L 8 AL 404/96

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 8 Al 1441/95
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 8 AL 404/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Aus Art. 69 Abs. 1 VO (EWG) Nr. 1408/71 ergibt sich die Berechtigung der Bundesanstalt für Arbeit, auf den Vorrang des nationalen Arbeitsmarktes und die Einhaltung der Vier-Wochen-Frist zu bestehen und lediglich in sachlich begründeten Einzelfällen eine Verkürzung zu genehmigen.
2. Meldet sich der Arbeitslose aus dem Leistungsbezug wegen der Aufnahme einer Arbeit in einem EG-Mitgliedstaat ab, besteht für die Arbeitsverwaltung keine Veranlassung, über die begrenzte Mitnahmemöglichkeit des Leistungsanspruchs aufzuklären.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 31. Juli 1996 aufgehoben und die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Ausstellung des Vordrucks E 303 streitig.

Der am 1949 geborene Kläger meldete sich am 30.08.1994 arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg). Er war zuletzt seit 15.10.1992 als Hilfs-Einrichter beschäftigt gewesen. Das Beschäftigungsverhältnis war zum 26.08.1994 einvernehmlich fristlos beendet worden. Anläßlich einer Vorsprache beim Arbeitsamt am 21.09.1994 - über seinen Alg-Antrag war noch nicht entschieden worden - teilte der Kläger mit, am 24.09.1994 nach Spanien umzuziehen, um dort am 01.10.1994 eine Arbeit aufzunehmen. Am 04.10.1994 beantragte er telefonisch von Spanien aus

eine Bescheinigung nach dem Vordruck E 301, dem entsprochen wurde.

Am 18.10.1994 beantragte der Kläger per Fax die Ausstellung des Vordrucks E 303, was mit Bescheid vom 24.10.1994 abgelehnt wurde, da die Wartefrist von 4 Wochen nicht eingehalten worden sei. Den Widerspruch vom 09.11.1994 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28.09.1995 zurück; bis zu seinem Umzug nach Spanien habe er weniger als 4 Wochen der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestanden. Die Wartezeit sei deshalb nicht erfüllt. Gründe für eine Verkürzung der Wartezeit hätten nicht vorgelegen. Wegen der Angabe des Klägers, am 01.10.1994 eine Arbeit in Spanien aufzunehmen, habe auch keine Veranlassung bestanden, den Kläger über die Voraussetzungen einer Bescheinigung E 303 aufzuklären.

Zuvor hatte die Beklagte mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 02.01.1995 den Antrag auf Alg vom 30.08.1994 abgelehnt und eine Sperrzeit für die Zeit von 12 Wochen (27.08.1994 bis 18.11.1994) festgestellt.

Gegen den am 13.10.1995 zugestellten Widerspruchsbescheid erhob der Kläger am 21.11.1995 Klage zum Sozialgericht Nürnberg; er habe unvorhergesehenerweise die geplante Arbeit ab 01.10.1994 nicht aufnehmen können, da er von einem Gaststättenpächter betrogen worden sei und seine gesamten Ersparnisse verloren habe.

Ihm sei nicht bekannt gewesen, daß es eine Bescheinigung E 303 überhaupt gebe, sonst hätte er diese vor seiner Abreise beantragt.

Mit Urteil vom 31.07.1996 verurteilte das Sozialgericht Nürnberg die Beklagte, "unter Abänderung des Bescheides vom 24.10.1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.09.1995 die Bescheinigung E 303 auszustellen, wobei wegen einer Sperrzeit bis 18.11.1994 die Ansprüche ruhen". Wegen der besonderen Umstände des Falles habe ausnahmsweise auf den vierwöchigen Vorrang der inländischen Wartezeit und auf eine Antragstellung in dem Land verzichtet werden können.

Gegen das am 25.10.1996 zugestellte Urteil legte die Beklagte am 19.11.1996 Berufung ein; die Voraussetzungen für die Ausstellung der Bescheinigung hätten nicht vorgelegen. Diese müsse grundsätzlich vor der Abreise beantragt werden. Die erforderliche Wartezeit diene dem Vorrang des nationalen Arbeitsmarktes. Eine Unzumutbarkeit der Rückreise könne nicht angenommen werden. Die Wartefrist solle die nationale Arbeitsverwaltung in die Lage versetzen, die Arbeitslosigkeit durch schnelle Vermittlung zunächst auf dem deutschen Arbeitsmarkt beenden zu können, bevor der Arbeitslose unter Mitnahme seines Leistungsanspruches versuche, in einem anderen Mitgliedstaat Arbeit zu finden. Demzufolge könnten finanzielle Erwägungen, die lediglich durch die eigenmächtige Handlungsweise des Klägers veranlaßt seien, keinen Einfluß auf den Vorrang des nationalen Arbeitsmarktes haben. Hinzu komme, daß sowohl im erlernten als auch im zuletzt ausgeübten Beruf für den Kläger Vermittlungsmöglichkeiten bestanden hätten, da der Arbeitskräftebedarf nicht abgedeckt gewesen sei. Auch habe sich der Kläger nicht zur Arbeitsuche nach Spanien begeben, sondern habe sich vielmehr selbständig machen wollen. Ein Beratungsfehler der Beklagten liege nicht vor. Beratungspflicht bestehe nur dann, wenn der Arbeitslose erkläre, im Ausland Leistungen weiter beziehen zu wollen. Nach seiner Abreise am 24.09.1994 habe sich der Kläger erst am 21.10.1994 bei der spanischen Arbeitsverwaltung gemeldet. Dies sei nicht rechtzeitig im Sinne der EG-Verordnung 1408/71 gewesen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 31.07.1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen.

Beigezogen waren die Verwaltungsakten der Beklagten und die erstinstanzliche Verfahrensakte. Wegen des Sachverhalts wird ergänzend auf die beigezogenen Akten und die Berufungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 151 Abs.1, 143 Sozialgerichtsgesetz - SGG -); insbesondere bedurfte sie nicht der Zulassung gemäß § 144 Abs.1 SGG; denn selbst wenn davon ausgegangen wird, daß das auf die Ausstellung des E 303 gerichtete Klagebegehren eine Geldleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt im Sinne des § 144 Abs.1 SGG betrifft, wäre die Berufung statthaft, weil der Zahlbetrag des Anspruchs auf Alg, der nach der EWG-VO 1408/71 für drei Monate bestehen würde, mehr als 1.000,- DM betragen würde (durchschnittliches monatliches Bruttoarbeitsentgelt im Bemessungszeitraum von ca. 3.000,- DM bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38,75 Stunden).

Das Rechtsmittel ist auch begründet.

Mit der Berufung wendet sich die Beklagte gegen die Entscheidung des Sozialgerichts Nürnberg vom 31.07.1996, mit der die Beklagte gemäß dem Klagebegehren zur Ausstellung der Bescheinigung E 303 verurteilt wurde. Gleichzeitig wurde in dieser Entscheidung jedoch eine inhaltliche Einschränkung für die sich daraus ableitenden Leistungsansprüche vorgenommen, ohne daß die Klage insoweit teilweise abgewiesen wurde. Diese teilweise Klageabweisung läßt sich jedoch aus den Urteilsgründen erschließen. Der Kläger hat seinerseits Berufung bzw. Anschlußberufung nicht eingelegt. Die dem entsprechenden Ruhenszeitraum zugrunde zu legende Sperrzeit ist zudem bestandskräftig festgestellt und sachlich nicht zu beanstanden.

Im Berufungsverfahren ist somit lediglich die Bescheinigung E 303 streitig, soweit damit Leistungen ab 19.11.1994 betroffen sind.

Grundlage für die Ausstellung der Bescheinigung E 303 ist Art.83 Abs.1 VO (EWG) 574/72. Um den Anspruch auf Leistung danach zu behalten, hat der in Art.69 Abs.1 der VO (EWG) 1408/71 genannte Arbeitslose dem Träger des Ortes, an den er sich begeben hat, eine Bescheinigung des zuständigen Trägers darüber vorzulegen, daß er unter den Bedingungen des Absatzes 1 b des genannten Artikels weiterhin Anspruch auf Leistungen hat. Ein voll arbeitsloser Arbeitnehmer, der die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates erfüllt und sich in einen Mitgliedstaat begibt, um dort eine Beschäftigung zu suchen, behält den Anspruch auf diese Leistungen unter folgenden Voraussetzungen und innerhalb der folgenden Grenzen:

a) Der Arbeitslose muß vor seiner Abreise während mindestens 4 Wochen nach Beginn der Arbeitslosigkeit bei der Arbeitsverwaltung des zuständigen Staates als Arbeitsuchender meldet gewesen sein und dieser zur Verfügung gestanden haben. Die zuständige Arbeitsverwaltung und der zuständige Träger kann jedoch seine Abreise vor Ablauf dieser Frist genehmigen;

b) der Arbeitslose muß sich bei der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaates, in den er sich begibt, als Arbeitsuchender melden und sich der dortigen Kontrolle unterwerfen. Für den Zeitraum vor der Anmeldung gilt diese Bedingung als erfüllt, wenn die Anmeldung innerhalb von sieben Tagen nach dem Zeitpunkt erfolgt, von dem ab der Arbeitslose derArbeitsverwaltung des Staates, den er verlassen hat, nicht mehr zur Verfügung stand.

Der Kläger hat nicht vor seiner Abreise den Antrag gestellt, und er hat nicht mindestens vier Wochen nach Beginn der Arbeitslosigkeit der Beklagten als Arbeitsuchender zur Verfügung gestanden. Der Kläger meldete sich am 30.08.1994 arbeitslos und beantragte Alg. Die Frist von mindestens vier Wochen endete demnach am 27.09.1994 (§ 26 Abs.1 SGB X iVm §§ 187 Abs.1, 188 Abs.1 BGB). Er zog jedoch bereits am 24.09.1994 nach Spanien um. Eine Abreise vor Ablauf des 27.09.1994 im Sinne des Art.69 Abs.1 a Satz 2 VO (EWG) Nr.1408/71 war von der Beklagten nicht genehmigt.

Die Vorschrift sieht zugunsten des arbeitslosen Arbeitnehmers, der in einem anderen Mitgliedstaat nach einer Beschäftigung sucht, vor, daß der nach den Rechtsvorschriften des Staates, in dem er zuletzt beschäftigt war, vorgesehene Anspruch auf Leistung bei Arbeitslosigkeit für einen begrenzten Zeitraum bestehen bleibt, obwohl er der Arbeitsverwaltung dieses Staates nicht zur Verfügung steht. Damit werden ihm Rechte verschafft, die ihm andernfalls nicht zustünden und die dazu beitragen, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Sinne des Art.51 EWG-Vertrag sicherzustellen (vgl. EuGH vom 08.04.1992, SozR 3-6050 Art.67 Nr.3). Dabei durfte der Anspruch auf Leistung bei Arbeitslosigkeit von Arbeitnehmern, die eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat als dem suchen, in dem sie unmittelbar zuvor gearbeitet oder Beiträge gezahlt haben, von Voraussetzungen abhängig gemacht werden, die zum Ziel haben, die Arbeitsuche im Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung zu fördern, diesen Staat die Leistungen bei Arbeitslosigkeit tragen zu lassen und schließlich sicherzustellen, daß diese Leistungen nur denjenigen gewährt werden, die tatsächlich eine Beschäftigung suchen (vgl. EuGH vom 08.04.1992, a.a.O.).

Daraus ergibt sich die Berechtigung, auf dem Vorrang des nationalen Arbeitsmarktes und die auf Einhaltung der Vier-WochenFrist zu bestehen und lediglich in sachlich begründeten Einzelfällen eine Verkürzung zu genehmigen. Insbesondere die für den Kläger in Betracht kommenden Vermittlungsmöglichkeiten im erlernten Beruf als Kellner wie in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Kunststoffhilfsarbeiter lassen für eine zwingende Verkürzung keinen Raum. Zudem bestand auch keine Veranlassung für eine Verkürzung der Vier-Wochen-Frist, da der Kläger nicht zur Arbeitsuche nach Spanien zog, sondern ausdrücklich zur Aufnahme einer Arbeit. Hierfür war eine Bescheinigung durch die Beklagte aber nicht erforderlich und damit auch keine Veranlassung für die Genehmigung einer Verkürzung der Wartefrist. Denn die Bescheinigung nach Vordruck E 303 dient gemäß Art.83 Abs.1 Satz 1 VO (EWG) 574/72 den in Art.69 Abs.1 VO (EWG) 1408/71 genannten Arbeitslosen dazu, sie dem Träger des anderen Mitgliedstaates, in den sie sich begeben haben, vorzulegen, um den Anspruch auf die sich aus der Bescheinigung ergebenden Leistungen zu behalten, und es dem Träger zu ermöglichen, die nach Art.69 Abs.1 VO (EWG) 1408/71 in Anspruch genommene Leistung möglichst schnell und in vereinfachter Form zu berechnen und auszuzahlen. Daß sich im weiteren Verlauf für den Kläger die Notwendigkeit einer Arbeitsuche in Spanien ergab, ist eine Konstellation, die von Art.83 VO (EWG) 574/92 i.V.m. Art.69 Abs.1 VO (EWG) 1408/71 nicht mitumfaßt wird.

Der Kläger kann auch nicht aufgrund des sogenannten sozialrechtlichen Herstellungsanspruches sein Klageziel erreichen, weil ein Verstoß der Beklagten gegen eine Beratungspflicht nicht vorliegt. Da der Kläger sich aus dem Leistungsbezug wegen der Aufnahme einer Arbeit in Spanien abmeldete, bestand für die Beklagte keine Veranlassung, über die Bedingungen und Grenzen der Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs bei einer Arbeitssuche in einem Mitgliedstaat der EWG aufzuklären. Denn die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs dient nach dem eindeutigen Wortlaut des Art.69 Abs.1 VO (EWG) 1408/71 der Beschäftigungssuche im anderen Mitgliedstaat und erweitert diese entsprechend unter begrenzter Mitnahme des Leistungsanspruchs.

Dementsprechend war das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Entscheidung konnte gemäß § 124 Abs.2 SGG ohne mündliche Verhandlung ergehe, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG; unter Berücksichtigung des Verfahrensausgangs bestand keine Veranlassung, die Beklagte zur Erstattung von Kosten zu verpflichten.

Die Revision wurde zugelassen, weil nach Ansicht des erkennenden Senats der Frage grundsätzliche Bedeutung zukommt, unter welchen Voraussetzungen die Beklagte zur Ausstellung einer Bescheinigung E 303 verpflichtet ist.
Rechtskraft
Aus
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