L 4 P 1930/19 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 9 P 1351/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 1930/19 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 12. Juni 2019 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Leistungen der Pflegeversicherung nach Pflegegrad 2.

Der 1959 geborene Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin pflegeversichert. Er leidet an einer alkoholtoxischen Polyneuropathie der Beine mit Gang- und Standunsicherheit. Seit Oktober 2017 bezieht er Leistungen nach Pflegegrad 1 (23,75 gewichtete Punkte).

Am 22. Mai 2018 beantragte er die Einstufung in einen höheren Pflegegrad. Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK), wobei die Pflegefachkraft B. auf Grund eines Hausbesuchs am 25. Juli 2018 das Gutachten vom 26. Juli 2018 erstattete. Als pflegebegründende Diagnosen nannte sie eine rezidivierende depressive Störung sowie Störungen des Gangs und der Mobilität. Sie ging davon aus, dass die aktuell festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu einer Abnahme der Selbständigkeit geführt hätten, jedoch ein höherer Pflegegrad noch nicht erreicht werde. Bei insgesamt 13,75 gewichteten Punkten (Mobilität: 2,50 Punkte; Kognitive und kommunikative Fähigkeiten/Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: 7,50 Punkte; Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte: 3,75 Punkte) liege (weiterhin) Pflegegrad 1 vor.

Mit Bescheid vom 30. Juli 2018 lehnte die Antragsgegnerin eine Höherstufung mit der Begründung ab, beim Antragsteller liege eine geringe, aber noch keine erhebliche Beeinträchtigung der Selbständigkeit vor; der Grad der Beeinträchtigung erreiche noch nicht den Pflegegrad 2 (27 bis 47,4 Punkte).

Hiergegen erhob der Antragsteller Widerspruch und machte geltend, das Gutachten sei formal und inhaltlich mit schwerwiegendsten Mängeln behaftet. Diesem liege insbesondere keinerlei ärztliche Befunderhebung zu Grunde und es stelle zu Unrecht eine Verbesserung seines Gesundheitszustandes fest (statt bisher 23,75 nun 13,75 Punkte). In dem daraufhin veranlassten weiteren Gutachten vom 24. Oktober 2018 gelangte die Pflegefachkraft G. auf Grund eines Hausbesuchs am 18. Oktober 2018 gleichermaßen zu 13,75 gewichteten Punkten (Kognitive und kommunikative Fähigkeiten/Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: 3,75 Punkte; Selbstversorgung: 10,0 Punkte) und dementsprechend zu Pflegegrad 1. Mit Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 2018 wies der Widerspruchsausschuss der Antragsgegnerin den Widerspruch zurück.

Am 10. Januar 2019 erhob der Antragsteller dagegen beim Sozialgericht Reutlingen (SG) Klage (S 9 P 128/19). Das SG hörte Fachärztin für Neurologie Dr. S., Praxisnachfolgerin des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. Se. als sachverständige Zeugin und bestellte am 30. April 2019 zur Feststellung des Grades der Pflegebedürftigkeit die Pflegefachkraft B. zum gerichtlichen Sachverständigen.

Mit dem am 3. Juni 2019 beim SG eingegangenen Schriftsatz vom 31. Mai 2019 beantragte der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Zur Begründung trug er vor, von dem Sachverständigen B. bisher noch keinen Termin zur Begutachtung erhalten zu haben, so dass mit einer Entscheidung des SG frühestens ab Oktober 2019 zu rechnen sei. Wegen seiner massiven Fallneigung bestehe bereits jetzt die dringende Notwendigkeit für Leistungen der Pflegversicherung nach einem höheren als dem derzeitigen Pflegegrad. Angesichts des sich akut weiter verschlechternden Gesundheitszustandes vergrößere sich ohne zusätzliche Pflegeunterstützungsleistungen die Gefahr eines Sturzes mit schwerwiegenden Folgen bis zur Hauptsacheentscheidung immer weiter. Schließlich habe Dr. Se. in seinem Arztbrief vom 18. Mai 2018 schon für den Zeitpunkt seines Höherstufungsantrags ausgeführt, dass Pflegegrad 1 "bei weitem zu wenig" sei. Zwischenzeitlich dürfte es eher um Pfleggrad 3 gehen. Die Mängel in den Gutachten des MDK seien erheblich.

Die Antragsgegnerin trat dem Antrag entgegen.

Mit Beschluss vom 12. Juni 2019 lehnte das SG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund seien nicht glaubhaft gemacht. Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens sei offen und eine Vorwegnahme der Hauptsache nicht gerechtfertigt. Dem Kläger sei ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache ebenso wie jedem anderen Antragsteller, der ein geltend gemachtes Recht im Klagewege verfolge, zumutbar. Dies gerade auch vor dem Hintergrund, dass bereits am 30. April 2019 ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben worden sei.

Hiergegen hat der Kläger am 13. Juni 2019 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Beschwerde eingelegt und zu deren Begründung vorgetragen, durch die Ausführungen des Dr. Se. in seinem Arztbrief vom 18. Mai 2018 die Voraussetzungen für die Einstufung in Pfleggrad 2 glaubhaft gemacht zu haben. Er habe unmissverständlich auf dessen Aussage hingewiesen, wonach Pflegegrad 1 "bei weitem zu wenig" sei. Es handele es sich dabei sogar um die einzige ärztliche Aussage. Dass das SG dieser Stellungnahme keinerlei Bedeutung beigemessen habe, sei unverständlich. Schließlich sei die Ablehnung seines Höherstufungsantrags schon deshalb rechtswidrig, weil der Beurteilung keinerlei ärztliche Befunde zu Grunde gelegen hätten. Auch der vom SG bestellte Sachverständige sei kein Arzt.

Der Antragsteller beantragt (sachgerecht gefasst),

den Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 12. Juni 2019 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihm vorläufig Geldleistungen der Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 2 zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des SG für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

II.

1. Die gemäß § 173 Satz 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers ist zulässig, insbesondere statthaft. Die Beschwerde ist nicht nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ausgeschlossen, weil die Berufung in der Hauptsache nicht der Zulassung bedürfte. Der Antragsteller begehrt zukunftsgerichtet laufende Leistungen ohne Beschränkung und damit für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

2. Die Beschwerde ist nicht begründet. Das SG hat es zu Recht abgelehnt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufige Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung nach Pflegegrad 2 zu gewähren.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist Voraussetzung, dass ein dem Antragsteller zustehendes Recht oder rechtlich geschütztes Interesse vorliegen muss (Anordnungsanspruch), das ohne Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes vereitelt oder wesentlich erschwert würde, so dass dem Antragsteller schwere, unzumutbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund müssen glaubhaft gemacht sein (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Glaubhaftmachung liegt vor, wenn das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds überwiegend wahrscheinlich sind. Dabei dürfen sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss des Ersten Senats vom 13. April 2010 – 1 BvR 216/07 – juris, Rn. 64; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 – juris, Rn. 9).

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen nicht isoliert nebeneinander; es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER – juris, Rn. 18; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Januar 2007 – L 7 SO 5672/06 ER-B – juris, Rn. 2). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER – juris, Rn. 18; Hessisches LSG, Beschluss vom 5. Februar 2007 – L 9 AS 254/06 ER – juris, Rn. 4). Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER – juris, Rn. 18; Hessisches LSG, Beschluss vom 5. Februar 2007 – L 9 AS 254/06 ER – juris, Rn. 4).

Ausgehend von diesen Grundsätzen führte das SG im Ergebnis zutreffend aus, dass ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht ist.

Rechtsgrundlage für das Begehren auf höhere Geldleistungen der Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 2 ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen, dass die gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten des Klägers die für den Pflegegrad 2 erforderlichen mindestens 27 Gesamtpunkte (§ 15 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 Elftes Buch Sozialgesetzbuch [SGB XI]) erreichen, lässt sich aufgrund des derzeitigen Sach- und Streitstandes nicht erkennen. Die begehrte Einstufung in Pflegegrad 2 ist insbesondere auch mit den Ausführungen des Dr. Se. in seinem Arztbrief vom 18. Mai 2018, wonach Pflegegrad 1 "bei weitem zu wenig" sei, nicht glaubhaft gemacht. Diese Aussage lässt schon nicht erkennen, aus welchen Gründen Dr. Se. der Ansicht ist, Pflegegrad 1 trage den gesundheitlichen Einschränkungen des Antragstellers nicht Rechnung bzw. welche konkrete Gesichtspunkte seines Erachtens die Einordnung in einen höheren Pflegegrad notwendig machen sollen. Mangels näherer Begründung seiner Auffassung ist bereits nicht erkennbar, ob Dr. Seiter mit dem Rechtsbegriff der Pflegebedürftigkeit im Sinne des § 14 SGB XI vertraut ist, seine Einschätzung hieran orientierte und dabei gerade auch die maßgeblichen Kriterien in den zu beurteilenden Bereichen der Mobilität, der kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten, der Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen, der Selbstversorgung, der Bewältigung und selbständige Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen sowie der Gestaltung des Alltagslebens heranzog und entsprechend den Vorgaben in § 15 Abs. 3 SGB XI gewichtete. Dass die Beeinträchtigungen des Antragstellers einen Gesamtpunktwert erreichen, der die Einordnung in Pflegegrad 2 rechtfertigt, ist mit den Ausführungen des Dr. Se. daher nicht glaubhaft gemacht. Entsprechendes gilt für das Vorbringen des Antragstellers, die Ablehnung seines Höherstufungsantrags sei schon deshalb rechtswidrig, weil der Beurteilung des MDK keinerlei ärztliche Befunde zu Grunde gelegen hätten und die Begutachtung statt durch Ärzte lediglich durch Pflegefachkräfte erfolgt sei. Denn auch die Richtigkeit der insoweit vertretenen Rechtsauffassung unterstellt, würde nicht die Annahme rechtfertigen, die Beeinträchtigungen des Antragstellers erreichten den für Pflegegrad 2 erforderlichen Gesamtpunktwert von zumindest 27.

Ungeachtet dessen hat der Antragsteller auch im Beschwerdeverfahren keinerlei Gründe vorgebracht, aus denen sich ergeben könnte, dass ihm ein Abwarten des Klageverfahrens unzumutbar ist. Soweit er geltend macht, wegen seiner Fallneigung bestehe die Gefahr eines Sturzes mit einer möglicherweise massiven Verschlechterung seines Gesundheitszustandes, genügt dies zur Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes nicht. Die Leistungen der häuslichen Pflege sind keine existenzsichernden Leistungen. Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 SGB XI ergänzen bei häuslicher und teilstationärer Pflege die Leistungen der Pflegeversicherung die familiäre, nachbarschaftliche oder sonstige ehrenamtliche Pflege und Betreuung. § 4 Abs. 2 SGB XI als Grundnorm verdeutlicht, dass die Leistungen der Pflegeversicherung (lediglich) eine soziale Grundsicherung in Form von unterstützenden Hilfeleistungen darstellen sollen, eine Vollversorgung des Pflegebedürftigen indessen nicht angestrebt wird. Im ambulanten Bereich obliegt es den Versicherten, einen durch die Leistungen der Pflegeversicherung nicht gedeckten Pflege- und Betreuungsaufwand selbst sicherzustellen (vgl. Bundestags-Drucksachen 12/5262 S. 90 und 16/7439, S. 44; siehe auch Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 5. Mai 2010 – B 12 R 6/09 R –, juris Rn. 19).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

4. Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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