhobenen Ansprüche entscheidet, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei der Auslegung von Erklärungen ist nach den §§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nicht allein an ihrem Wortlaut zu haften. Vielmehr sind alle tatsächlichen Begleitumstände der Erklärung zu berücksichtigen, die dafür von Bedeutung sein können, welchen Willen der Erklärende bei seiner Erklärung gehabt hat und wie die Erklärung von ihrem Empfänger zu verstehen war (BSG vom 05.09.2019, B 8 SO 20/18 R; vom 08.12.1993, 10 RKg 19/92, SozR 3-1300 § 34 Nr 2). Demnach war das Begehren, wie vom SG völlig zutreffend ausgelegt, als Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Schreibens der Beklagten vom 14.10.2019 zu verstehen.
Der Sache nach ging es damit um eine Zahlung iHv 200,79 EUR, die bei Abschluss der von der Beklagten angebotenen Vereinbarung zu entrichten gewesen wäre ohne Möglichkeit der Rückforderung. Die gewählte Klageart ist für die Anwendung von § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG bedeutungslos, wenn das Rechtsverhältnis – wie hier – gleichwohl eine Geldleistung zum Gegenstand hat (BSG 24.08.2017, B 4 AS 223/17 B und 18.02.2019, B 14 AS 117/18 B; vgl auch Keller in Meyer-Ladewig ua, aaO, § 144 Rn 9c).
Auch stehen wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr nicht im Streit, denn es ging um die Befreiung von der Zuzahlungspflicht für das Jahr 2020. Das SG hat die Berufung auch nicht zugelassen, sondern ausdrücklich in den Gründen des Gerichtsbescheides darauf hingewiesen, die Berufungssumme sei nicht erreicht. Dementsprechend ist auch die zutreffende Rechtsmittelbelehrung angefügt worden.
Das Begehren der Klägerin kann nicht als NZB oder als Antrag auf mündliche Verhandlung an das SG ausgelegt oder in eine derartige Erklärung umgedeutet werden. Hier hat die Klägerin am 11.05.2020 ausdrücklich "Berufung" gegen den Gerichtsbescheid des SG eingelegt, obwohl im angefochtenen Gerichtsbescheid die fehlende Berufungsfähigkeit begründet und in der Rechtsmittelbelehrung die Voraussetzungen für eine NZB sowie einen Antrag auf mündliche Verhandlung im Einzelnen erläutert worden sind. Erst im nachfolgenden, am 12.03.2020 eingegangenen Schriftsatz (Blatt 28 Senatsakte) finden sich Anhaltspunkte, die eine Auslegung des Rechtsmittels als NZB ermöglichen. Entsprechend ist auch dieses Schreiben zusätzlich als NZB berücksichtigt worden, die unter dem Aktenzeichen L 11 KR 1851/20 NZB geführt wird.
Auch eine Umdeutung kommt nicht in Betracht. Der Begriff der Umdeutung wird im Gesetz für fehlerhafte Verwaltungsakte (vgl § 43 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), § 47 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG)) und für nichtige Rechtsgeschäfte verwendet (vgl die Überschrift zu § 140 BGB in der seit 01.01.2002 geltenden Fassung). Da es sich bei einem unzulässigen Rechtsmittel weder um das eine noch um das andere handelt, ist bei der Annahme von Umdeutungsmöglichkeiten Zurückhaltung geboten (s hierzu und zum Folgenden ausführlich BSG vom 20.05.2003, B 1 KR 25/01 R, SozR 4–1500 § 158 Nr 1 mwN). Dennoch ist insbesondere für den Zivilprozess anerkannt, dass in besonderen Konstellationen eine unzulässige Prozesshandlung und ausnahmsweise auch eine Rechtsmittelerklärung in ein nach Intention und rechtlicher Wirkung vergleichbares Pendant umzudeuten ist, wenn dessen Voraussetzungen eingehalten sind, die Umdeutung dem Parteiwillen entspricht und kein schutzwürdiges Interesse des Prozessgegners entgegensteht (BSG vom 20.05.2003 unter Verweis auf Bundesgerichtshof (BGH) vom 01.06.1983, IVb ZR 365/81, FamRZ 1983, 892; BGH vom 25.11.1986, VI ZB 12/86, NJW 1987, 1204). Für das Verhältnis von Berufung und NZB kann das aber schon wegen der unterschiedlichen Zielrichtung der beiden Rechtsmittel nicht gelten. Beide zielen zwar im Ergebnis auf eine Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung durch die höhere Instanz. Unmittelbar richtet sich die NZB aber nicht gegen den Ausgang des erstinstanzlichen Verfahrens, sondern gegen eine prozessuale Teilentscheidung; dementsprechend ist der Prüfungsgegenstand ein anderer als im Berufungsverfahren. Gleiches gilt für das Verhältnis von Berufung und Antrag auf mündliche Verhandlung. Hinzu kommt nach der Rspr des BSG, dass im Verwaltungsprozess und speziell im sozialgerichtlichen Verfahren die Umdeutung eines unzulässigen Rechtsmittels in das zulässige auch wegen der allen anfechtbaren Entscheidungen beizufügenden Rechtsmittelbelehrung ausscheidet, durch die Irrtümer oder Verwechslungen bei der Bezeichnung des Rechtsmittels weitgehend ausgeschlossen sind (BSG vom 20.05.2003 aaO).
Nach alledem handelt es sich bei dem als "Berufung" bezeichneten Rechtsmittel der Klägerin auch tatsächlich um eine solche. Mangels Erreichens der Berufungssumme ist diese aber nicht statthaft und war folglich als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 SGG nicht vorliegen.
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